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Wie funktioniert Rückversicherung und wie zukunftsträchtig ist das Geschäft mit Naturkatastrophen?
„Der Bereich Katastrophenschäden ist ein Kerngeschäftsfeld für uns – und ein Wachstumsmarkt!“
Rückversicherungen wie Munich Re übernehmen bei Naturkatastrophen und anderen Extremereignissen oft einen Großteil der Kosten, die in die Milliarden gehen können. Wie zukunftsfähig ist das Geschäft mit Spitzenrisiken auf einem klimagebeutelten Planeten?
Dieser Artikel ist Teil unserer Recherche-Serie„Countdown Earth: So lösen wir die Klima- und Artenkrise“. Er ist am 9. Januar 2024 erschienen und wurde am 3. Juni 2024 aktualisiert.
Weite Teile Süddeutschlands stehen unter Wasser und noch ist kein Ende der Überschwemmungen abzusehen. Im Mai war das Saarland betroffen und zur Jahreswende der Nordwesten Deutschlands. Eine Flutkatastrophe nach der anderen, aber keine Überraschung mehr: Hochwasser gehört zum „neuen Normal“ in Zeiten der Klimakrise. Sie macht Überschwemmungen, Waldbrände, Hurrikane und andere Extremwetterereignisse wahrscheinlicher, intensiver und teurer. Naturkatastrophen, die im Schadensfall viele Millionen oder sogar Milliarden kosten können, sind ein Kerngeschäft von Rückversicherungen. Die Münchner Rückversicherung Munich Re ist einer der größten Anbieter mit langer und herausragender Expertise für diese Spitzenrisiken.
Das Geschäft mit extremen Risiken
Jedes Jahr Anfang Januar veröffentlicht Munich Re eine Bilanz der besonderen und besonders beunruhigenden Art: Im Detail lässt sich hier nachlesen, welchen volkswirtschaftlichen Schaden Naturkatastrophen im Vorjahr angerichtet haben, so auch die Zahlen zum Jahr 2023 (siehe Kasten).
Wir alle haben im täglichen Leben mit Versicherungen zu tun. Wir sind alle potenziell von Naturkatastrophen bedroht. Die Mechanismen von Rückversicherungen sind aber wenig bekannt. Darum soll es hier gehen: Wie funktioniert das Geschäft mit extremen Risiken? Und wird es auch in Zukunft noch funktionieren? Die klimabefeuerten Naturkatastrophen verändern den Versicherungsmarkt schon jetzt, verschärfen auch bei uns bestehende Probleme und verursachen neue Risse. Wie schaffen wir Sicherheit und Resilienz in einer Welt, die immer unsicherer wird?
Der „Schwarze Peter“ Schadensfall
Schadensfälle zu versichern ist ein wenig wie Schwarzer Peter spielen in ganz großem Maßstab. „Das Grundprinzip von Versicherung ist der Transfer von Risiko“, sagt die deutsche Geografin Melanie Gall. Sie leitet als Co-Direktorin das Center for Emergency Management and Homeland Securityan derArizona State University und betreibt eine Datenbank für Verluste aus Naturkatastrophen. „Es geht um die Frage, wem welches Risiko zugeschoben werden kann.“
Der Versicherungsmarkt ist im Wesentlichen wie eine dreistufige Pyramide aufgebaut. Einzelne Versicherungsnehmer bilden die breite Basis. Sie schließen freiwillig oder aufgrund gesetzlicher Vorgaben Versicherungen ab, etwa gegen Unfall, Diebstahl oder Unwetter. Die Vertragspartner dieser Kleinkunden sind die sogenannten Erstversicherer. Sie bilden die nächsthöhere Ebene und machen Gewinn, wenn sie während der Laufzeit mehr aus Policen einnehmen als sie auszahlen müssen.
Extreme Schadensfälle wie Naturkatastrophen können diesen Rahmen sprengen. In den USA haben die horrenden Schadenskosten einzelner Hurrikane kleinere Erstversicherer bereits in den Ruin getrieben. Diesem Risiko lässt sich jedoch vorbeugen: Erstversicherer können sich auf der nächsthöheren Ebene absichern und Verträge mit Rückversicherern abschließen – so wie diese es oft auch untereinander machen.
