Die Erde am Limit
Die Erde leidet unter der Last der menschlichen Übernutzung. Sechs von neun planetaren Grenzen sind einer Studie zufolge überschritten. Die Fokussierung auf Klimaschutz reicht nicht aus, um der Menschheit ein sicheres Überleben zu garantieren.
Am Donnerstag blinkte und brummte es auf Handys in ganz Deutschland, auf Marktplätzen und Schuldächern heulten allerorten die Sirenen: Mit einem bundesweiten Alarmtag wurde die Warnung vor dem Katastrophenfall geübt. Das Timing war, wenn auch zufällig, passend gewählt. Denn zeitgleich veröffentlichten führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Fachjournal Science Advances ihren neuen Report zur Überlastung des Ökosystems Erde. Auch er lässt die Alarmglocken schrillen – oder sollte es wenigstens. Denn mittlerweile sind danach sechs der neun „planetaren Grenzen“ überschritten, innerhalb derer den Forscherinnen und Forschern zufolge ein sicherer Handlungsspielraum für die Menschheit besteht. Sechs von neun vitalen Erdfunktionen schlagen Alarm: dem Ökosystem Erde geht die Puste aus. Nur eine Politikwende kann diesen Zustand ändern.
Seit über drei Milliarden Jahren gibt es Leben auf der Erde. Das Wechselspiel aus physikalischen und biochemischen Prozessen hat Umweltbedingungen auf dem Planeten geschaffen, die Leben und Überleben ermöglichen – mal mehr, mal weniger. Seit dem Ende der letzten Eiszeit vor mehr als 10.000 Jahren sind die Bedingungen des Erdsystems einigermaßen stabil geblieben und haben die Entwicklung einer Zivilisation ermöglicht.
Nur beim Schließen des Ozonlochs gibt es Fortschritte
Das ändert sich gerade rapide, wie die am Donnerstag vorgelegte dritte Aktualisierung der Bewertung der „planetaren Grenzen“ durch ein internationales Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern belegt. Danach werden jetzt sechs der neun Grenzen überschritten, die eine Art ökologische Nische für das gesicherte Überleben der Menschheit bilden.
Besonders alarmierend: Das Ausmaß der Überschreitung nimmt trotz weltweiter Debatte beispielsweise über den Klimaschutz bei fast allen Grenzen zu. Einzig der Abbau der Ozonschicht in der mittleren Erdatmosphäre entwickelt sich positiv und ist deutlich in die Grenzen dessen zurückgekehrt, was die Forscherinnen und Forscher als „sicheren Handlungsspielraum der Menschheit“ innerhalb des Ökosystems Erde bezeichnen.
Daneben liegen die Verschmutzung der Atmosphäre mit Partikeln (trotz gelegentlicher Überschreitungen in einigen Weltregionen) und die Versauerung der Weltmeere (noch hauchdünn) innerhalb dessen, was die Erde nach Einschätzung der Wissenschaft an menschengemachten Belastungen verkraften kann.
Artenvielfalt, Trinkwasser, Treibhausgase: Grenzen des Belastbaren überschritten
Die Grenzen des Erträglichen sind dagegen beim dem Klimawandel zugrundeliegenden Treibhausgasausstoß, dem Verlust der Artenvielfalt und Ökosysteme (Biosphärenintegrität), beim Landverbrauch für menschliche Zwecke, dem Zustand des Süßwassers als wichtigstem Trinkwasserlieferanten und biogeochemischer Kreisläufe (wie Eintrag von Phosphor und Stickstoff) jeweils deutlich überschritten. Erstmals sicher überschritten wurde danach auch die Grenze für die Verschmutzung mit Chemikalien, die von Menschen geschaffen wurden.
Die Erde leidet an Bluthochdruck
Studienleiterin Katherine Richardson, die an der Universität Kopenhagen das Zentrum für Nachhaltigkeitsstudien leitet, kleidet das Ergebnis der Untersuchung, an der fast 30 Forscherinnen und Forscher aus acht Ländern mitgearbeitet haben, in ein Bild. Das Überschreiten planetarer Grenzen bedeute zwar nicht zwingend, dass es zu einem globalen Kollaps kommen müsse, erklärt sie. Sie seien aber ein deutliches Warnsignal. „Ein Blutdruck von über 120/80 ist keine Garantie für einen Herzinfarkt, aber er erhöht das Risiko eines solchen.“ Deshalb müsse alles daran gesetzt werden, ihn zu senken. „Um unserer selbst – und um unserer Kinder willen – müssen wir den Druck auf diese sechs planetarischen Grenzen verringern“, sagt die Forscherin.
