„Nur gesunde Ökosysteme können das Klima schützen“
Der Klimaforscher Hans-Otto Pörtner im Vorfeld von Klima- und Naturgipfel darüber, warum die Kämpfe gegen die Erderwärmung und für den Erhalt der Artenvielfalt Hand in Hand gehen müssen, um gegen beide Umweltkrisen erfolgreich zu sein.
Im Abstand von wenigen Wochen fallen in diesem Jahr zwei wichtige Entscheidungen zur Zukunft des Planeten: Beim Weltklimagipfel im ägyptischen Scharm El-Scheich will die Staatengemeinschaft über die Umsetzung des beschlossenen Ausstiegs aus den fossilen Energien in Zeiten des Krieges beraten. Im kanadischen Montreal wollen Regierungsvertreter aus mehr als 190 Staaten der Erde kurz darauf beim Weltbiodiversitätsgipfel ein globales Abkommen zum Schutz der Natur schließen. Wir sprachen mit dem Biologen und führenden Klimaforscher Hans-Otto Pörtner über seine Erwartungen an beide Gipfel.
Der Weltnaturgipfel im Dezember in Montreal ist eine entscheidende Etappe auf dem Weg, das Artensterben und die Zerstörung der Natur auf der Erde zu stoppen. Unmittelbar davor berät der Klimagipfel in Ägypten darüber, wie weit wir beim beschlossenen Ausstieg aus den fossilen Energien sind. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Hans-Otto Pörtner: Klima und Biodiversität sind beide gleich entscheidend für das Überleben der Menschheit und gegenseitig voneinander abhängig. Diese Wechselbeziehung anzuerkennen, fällt vielen noch schwer, ist aber eine ganz wichtige Voraussetzung, um gegen beide Krisen erfolgreich zu sein.
Inwiefern?
Wenn wir akzeptieren, dass wir starke Ökosysteme auch für den Klimaschutz brauchen, dann müssen wir diesen auch den Raum geben, damit sie ihre Artenvielfalt entfalten können. Nur dann können sie auch die Leistungen erbringen, von denen auch wir Menschen abhängig sind – beispielsweise Kohlenstoff zu speichern oder abzubauen. Wir sind als Menschen eng vernetzt mit dem Zustand der Ökosysteme, auch wenn viele das nicht wahrhaben möchten.
Was bedeutet das für die Minderungsziele im Klimaschutz?
Wir müssen den Klimawandel so weit begrenzen, dass die Ökosysteme nicht zusammenbrechen, sondern sich anpassen können. Die Erkenntnis ist zentral und beileibe nicht neu. Sie ist genau so schon in Artikel 2 der Klimarahmenkonvention festgehalten worden. Trotzdem wird dieser Punkt von vielen nicht als vorrangig angesehen. Das ist ein Grundproblem der ganzen Debatte. Wir vernichten Naturräume, weil wir meinen, wir dürften und müssten sie nutzen. Wir betrachten die Bedeutung der Natur in den globalen Zusammenhängen nicht ausreichend. Dabei ist es essentiell, dass die Ökosysteme mit dem Klimawandel Schritt halten können. Dazu müssen sie intakt sein und sie müssen ausreichend Platz haben …
… an welche Größenordnung denken Sie da?
Wir sollten der Natur auf 30 bis 50 Prozent der Fläche dieses Planeten – terrestrisch und in den Ozeanen – freien Raum lassen und sie dort vor dem Einfluss des Menschen schützen.
Sie sprechen damit eines der Schlüsselziele bei den Verhandlungen für das neue Weltnaturschutzabkommen an: Jeweils 30 Prozent der Land- und Meeresfläche unter Schutz zu stellen, wäre das schon die Untergrenze?
Ja, und es ist ja auch ein sehr grobes Maß, ein globaler Durchschnitt. Eigentlich müssten die Schutzgebietsgrößen spezifisch für jedes Ökosystem definiert werden. Wenn wir beispielsweise vom Amazonasbecken nur 30 Prozent schützen, werden wir den Amazonas-Regenwald, wie wir ihn kennen, verlieren. Er wäre nicht mehr wie jetzt in der Lage, sein Klima selbst zu regulieren und würde sich in einen Trockenwald umwandeln. Zur Klimaregulierung braucht er 60 bis 80 Prozent seiner Fläche. Deshalb ist es wichtig, sich alle Ökosysteme genau anzusehen. Mir ist im Zusammenhang mit dem Schutzgebiets-Ziel aber noch ein weiterer Aspekt wichtig …
Nur zu …
Wenn wir es schaffen, ausreichend große Schutzgebiete zu schaffen, betreiben wir auch einen sehr effektive Pandemie-Schutz. Denn wenn wir verhindern, dass die letzten Naturräume durchdrungen werden von menschlichen Aktivitäten, dann schützen wir auch uns und künftige Generationen vor Pandemien. Intakte Ökosysteme mit hoher Biodiversität scheinen dafür zu sorgen, dass Arten, die Krankheiten auf Menschen übertragen, nicht so dominant werden. Anders ausgedrückt: Wenn ein Ökosystem verarmt ist, bleiben auch die Arten übrig, die Krankheitserreger tragen. Das ist seltsam, aber es scheint so zu sein.