Das Spitzenrisiko Naturkatastrophe
Tobias Grimm leitet die Einheit Climate Advisory NatCat Data von Munich Re. Sie ist das Kompetenzzentrum der Rückversicherung in Sachen Datenanalyse zu Klimawandel, Naturgefahren und den damit verbundenen Transformationsprozessen. Grimm sagt: „Wir übernehmen Spitzenrisiken, die unsere Kunden, die Erstversicherer, ab einem gewissen Punkt finanziell überfordern würden – und Naturkatastrophen sind ein typisches Beispiel dafür. Rückversicherungen tragen definitiv zur Resilienz von Volkswirtschaften bei.“
Der Vertrag mit einer Rückversicherung kann sich auf ein Projekt oder ein ganzes Portfolio beziehen – und sehr variabel gestaltet sein. Von den Konditionen hängt ab, ob und wieviel die beteiligten Rückversicherungen im konkreten Schadensfall zahlen. Ein Beispiel: Die Erstversicherung übernimmt einen vorab festgelegten Betrag, die Rückversicherung die darüber hinausgehenden Kosten bis zu einem ebenfalls feststehenden Limit. Oder aber die Rückversicherung übernimmt einen vertraglich vereinbarten Prozentsatz der gesamten Schadenssumme.
Gerade hohe Risiken müssen immer auf viele Schultern verteilt werden: „Wir dürfen uns auch nicht überexponieren“, sagt Grimm. „Wir versichern also nichts komplett, sondern übernehmen einen Teil von vielleicht fünf, zehn oder zwanzig Prozent, auch wenn wir als einer der größten Rückversicherer unter allen Beteiligten oft führend sind.“ Außerdem werden die Verträge in der Regel jedes Jahr erneuert. So können sie an neue Risikobewertungen angepasst werden.
Zukunftsrisiken vorhersagen
Keiner kennt die Zukunft. Die besten Karten hat der Spieler, der Risiken wie Naturgefahren besonders präzise abschätzen kann, also die Faktoren Glück und Zufall weitestgehend minimiert. „Versicherung an sich ist extrem datengetrieben“, sagt Melanie Gall. „Die Anbieter und hier vor allem die Rückversicherer nutzen einige der fortschrittlichsten Klima- und Risikomodelle, um Zukunftsrisiken vorherzusagen.“ Munich Re beispielsweise setzt sich seit 50 Jahren intensiv mit der Klimakrise und deren Auswirkungen auseinander. Ein Grund, weshalb die alljährliche Naturkatastrophenbilanz so gefragt ist.
Expertise muss imstande sein, sich an eine veränderliche Realität anzupassen– und sich für das neue Normal vielleicht sogar neu zu erfinden. Was das Risiko von Naturkatastrophen angeht, schreibt die Klimakrise die Spielregeln um. Keiner weiß genau, wie sie künftig aussehen werden.
Mehr Schäden durch wachsenden Wohlstand
Klar ist nur, dass die Veränderungen nicht einheitlich verlaufen werden, sondern von der jeweiligen Naturgefahr abhängen, der geografischen Region, in der sie sich ereignen, sowie weiteren Faktoren. Klar ist auch, dass die Klimakrise schon jetzt bestimmte Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Waldbrände und Hurrikans befeuert. Sie werden in Zukunft noch wahrscheinlicher, heftiger und teurer werden. Dabei treibt nicht allein die globale Erwärmung die Kosten in die Höhe. Es gibt auch sehr viel mehr gefährdete Güter als früher, weil die Weltbevölkerung wächst und wohlhabender geworden ist. Wo ein Hurrikan oder eine Überschwemmung noch vor einigen Jahrzehnten auf freies Land trafen, vernichten sie heute Häuser, Luxushotels und wichtige Infrastruktur.
Und doch will sich Munich Re nicht aus dem Geschäft mit den Naturkatastrophen zurückziehen. Im Gegenteil: „Wir haben das Geschäft in den letzten fünf Jahren weltweit weiter ausgebaut“, sagt Grimm. „Der gesamte Bereich Katastrophenschäden ist für uns ein Kerngeschäftsfeld – und weiterhin ein Wachstumsmarkt.“
Ob Versicherung ganz grundsätzlich in einem Land oder für spezifische Schadensfälle funktioniert, hängt aber nicht nur von den Angeboten der Rückversicherer ab. Die Entscheidungen der Erstversicherer und ihrer Kleinkunden sind auch wichtig, ebenso Vorgaben der Politik. Es gibt viele auch historisch geprägte Varianten der Zusammenarbeit. Jedes Land hat einen ganz eigenen Versicherungsmarkt, der mehr oder weniger gut funktioniert. Das Ideal eines perfekten Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage, also eines Versicherungsmarkts, in dem sich alle Beteiligten ihrer eigenen Gefährdung ausreichend bewusst sind, kann es jedoch gar nicht geben.
