Regierungsberater fordern Gesetz zur Renaturierung auch im Alleingang
Gleich drei Expertenräte fordern ein groß angelegtes Gesetz zur Renaturierung. Sollte das Vorhaben auf europäischer Ebene scheitern, müsse die Bundesregierung notfalls einen Alleingang wagen, um Klima, Natur und Ernährungssicherheit langfristig zu retten.
Dieser Artikel ist Teil unserer Recherche-Serie „Countdown Earth: So lösen wir die Klima- und Artenkrise“.
Gleich drei wissenschaftliche Beratergremien der Bundesregierung schlagen Alarm mit Blick auf den Zustand der Natur in Deutschland und fordern ein Gesetz zum ökologischen Wiederaufbau. Um die Versorgung mit Lebensmitteln auf Dauer zu sichern und im Kampf gegen den Klimawandel zu bestehen, müsse die Bundesregierung notfalls im Alleingang ohne andere EU-Staaten ein Renaturierungsgesetz auf den Weg bringen, fordern der Sachverständigenrat für Umweltfragen sowie die Wissenschaftlichen Beiräte für Biodiversität und Genetische Ressourcen und für Waldpolitik in einer gemeinsamen Stellungnahme.
„Wiederherstellung von Ökosystemen eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben“
Die Wiederherstellung funktionsfähiger Ökosysteme sehen die mehr als 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben für Deutschland über mehrere Generationen hinweg. Dazu dürften auch neue gesetzliche Vorschriften und notfalls Enteignungen kein Tabu sein.
Mit ihrem am Freitag an Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) übergebenen Gemeinschaftsgutachten reagieren die von der Bundesregierung berufenen führenden Expertinnen und Experten aus Umwelt, Landwirtschaft und Ökonomie auch auf das drohende Scheitern des EU-Renaturierungsgesetzes. Diese im Februar bereits vom Europaparlament gebilligte Verordnung sieht vor, dass bis 2030 mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresflächen der EU und bis 2050 alle geschädigten Wälder, Moore, Seen, Flüsse und Meere wieder in einen ökologisch intakten Zustand gebracht werden müssen. Obwohl das Gesetz bereits von den Mitgliedstaaten, der EU-Kommission und dem Europaparlament gebilligt wurde, kann es wegen eines Rückziehers einiger Staaten nicht in Kraft treten.
„Renaturierung ist ökologische Existenzsicherung“
Als letzte Möglichkeit, ein europaweit gültiges Gesetz doch noch auf den Weg zu bringen, gilt ein Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs sowie der Umweltminister am 17. Juni. Zu diesem Zeitpunkt ist zwar ein neues Europaparlament bereits gewählt, die aktuelle EU-Kommission aber noch im Amt. Die wissenschaftlichen Beiräte der Bundesregierung fordern aber auch unabhängig vom Ausgang auf europäischer Ebene ein Renaturierungsgesetz für Deutschland. Auch ohne europäische Verpflichtung „ist es an der Zeit, auf nationaler Ebene die Weichen für eine ambitionierte Renaturierungspolitik zu stellen“, heißt es in dem Gutachten.
Zur Begründung verweisen die Sachverständigen auf den schlechten Zustand der Umwelt. Die immer intensivere Nutzung weiter Teile der verbliebenen naturnahen Räume in Deutschland durch Landwirtschaft, Holzindustrie und Fischerei befänden sich die Ökosysteme in einem Zustand, in dem sie immer weniger in der Lage seien, ihre für Menschen überlebenswichtigen Funktionen zu erfüllen, warnen die Expertinnen und Experten.
Renaturierung dürfe daher nicht allein als Maßnahme für die Umwelt selbst angesehen werden. Vielmehr sei sie eine Maßnahme der „ökologischen Existenzsicherung“ für die Gesellschaft, betont das Gutachten. Ohne gesunde Ökosysteme könnten die Herausforderungen des Klimawandels und der Sicherung der Ernährung nicht bewältigt werden, warnen die Experten.