Sind Sie zuversichtlich, dass das 30-Prozent-Schutzgebietsziel auch kommen wird?
Ich denke, das wird am Ende rauskommen. Aber die konkrete und wirksame Umsetzung wird behindert werden durch kurzsichtige ökonomische Interessen. Genauso wichtig wie ein Schutzgebietsziel ist deshalb, dass die politisch Verantwortlichen danach auch Kurs halten und den Einfluss von Lobbyismus zurückdrängen.
Sie und Ihre IPCC-Kollegenwarnen vor gravierenden Schäden für die Ökosysteme, selbst wenn die Erwärmung unter 2 Grad Celsius gehalten werden kann. Ist die 2-Grad-Marke zu hoch angesetzt?
Unsere früheren Risikobewertung waren eher konservativ. Nach neueren Bewertungen zeigt sich an vielen Stellen, dass selbst eine Erwärmung um 1, 5 Grad schon so etwas wie – flapsig gesagt – Oberkante Unterlippe bedeutet.
Das heißt? Die ambitionierte Schwelle im Pariser Abkommen, die Erwärmung auf 1, 5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, muss jetzt quasi automatisch in den Vordergrund rutschen. Das Paris-Ziel war richtig gesetzt, aber erst dadurch, dass dieser ambitionierte Nachsatz 'möglichst 1, 5 Grad' hinzugefügt wurde.
Nur, wenn es uns gelingt, die 1, 5-Grad-Marke zu halten und die weitere Zerstörung von Ökosystemen möglichst zu stoppen, kann die Natur uns im Kampf gegen die Erderwärmung wirklich helfen?
Pörtner: Ja, in den letzten Jahren haben wir argumentiert, dass wir die Kapazitäten von Naturräumen zur Minderung der CO2-Emissionen stärker nutzen wollen. Das ist auch in der Politik angekommen. Aber man hat sich dort wiederum keine Gedanken darüber gemacht, dass wir das nur mit gesunden Ökosystemen erreichen können. Und darüber, dass die Fähigkeit der Ökosysteme, uns zu helfen, vom Ausmaß des Klimawandels abhängt.
Was können Ökosysteme in ihrem jetzigen Zustand für den Klimaschutz leisten und nicht?
Wir führen in Teilen eine Scheindebatte. Beim CO2 in der Atmosphäre hat uns die Natur immer einen großen Teil abgenommen. Die Ozeane haben ein Drittel des CO2 aufgenommen, das machen die Böden, die tropischen Regenwälder usw. Daraus folgt ganz klar: Wir brauchen eine Ausweitung der Naturräume, eine Stärkung der Natur in dem Sinne, dass sie genug Raum hat, sich und ihre Funktionen zu entfalten. Damit das gelingen kann, brauchen wir aber schon ein stabilisiertes Klima – am besten unter 1, 5 Grad. Dann wird uns die Natur auf längeren Zeitskalen helfen, das Klima weiter zu stabilisieren, indem sie, wie sie das in der Erdgeschichte schon so oft getan hat, das CO2 wegspeichert.
Es gibt Berechnungen, nach denen über naturbasierte Lösungen sogar mehr als ein Drittel der Einsparziele für Treibhausgase bis 2030 erreicht werden könnten. Halten Sie das angesichts des schlechten Zustands vieler Ökosysteme für realistisch?
Ich halte das nicht für realistisch, denn letztlich fehlen die Voraussetzungen dafür. Wir müssen unseren Treibhausgas-Ausstoß zuerst auf Netto null bringen. Und dann können wir froh sein, wenn wir die Ökosysteme noch in einem Zustand haben, wo sie uns letztendlich negative Emissionen bescheren und Klimastabilisierung betreiben, indem sie den Ausstoß auffangen, den wir nicht vermeiden können. Das muss der Ansatz sein und die Reihenfolge.
