UN-Umweltgipfel: „In Montreal steht sehr viel auf dem Spiel – für die Natur und für uns Menschen“
Größte Aussterbewelle seit Bestehen der Menschheit: Chefin der UN-Konvention für Biodiversität fordert im RiffReporter-Interview verbindliche globale Ziele für den Naturschutz und weitreichende Änderungen an der Wirtschaftsweise
Von 7. bis 19. Dezember tagt der Weltnaturgipfel der Vereinten Nationen in Montreal. Fast 200 Staaten wollen in zwei Wochen ein globales Abkommen zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung der Natur auf den Weg bringen. Elizabeth Mrema ist Generalsekretärin der UN-Konvention für biologische Vielfalt.
Frau Mrema, was ist Ihre Botschaft an die versammelte Staatengemeinschaft?
In Montreal steht sehr viel auf dem Spiel – für die Natur und für uns Menschen. Der Verlust der Biodiversität, den wir erleben, ist beispiellos in der Geschichte der Menschheit. Wir verlieren das Leben auf unserem Planeten in einem erschütternden Ausmaß und einem atemberaubenden Tempo. Egal, wo man hinsieht: Pflanzen, Vögel, Insekten, Amphibien, ganze Ökosysteme – nirgends sehen wir eine positive Entwicklung. Meine Botschaft lautet deshalb: Handeln wir! Das Weltnaturabkommen ist entscheidend, um eine gute Zukunft für die Menschheit auf dem Planeten Erde zu sichern.
Krieg in der Ukraine, Energieknappheit, Inflation – vielen Menschen sind gerade aktuelle Krisen näher als Artensterben und Naturzerstörung. Wird Biodiversität weiter an den Rand gedrängt?
Wir müssen verstehen, das dass Ausmaß des Naturverlustes auch für alle von uns dramatische Folgen hat. Biodiversität ist das Fundament für unser Leben – für mich und für Sie, für jeden. Das Wasser, das wir trinken, die Nahrungsmittel, die wir essen, die Luft, die wir atmen, die Kohlenstoffspeicherung, die wir gegen den Klimawandel brauchen. Ohne all das haben wir kein Leben. Mit der Zerstörung der Natur begehen wir letztlich Selbstmord, töten unsere eigenen Kinder und Enkel und den Planeten gleich mit.
Nehmen die Menschen in den reichen Ländern die Folgen der Naturzerstörung zu wenig ernst?
Auch in den reichen Ländern wird es immer wärmer, gibt es immer mehr Dürren, Brände und Überschwemmungen. Der Verlust der Biodiversität, der Klimawandel und die Verwüstung der Böden mit Hunger als Folge: Wir stecken inmitten mehrfacher planetarer Krisen, die wir nur gemeinsam lösen können. Das ist es, was die Weltgemeinschaft verstehen muss.
Warum ist im Vergleich zur Klimakrise die Aufmerksamkeit für die Biodiversitätskrise aber eher gering?
Klimawandel und der Verlust der Biodiversität sind zwei Seiten derselben Medaille. Wenn der Schutz der Natur nicht Teil der Lösung ist, werden wir auch im Klimaschutz nicht vorankommen. Ohne die Natur kann die Erderwärmung nicht gestoppt werden. Und das gleiche gilt andersherum. Die Klimakrise ist eine riesige Gefahr für die Natur, einer der wichtigsten Antreiber des Artensterbens und der Zerstörung von Ökosystemen. Deshalb können wir den Biodiversitätsverlust nicht aufhalten ohne radikal gegen den Klimwandel anzugehen.
Beneiden Sie eigentlich Ihre Kollegen und Kolleginnen der Klimarahmenkonvention für die viele Aufmerksamkeit, die sie für ihr Anliegen erhalten?
In der Vergangenheit vielleicht. Aber heute nicht mehr. Denn, egal mit wem man spricht, die Verbindung zwischen beiden Themen wird längst gemacht. Sehr viele Menschen und auch Teile der Wirtschaft haben es längst begriffen.
Wen meinen Sie?
Das Weltwirtschaftsforum sieht den Verlust der biologischen Vielfalt und den Zusammenbruch von Ökosystemen gemeinsam mit dem Klimawandel als die größten Bedrohungen für die Menschheit. Es sagt uns auch, dass 50 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung von der Natur abhängig sind. Abermillionen von Arbeitsplätzen hängen an der Natur. Stellen sie sich vor, was es bedeutet, wenn wir den Verlust der Biodiversität weiterlaufen lassen wie bisher. Wir verlieren weltweit die Hälfte unserer Wirtschaftskraft!
Wäre es nicht sinnvoll, die UN-Vertragsstaatengipfel – die COPs – zum Klimawandel, zur Wüstenbildung und zum Biodiversitätsverlust zusammenzulegen, um die Probleme besser gemeinsam angehen zu können?
Das wäre sehr logisch, da haben sie recht. Als diese drei UN-Konventionen vor 30 Jahren in Rio auf den Weg gebracht wurden, haben wir die Zusammenhänge zwischen den Krisen noch nicht so gut verstanden wie heute. Deshalb wurden drei Konventionen aufgesetzt und die Probleme werden seitdem separat verhandelt. Aber die Wissenschaft hat uns seither immer mehr Belege gebracht, wie eng sie miteinander verflochten sind. Heute erkennen wir an, was wir vor 30 Jahren noch nicht wahrhaben wollten – und wir spüren es am eigenen Leib, wie in diesem Jahr mit seinen Hitzewellen, Bränden, Dürren und Überschwemmungen.