Kein Erfolg beim Kampf gegen den Klimawandel ohne die Natur
Als Beispiele für bedrohte Naturfunktionen mit direkter Auswirkung auf die Gesellschaft nennen sie die abnehmende Bodenfruchtbarkeit und verringerte Bestäubung durch Insekten mit Folgen für die die Lebensmittelproduktion, die verringerte Speicherfähigkeit von Treibhausgasen in geschädigten Wäldern und Böden sowie die beeinträchtigte Regulierung des Wasserhaushalts in degradierten Ökosystemen mit Folgen für Hochwasserschutz und die Trinkwasserversorgung.
Weniger als ein Prozent des Ackerlandes ist ökologisch wertvoll
Besonders dramatisch schätzen die Experten die Lage in landwirtschaftlich genutzten Gebieten ein, die gleichzeitig fast die Hälfte der gesamten Fläche Deutschlands ausmachen. Nur 13 Prozent der Fläche in der Agrarlandschaft besitze heute noch einen hohen Naturwert. Beim Ackerland liege dieser Wert sogar unter einem Prozent.
Die ökologische Krise sehen die Experten durch die ständige Ausweitung bebauter und durch Straßen versiegelter Flächen und eine hohe Schadstoffbelastung noch verschärft. Ihr Fazit: „Um Natur als Fundament von Gesundheit und Wohlergehen zu erhalten, muss die verbliebene Natur nicht nur geschützt, sondern ihr Zustand auch aktiv wieder verbessert werden.“
Auch Fassadenbegrünung gilt als Renaturierung
Renaturierung kann dem Gutachten zufolge viele Gesichter haben. Vom „Nichtstun“ – also dem Zulassen natürlicher Prozessen etwa in Wäldern –, über den Anbau bestimmter Pflanzen auf Äckern und Feldern, um Nährstoffen aus Boden und Wasser zu entziehen, bis zur aktiven „Wiederherstellung“ von Gewässern und Feuchtgebieten durch das Anheben von Wasserständen oder auch der Wiederansiedlung verschwundener Tier- und Pflanzenarten.
Auch den schon seit vielen Jahren laufenden „Waldumbau“ – also die Umwandlung monotoner Nadelforste zu klimastabilen Mischwäldern mit einem hohen Anteil von Laubbäumen, das nicht zu häufige Mähen von Wiesen und das Anpflanzen von Hecken und Blühstreifen sehen die Experten als Beiträge zur Renaturierung. In Dörfern und Städten könnte die ökologische Leistungsfähigkeit der Umwelt durch mehr Bäume, grüne Fassaden oder den Erhalt von Streuobstwiesen gestärkt werden.
Renaturierung kann auch Nutzung bedeuten – manchmal muss Land sogar genutzt werden, um wertvoll zu sein
„Es ist wichtig zu betonen, dass Renaturierung nicht zwangsläufig die Aufgabe jeglicher Nutzung durch Menschen bedeutet“, betont die Stellungnahme wohl auch mit Blick auf die wütenden Bauernproteste der vergangenen Monate. „Naturverträgliche Praktiken der wirtschaftlichen Nutzung können dazu beitragen, dass Ökosysteme sich naturnäher entwickeln und ihre Leistungsfähigkeit für Menschen erhalten bleibt.“
Mit dieser weiten Definition machen die Autorinnen und Autoren des Gutachtens auch deutlich, dass sie einen ökologischen Umbau mit und nicht gegen die gesellschaftlichen Gruppen anstreben, die den größten Teil der naturnahen Flächen bewirtschaften: den Land- und Forstwirten. „Renaturierung ist eine Generationenaufgabe, die nur gelingen kann, wenn sie gemeinsam mit Flächennutzenden und Anwohnenden entwickelt und umgesetzt wird“, betont das Gutachten.
Landwirte etwa müssten angemessen dafür honoriert werden, dass sie der Gesellschaft öffentliche Güter, wie Bodenfruchtbarkeit oder intakte Wasserregulation zur Verfügung stellten.
Dieses Argument hat allerdings eine Schwachstelle: Denn die natürlichen Güter sind auch ohne Landwirtschaft vorhanden. Eine behutsame Landwirtschaft schont sie – „produziert“ sie aber nicht.