Sie befürchten, dass naturbasierte Lösungen politisch als Ausrede dafür genommen zu werden, nichts oder zu wenig bei den Einsparungen zu tun?
Zu sagen, die Natur könne 30 bis 40 Prozent wegpacken, heißt doch automatisch, dass wir in diesem Ausmaß die aktuellen Emissionen aufrecht erhalten könnten und trotzdem unsere Klimaziele erreichen. Das halte ich für illusorisch. Wenn wir von vornherein darauf setzen, dass die Natur uns hier aus der Klemme hilft und wir die Emissionen weiter hochhalten, geht der Schuss nach hinten los.
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hat gerade angekündigt, die deutschen Mittel für den internationalen Naturschutz auf 1, 5 Milliarden im Jahr anzuheben und diese Mittel aus dem auf sechs Milliarden Euro aufgestockten Topf für Klimaschutz zu nehmen. Ein vernünftiger Schritt, oder wird hier eine Krise mit einer anderen verrechnet?
Wir dürfen den Biodiversitätsschutz und die Fähigkeit der Natur, CO2 zu speichern, nicht als Entschuldigung nehmen, weiter Treibhausgase auszustoßen. Wir müssen die Emissionen aus Landwirtschaft, Ernährung, Verkehr, Industrie auf Null bringen, um letztendlich die Klimaerwärmung zu stoppen. Das Heilende kann aus der Natur kommen, aber erst in längere Zeiträumen. Die erste Verantwortung liegt beim Menschen, und sie liegt darin, umzukehren. Wir müssen hier dringend alle faulen Kompromisse und Verzögerungen vermeiden.
Wird derzeit ausreichend viel unternommen, um die Pariser Klimaziele zu erreichen?
Nein, momentan erleben wir eher, dass mit dem Klimasystem russisches Roulette gespielt wird, nach dem Motto: Wir wollen alles tun, um unseren Wohlstand nicht einzuschränken, um Arbeitsplätze auch in unseren konventionellen Industrien zu bewahren und so weiter. Wir gehen einfach nicht mutig genug in die Transformation, die wir brauchen, um uns aus diesem Dilemma zu befreien.
Gerade geht die Entwicklung sogar in die gegensätzliche Richtung. In der durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine entstandenen Energiekrise greifen viele Länder – Deutschland auch – wieder stärker auf auf fossile Energien zurück. Halten Sie das für vertretbar?
Das darf nur über sehr kurze Zeit geschehen, damit der konsequente Weg in Richtung Erneuerbare nicht kompromittiert wird. Aber diese Gefahr besteht. Bei den langfristigen Zielen darf man aber keine Kompromisse machen. Auf der anderen Seite: so schrecklich die aktuelle Krise ist, so sehr ist sie auch eine Chance, die Transformation zu Erneuerbaren Energien zu beschleunigen.
So ausführlich wie noch nie beschäftigt der neueIPCC-Sachstandsberichtmit der Wechselwirkung von Klimawandel und Artensterben und hebt das Thema Naturschutz auf Augenhöhe zu eher technischen Ansätzen im Klimaschutz. Ist die Botschaft, dass wir die Natur unbedingt brauchen, im Weltklimarat angekommen?
Jein. Das ist auch eine Frage der Disziplinen, und im IPCC kommen viele Disziplinen zusammen. Auch generell sind die meisten Wissenschaften sehr auf den Menschen fokussiert: Wirtschaftswissenschaftler, Juristen, Sozialwissenschaftler – oft bestimmt intuitiv noch der Gedanke alles, dass wir uns die Erde untertan machen. Naturschutz ja, aber in erster Linie geht es um den Menschen. Aber wir haben doch über die letzten Jahrzehnte gelernt, dass wir damit nicht zum Ziel kommen.
Was schlagen Sie vor?
Wir müssen bereit sein, die Rechte der Natur stärker anzuerkennen. Es geht auch um ein Eigenrecht der Natur. In manchen Ländern, vor allem Entwicklungsländern, hat dieses Recht der Natur schon Verfassungsrang.
Diese Sicht markiert auch eine Abkehr von einer rein auf den Nutzen für den Menschen bezogenen Definition des Wertes von Natur. Ist der ethisch begründete Ansatz des Biodiversitätsschutzes auf dem Vormarsch?
Ich hoffe sehr. Auch andere Lebensformen haben Ansprüche an die Umwelt, die respektiert werden müssen. Wenn wir das akzeptieren, dann müssen wir letztendlich diesen Anspruch auch als ein Anrecht anerkennen.
Im Projekt„Countdown Natur“berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchenmit einem Abonnementunterstützen.