Wann wird es also gemeinsame „Erdgipfelkonferenzen“ geben?
Ich glaube, dass in nicht all zu ferner Zukunft die Regierungen lieber einen Gipfel statt dreier haben werden, um die Probleme zu lösen. Wir können das aber auch jetzt schon voranbringen, ohne die Rio-Konventionen anzutasten und die COPs unter einem Dach zu vereinen. Das tun wir auch, wie die Rolle der Biodiversität beim Klimagipfel und die des Klimawandels bei unserer COP zeigen. Im Entwurf für das Naturabkommen findet sich das Ziel, Klimawandel und Biodiversitätsverlust gemeinsam mit naturbasierten Lösungen zu bekämpfen. Das brauchen wir für die Natur und auch, um das Pariser Abkommen einzuhalten.
Das neue Weltnaturabkommen soll am 19. Dezember stehen. Was muss darin festgeschrieben werden?
Das Abkommen wird unsere Antwort auf die Frage sein, ob und wie wir in eine nachhaltigere Zukunft gehen wollen und ob wir unser großes Ziel erreichen, bis zur Jahrhundertmitte in Einklang mit der Natur zu leben und zu wirtschaften. Dazu sind alle Ziele aus dem vorliegenden Entwurf wichtig. Aber das auf dem Papier schönste Abkommen ist wertlos, wenn es nicht verwirklicht wird. Deshalb wird genauso entscheidend sein, dass wir uns auf Regeln zur Umsetzung einigen und die ärmeren Länder dabei unterstützen, auch finanziell.
Deutschland und die Europäische Union haben angekündigt, ihre Finanzhilfen für den Naturschutz in Entwicklungsländern zu verdoppeln. Reicht das aus?
Wir sind der deutschen Regierung und der EU sehr dankbar für diese Geste. Die Ankündigung ist gut und wichtig, die Verhandlungen voranzubringen, aber das ist eindeutig nicht genug. Wir dringen darauf, dass auch andere Regierungen sich auf zusätzliche Unterstützung verpflichten. Das wird entscheidend sein, damit das Abkommen auch vor Ort in den armen Ländern umgesetzt werden kann.
Das prominenteste Ziel lautet, künftig je 30 Prozent der Erde und der Meere unter wirksamen Schutz zu stellen. Wird dieses Schlüsselziel in Montreal verabschiedet?
Das 30-Prozent-Ziel bekommt sehr viel Unterstützung, und wenn mehr als 100 von 196 Staaten dafür werben, hat es gute Chancen. Aber allein die Prozentzahl festzuschreiben reicht nicht aus. Ein gutes Management dieser Gebiete ist genauso wichtig wie die Vergrößerung der geschützten Fläche selbst. Und es muss Vereinbarungen geben um sicherzustellen, dass die Rechte der indigenen Gruppen und der lokalen Bevölkerungen gewahrt werden. Sie sind die Wächter und Beschützer der Natur, ihre Rechte, ihre Kultur und ihr traditionelles Wissen müssen geschützt und garantiert werden.
Welche weiteren Ziele sind entscheidend für eine Wende in der globalen Öko-Krise?
Wir werden echten Wandel nur erleben, wenn der Naturverlust auf allen Ebenen der Gesellschaften thematisiert wird. Sehr wichtig ist deshalb auch, die Rolle der Wirtschaft in den Blick zu nehmen. 2019 haben die großen Investmentbanken 2, 6 Billionen Dollar Kredite für Aktivitäten vergeben, die die Umweltzerstörung vorantreiben – fast soviel wie die gesamte Wirtschaftskraft Frankreichs. Wir müssen das in naturpositive Bahnen umlenken. Deshalb ist es wichtig, dass Unternehmen ihre eigenen Beiträge zur Naturzerstörung ermitteln und offenlegen.
Schon 2010 hat die Staatengemeinschaft mit den Aichi-Zielen versucht, das Artensterben und die Zerstörung der Natur bis 2020 zu stoppen. Sie wurden allesamt verfehlt. Warum sollte es diesmal klappen?
Entscheidend ist, dass ein Abkommen begleitet wird von klaren Vereinbarungen zu seiner Umsetzung. Das fehlte in Aichi und die Welt hat daraus Lehren gezogen. Die Zutaten, die damals fehlten, um das Abkommen zu einem Erfolg zu machen, haben wir diesmal.
Welche zum Beispiel?
Das Abkommen soll gemeinsam mit einem ganzen Paket von Instrumenten verabschiedet werden, die sicherstellen, dass alte Fehler nicht wiederholt werden: Berichtspflichten, Verantwortlichkeiten, Monitoringmechanismen über erreichte Fortschritte, Technologietransfer für Entwicklungsländer – all das gehört dazu und soll mit numerischen Zielen unterlegt werden.
Ist das Montreal-Abkommen unsere letzte Chance, das Artensterben zu stoppen?
Die Wissenschaft sagt uns, dass wir in der größten Aussterbewelle seit Bestehen der Menschheit stecken, und dass unsere Art, mit der Erde umzugehen, die Ursache für dieses Desaster ist. Ja, es ist möglicherweise unsere letzte Chance. Aber zum Glück haben wir noch die Zeit, um die drastischen und grundlegend transformativen Veränderungen zu vollziehen, die jetzt nötig sind.
Im Projekt„Countdown Natur“berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchenmit einem Abonnementunterstützen.