Renaturierung geht nicht ohne Konflikte – ganze Landschaften verändern ihr Gesicht
Die Experten räumen ein, dass Renaturierungen im Agrarland – mehr Hecken und Blühstreifen, dafür weniger Pestizide und Dünger – zeitweise zu geringeren Erträgen führen könnten. Dennoch gebe es keine Alternative dazu. Denn bei einem Weiter-So werde es nicht möglich sein, auf lange Sicht stabile landwirtschaftliche Erträge zu erzielen. „Maßnahmen der Renaturierung erhalten mittel- und langfristig die landwirtschaftliche Wirtschaftsgrundlage und dienen so der Ernährungssicherheit jetziger und zukünftiger Generationen.“
Gleichwohl erwarten die Gutachter auch Konflikte. Denn Renaturierungsmaßnahmen würden zwangsläufig in vielen Fällen bisherige Formen der Bewirtschaftung verändern. So könnten sich auch ganze Landschaftsbilder verändern – etwa dort, wo trockengelegte Moore wiedervernässt würden.
Auch Gesellschaft steht in der Pflicht: Konsum und Ernährung sind zentral für Biodiversitätsschutz
Die Regierungsberater nehmen auch die Gesellschaft in die Pflicht. Auch die Bürgerinnen und Bürger müssten den Wandel mittragen, fordern sie. So seien Verhaltensänderungen in Bereichen Wohnen und Mobilität erforderlich, damit die Nachfrage nach Energie, Fläche und Rohstoffen abnehme. In der Ernährung müsse die tierbasierte Ernährung und in der Folge die Nutztierhaltung erheblich verringert werden, um wertvolle Flächen nicht für die Produktion von Futtermitteln zu blockieren. Der Futtermittelanbau belegt derzeit fast 60 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche in Deutschland. Auf mehr Importfleisch zu setzen, verschiebe die ökologischen Probleme nur, löse sie aber nicht.
Auch Enteignungen kein Tabu
Die Experten betonen, dass freiwillige Maßnahmen und finanzielle Anreize stets der bessere Weg sind, um Landnutzer für die Teilnahme an Renaturierungsprojekten zu gewinnen. Wo dies aber in Einzelfällen – beispielsweise bei großflächigen Wiedervernässungen – nicht möglich sei, sollten im Ausnahmefall auch Enteignungen möglich sein.
Denn betreibe der Staat eine Renaturierungspolitik ausschließlich auf Grundlage der freiwilligen Teilnahme, könnten dadurch die Grundrechte anderer Gesellschaftsgruppen beeinträchtigt werden. Mit dieser Begründung hatte auch das Bundesverfassungsgericht vor drei Jahren sein wegweisendes Klimaurteil zugunsten kommender Generationen begründet.
Freiwilligkeit stößt an Grenzen – das zeigt die Wasserrichtlinie
Die Stellungnahme verweist auch auf das Negativ-Beispiel der auf Freiwilligkeit basierenden Umsetzung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie. Sie verpflichtet die EU-Staaten, ihre Gewässer bis 2027 in einen guten ökologischen Zustand zu bringen. In Deutschland sind es weniger als 10 Prozent. „Die Erfahrungen mit der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie haben gezeigt, dass sich die Defizite in den Ökosystemen mit einer Politik, die allein auf die Freiwilligkeit der Landnutzenden setzt, nicht vollständig beseitigen lassen“, heißt es in der Analyse.
Experten gehen über Regierungspolitik hinaus
Mit dieser Empfehlung gehen die Experten über die bisherige Position ihrer politischen Auftraggeber hinaus. So setzen die Moorschutzstrategie und das Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz von Umweltministerin Lemke ausschließlich auf finanzielle Anreize für die Moorrenaturierung.
Mit ihrer Stellungnahme legen die führenden Öko-Expertinnen und -experten des Landes einen Fahrplan vor, wie die von der Ampel-Koalition durch ihre Unterschriften unter das EU-Renaturierungsgesetz und das Weltnaturabkommen von Montreal eingegangenen internationalen Klima- und Naturschutzverpflichtungen selbst bei einem Scheitern auf europäischer Ebene umgesetzt werden könnten. Dass der nationale Weg zur Ökologisierung aber weniger holprig wird als der europäische, steht nicht zu erwarten.
Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden gefördert von der Hering-Stiftung Natur und Mensch