Klimaschutz alleine reicht nicht aus
Viele der Grenzen hängen eng miteinander zusammen. Landverbrauch, Pestizide und Stickstoffeintrag sind die Folge einer fehlgeleiteten Landwirtschaft und haben Folgen gleichermaßen für Artenvielfalt, Trinkwasserversorgung und Klimawandel. Deshalb lautet eine der zentralen Schlussfolgerung der Studie, dass sich Politik und Forschung stärker auf die Wechselwirkungen zwischen den Grenzen konzentrieren müssen. „Es reicht nicht aus, sich auf den vom Menschen verursachten Klimawandel zu konzentrieren, wenn wir das Erdsystem vor irreversiblen Schäden schützen wollen“, fasst das Johan Rockström zusammen, der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), der das Konzept der globalen Grenzen entworfen hat.
Funktionierende Ökosysteme entscheidend für das Überleben
Neben dem Klimawandel sei die Integrität der Biosphäre – also der Erhalt der Artenvielfalt und das Funktionieren der Ökosysteme – die zweite Säule der Stabilität des Planeten. „Unsere Forschung zeigt, dass die Eindämmung der globalen Erwärmung und die Erhaltung einer funktionierenden Biosphäre für die Zukunft Hand in Hand gehen müssen“, betont auch Mitautor Wolfgang Lucht, der die Abteilung Erdsystemanalyse am PIK leitet.
Die Forscher stützen damit auch die schon im letzten Sachstandsberichts des Weltklimarates IPCC und im Weltanturabkommen festgehaltene Erkenntnis, dass Klimaschutz und der Erhalt der Biodiversität nur gemeinsam gelingen können. „Klima und Biodiversität sind beide gleich entscheidend für das Überleben der Menschheit“, sagt auch einer der Hauptautoren, der Klimaforscher Hans-Otto Pörtner.
Die Hoffnung trägt einen Städtenamen
Die Analyse der Erdsystemforscherinnen und -forscher zeigt, dass die Menschheit auf dem Weg ist, den Planeten insgesamt in einem Maße zu destabilisieren, in dem ein Überleben schwierig und ein gerechtes, würdiges Leben für Milliarden Menschen nahezu ausgeschlossen ist.
Ihre Ergebnisse attestieren den bisherigen Bemühungen der Staatengemeinschaft das Scheitern beim Versuch, den unterschiedlichen Krisen einzeln beizukommen: Klimakrise, Naturkrise, Verschmutzungskrise und Hungerkrise: Sie alle werden derzeit noch zu sehr isoliert voneinander betrachtet.
„Wir müssen weg von der Klimapolitik hin zu einer Erdsystempolitik finden“, sagte auch Ko-Studienautor Lucht der Süddeutschen Zeitung. Ansätze einer solchen Verknüpfung im Kampf gegen die Ökokrisen unserer Zeit existieren bereits. Mit dem Konzept der naturbasierten Lösungen werden beispielsweise alte Wälder geschützt und Moore wiedervernässt – und damit gleichzeitig Speicher für Treibhausgase und Hotspots der Biodiversität geschaffen.
Bei aller Dramatik hält der Bericht der Erdsystemforscher auch eine hoffnungsvolle Botschaft bereit, dass es gelingen kann, schon überschrittene planetare Grenzen wieder zu erreichen. Dieser Hoffnungsschimmer ist mit dem Namen einer Stadt verbunden. Vor mehr als 30 Jahren wurde im kanadischen Montreal das gleichnamige Protokoll zum Schutz der Ozonschicht verabschiedet. Damit verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, wirksam gegen die Zerstörung der Ozonschicht vorzugehen.
Heute ist die planetare Grenze in diesem Bereich als einzige wieder im grünen Bereich. In derselben Stadt wurde im vergangenen Dezember das Weltnaturabkommen verabschiedet, in dem sich 196 Staaten der Erde darauf verpflichten, die Übernutzung der Ökosysteme zu stoppen und die Natur bis zum Jahr 2030 wieder auf einen Pfad der Erholung zu bringen. Gelingt es, dieses „Paris-Abkommen für die Natur“ mit Leben zu erfüllen, dürfte der nächste Bericht zur Lage der planetaren Grenzen besser aussehen.