Gerechtigkeit für Gletscher

Schweizer Politikerinnen und Politiker wollen das Recht umkrempeln

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter: Markus Hofmann
6 Minuten
Blick auf den Aletschgletscher in der Schweiz von der Walliser Seite aus.

Gletscher sind das Symbol des Klimawandels in der Schweiz. Mit gutem Grund: Das Volumen der Gletscher hat seit 1850 um die Hälfte abgenommen. Derzeit gibt es in der Schweiz noch 1463 Gletscher. Doch geht es mit der Klimaerwärmung so weiter wie bisher, werden von ihnen bis Ende dieses Jahrhunderts grösstenteils nur noch Bergseen übrigbleiben: Bis auf 20 bis 30 Prozent des heutigen Volumens könnten sie zusammengeschmolzen sein.

Der Politik ist die Symbolik der Gletscher nicht entgangen. Ein Volksbegehren, das die Ziele des Pariser Klimaabkommens in der Schweizer Bundesverfassung verankern und ab 2050 fossile Brenn- und Treibstoffe verbieten will, trägt den sinnigen Namen „Gletscher-Initiative“.

Flüsse vor Gericht

Noch einen Schritt weiter ging die grüne Parlamentarierin Lisa Mazzone vor ein paar Jahren. Sie benutzte die Schweizer Gletscher nicht nur als Symbol des Klimawandels, sondern schlug vor, dass Gletscher gleich mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit auszustatten seien. Würden die Gletscher in ihren Rechten verletzt, könnten sie – oder besser: ihre Vertreter – vor Gericht ziehen und gegen das ihnen angetane Unrecht klagen: zum Beispiel dass ihre Existenz durch die menschengemachte Klimaerwärmung bedroht ist.

Mazzone bezog sich bei ihrem Vorstoss ausdrücklich auf andere Länder, die Ökosystemen bereits die Rechtspersönlichkeit zugebilligt haben. So zum Beispiel Neuseeland: Dort verfügt der Fluss Whanganui seit 2017 über eine eigene Rechtspersönlichkeit.

Status eines lebendigen Wesens

Nach einem über 100jährigen Streit mit dem dort lebendenden Maori-Stamm entschied das neuseeländische Parlament, dem Fluss den Status eines lebendigen Wesens zuzuerkennen. Denn im Verständnis der Maori ist der Whanganui ein Ahne und sollte wie ein solcher behandelt werden. Was nun dem Fluss angetan wird, etwa in dem er verschmutzt wird, tut man auch den Maori an. Das neue Gesetz übernimmt die ganzheitliche Vorstellung der Maori, die keine scharfe Trennung zwischen den Menschen und ihrer nicht-menschlichen Umwelt ziehen. „Ich bin der Fluss, und der Fluss ist ich“, sagen die Maori.

Der Fluss gehört damit nicht länger den Menschen, sondern gleichsam sich selbst. Da er sich selbst rechtlich nicht vertreten kann, übernehmen diese Aufgabe zwei offizielle Flusswächter; den einen von ihnen stellt der Maori-Stamm, den anderen der Staat.

Rechte für die Natur – eine weltweite Bewegung

Solche Bestrebungen, der Natur Rechte zuzuerkennen, gibt es weltweit. Im vergangenen Februar etwa „schaffte“ es der Magpie River in Kanada, gleich neun eigene Rechte zu erlangen: vom Recht der Existenz, über das Recht, zu fliessen, bis hin zum Recht, vor Gericht zu gehen.

Auch die Uno ist auf den Zug aufgesprungen. Mit dem Programm „Harmony with Nature“ unterstützt sie die Bemühungen, die Natur rechtlich besser zu stellen und verabschiedete vor einem Jahr eine entsprechende Resolution. Politischen Druck erzeugen verschiedene Interessengruppen, darunter die Bewegung „Rights of Mother Earth“, die die Schweizerin Doris Ragettli ins Leben gerufen hat. Sie will die Uno-Menschenrechtserklärung um „Rechte der Mutter Erde“ ergänzen sammelt für dieses Anliegen eine Million Unterschriften. Bisher hat sie über 270.000 Unterstützer gefunden.

Deutlich kleinere Brötchen bäckt der „Appel du Rhône“. Wie die Maori in Neuseeland verlangt die dahinterstehende Gruppe aus der französischen Schweiz, dass „ihr“ Fluss eine eigene Rechtspersönlichkeit erhalte. Bisher haben 740 Personen den Rhone-Aufruf unterzeichnet. Ähnliche Ideen werden auch in Deutschland gewälzt: In Bayern ist ein Volksbegehren geplant, dass die Rechte der Natur in der Verfassung verankern soll.

Auf einem Felsen unterhalb des Morteratschgletschers in Graubünden steht das Datum des Eisrandes vor ein paar Jahren.
Die Gletscher verlieren wegen der Klimaerwärmung an Masse und ziehen sich zurück. Beim Morteratschgletscher in Graubünden wird dieser Rückzug auf Steinen markiert.

Während in Neuseeland, aber auch in einigen lateinamerikanischen Ländern Flüsse bereits einen erhöhten Rechtsstatus zugesprochen erhielten, ist dies in Europa (noch) nicht der Fall. Hier beisst man mit dieser Idee bei den Behörden bisher auf Granit, was die Antwort der Schweizer Regierung auf den mittlerweile nicht mehr weiter verfolgten Vorstoss der Politikerin Lisa Mazzone exemplarisch zeigt.

Gletschern eine juristische Persönlichkeit zuzuerkennen, würde „unserem Rechtsverständnis zuwiderlaufen“, schreibt der Bundesrat. Gletscher seien „herrenlose Sachen“ und ihre Existenz allein begründe keine Rechtspersönlichkeit. Die Rechtspersönlichkeit sei untrennbar mit einer natürlichen Person als Individuum und somit mit dem gesellschaftlichen Leben verknüpft. Kurz und knapp: Gletscher mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit seien „mit dem schweizerischen Rechtssystem nicht vereinbar“.

„Die Gesellschaft kann ihr Rechtssystem gestalten und es weiterentwickeln. Das ist doch nicht in Stein gemeisselt.“

Marionna Schlatter ist mit dieser Antwort nicht zufrieden. Die Grünen-Parlamentarierin bezeichnet die Begründung des Schweizer Regierung als „feige“: „Die Gesellschaft kann ihr Rechtssystem gestalten und es weiterentwickeln. Das ist doch nicht in Stein gemeisselt.“

Zusammen mit vier Parlamentskolleginnen und -kollegen, die alle aus verschiedenen Parteien stammen und das politische Spektrum von mitte-rechts bis links abdecken, wagt Schlatter einen neuen Anlauf und geht gar noch einen Schritt weiter als Mazzone. Die fünf Politiker fordern, dass die Bundesverfassung revidiert werde: Zum einen soll das Recht des Menschen auf eine gesunde Umwelt als Grundrecht verankert werden. Und zum anderen soll der Natur mindestens partiell der Status eines Rechtssubjekts gegeben werden.

Von der Antwort des Bundesrats an die Adresse ihrer Kollegin lässt sich Schlatter nicht abschrecken. „Schauen wir zurück: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verfasst. Man wusste nach den schrecklichen Ereignissen, dass eine Weiterentwicklung des Rechtssystems notwendig ist. Heute gehören die Menschenrechte selbstverständlich zu unserem Recht. Nun stehen wir wieder an einem Wendepunkt: Das Artensterben geht unvermindert voran. Es besteht die Gefahr, dass wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen verlieren.“

Eine grundlegende Änderung des Rechtssystems dränge sich daher auf: „Wir müssen uns die Frage stellen, ob der verfassungsmässige Schutz genügt, um die Umweltprobleme zu bewältigen, mit denen wir konfrontiert sind.“ Für Schlatter liegt die Antwort auf der Hand: Er genügt nicht.

Mangelnde Umsetzung des geltenden Umweltrechts

Allerdings verfügt die Schweiz bereits über eine vergleichsweise gut ausgebaute Gesetzgebung zum Umwelt- und Naturschutz. So ist gemäss Verfassung etwa ein „auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits“ anzustreben.

Auch ist in der Schweiz die „Würde der Kreatur“, wozu auch Pflanzen gehören, zu achten. Und die Schweiz kennt das Verbandsbeschwerderecht: Umweltverbände können Verfügungen von Behörden in Umweltangelegenheiten rügen und so dem Recht zum Durchbruch verhelfen, was sie regelmässig und erfolgreich tun.

Blick auf den Morteratschgletscher in Graubünden, Schweiz.
Mit verschiedenen Massnahmen soll der Morteratschgletscher gerettet werden, zum Beispiel mit einer Beschneiungsanlage, die aus dem Schmelzwassers des Gletschers gespiesen wird.

Dies sei alles gut und recht, sagt Marionna Schlatter. Doch in der Schweiz sei die Umsetzung der Umwelt- und Naturschutzgesetzgebung mangelhaft: „Im Umweltbereich bestehen viele Gesetze, bei denen der Vollzug nicht richtig funktioniert. Wir wollen dem Rechtssystem nun mehr Möglichkeiten geben, um zugunsten der Natur zu entscheiden. Denn nur wenn die Natur eine eigene Rechtspersönlichkeit hat, können wir den ungenügenden Schutz selbst zu einem Rechtsgegenstand machen.“ Mit dem Verbandsbeschwerderecht könne man lediglich auf einen bereits erfolgten Verstoss gegen Umweltgesetze reagieren. Um aber zum Beispiel gegen das Insektensterben als solches vorzugehen, fehle die Rechtsgrundlage.

Fremdes Rechtsdenken

Doch die Schweizer Regierung tritt mit ihrer Kritik an der Idee von Rechten der Natur durchaus einen Punkt: Dieses Denken ist in der europäischen Rechtstradition ungewohnt. Die fünf Politikerinnen und Politikern haben ihren Vorstoss deshalb sehr offen formuliert. „Es ist eine Anregung, die nun im parlamentarischen Prozess ausgearbeitet werden soll“, sagt Schlatter.

Um nicht zu viele vor den Kopf zu stossen, sprechen sie davon, dass der Natur „mindestens partiell“ der Status eines Rechtssubjekts zu geben sei. „Es geht nicht darum, dass man jeden Baum schützt. Es geht vielmehr um ganze Ökosysteme oder die Biodiversität als solche, die diesen Status erhalten sollen“, erläutert Schlatter

Wie gross die Chancen sind, dass die Natur in der Schweiz dereinst eigene Rechte erhält, wagt Marionna Schlatter noch nicht abzuschätzen: „Diese Diskussion braucht viel Zeit. Aber wir haben den Ball nun ins Rollen gebracht.“

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