Der Staat als Notlösung
„Menschen sind leider nicht gut darin, über ihre eigene Zukunft nachzudenken“, sagt Gall. Das könne und müsse sich jetzt ändern, weil ein Faktor unabhängig von nationalen Eigenheiten auf alle Versicherungsmärkte wirkt, so unterschiedlich sie auch sind: Die Klimakrise verschärft bestehende Probleme und verursacht neue Risse. Und auch dies ist eine Gemeinsamkeit: Wenn bei extremen Schadensfällen alle Stricke reißen, sieht sich die öffentliche Hand oft gezwungen, einzuspringen, soweit das eben möglich ist – und immer nur als Notlösung.
So wie zuletzt in Marokko. Das Land hat eine sehr geringe Versicherungsdichte, wie es in der Branche heißt. Anfang September vergangenen Jahres ereignete sich dort ein schweres Erdbeben, das rund 3.000 Menschen das Leben kostete. Die Schäden beliefen sich laut der aktuellen Naturkatastrophenbilanz von Munich Re auf rund 7 Mrd. US$ – von denen nur etwa 300 Millionen US$ versichert waren.
Versicherungslücke Elementarschaden
Aber auch in Ländern mit hoher Versicherungsdichte wie Deutschland können sich große Lücken auftun. Ein Beispiel sind Überschwemmungen, die immer noch als Ausnahmeereignisse gelten. Viele Menschen fühlen sich davor sicher, weil sie nicht an einem Fluss wohnen. Das ist aber zu kurz gedacht. Starkregen auf kleiner Fläche kann auch ohne Flüsse zu Überschwemmungen führen. „Das passiert oft bei Unwettern im Sommer, die im Zuge der Klimakrise häufiger werden“, sagt Grimm. „Diese Art Überschwemmung kann jeden treffen.“
Die Flutkatastrophe im Ahrtal vor gut zwei Jahren verursachte allein für Privathaushalte Schäden in Höhe von 14 Milliarden Euro. Nur ein Teil davon war gedeckt, weil für Schäden durch „das Wirken der Natur“ eine Elementarschadenversicherung nötig ist. Ein Vergleich: Fast alle Haushalte in Frankreich haben sie, während es bei uns nur etwa die Hälfte ist.
Rückzug der Erstversicherer
Es wird immer wichtiger, die eigene Gefährdung zu erkennen. Wer beispielsweise eine Versicherung gegen Elementarschäden braucht und wie diese im Detail gestaltet sein sollte, muss im Einzelfall entschieden werden. Wenn es überhaupt noch ein passendes Angebot gibt. Auch das ist eine Folge häufiger werdender „Jahrhundertkatastrophen“: In Hochrisikogebieten bieten Erstversicherer oft nur extrem teure Policen an. Oder gar keine. Welche Folgen das hat, lässt sich jetzt bereits in den USA und anderen Ländern beobachten.
Einige große Erstversicherer haben sich im letzten Jahr aus Regionen in Kalifornien zurückgezogen, die stark von Waldbränden gefährdet sind. Neue Häuser können dort nicht mehr versichert werden. Ein Schock, aber keine Überraschung, sagt Melanie Gall: „Diese Entwicklung kennen Florida und andere Bundesstaaten gut, die von Hurrikans und Überschwemmungen geplagt sind. Versicherer ziehen sich seit Jahren nach Katastrophen aus Märkten mit hohen Risiken und hohen Verlusten entweder zeitweilig oder permanent zurück.“
Alle Wege führen nach Montana?
Sie werde oft gefragt, warum Menschen diese Gegenden nicht einfach verließen, sagt sie. Dabei sei die Antwort ganz einfach: „Man bleibt, weil man über Eigentum, Job oder Familie verwurzelt ist, das Haus wegen der hohen Gefährdung auch kaum verkaufen kann. Für viele Amerikaner ist ein Umzug keine Option. Und wohin sollten sie auch gehen? Allein wegen der Erdbebengefahr müsste ganz Kalifornien auswandern, aber in den USA gibt es kaum ein Gebiet ohne Risiko. Am Ende würden wir alle in Montana wohnen.“
Staatliche Nothilfen im Katastrophenfall können Bürger, Unternehmen und ganze Ortschaften vor dem Ruin retten. Ohne sie werden wir auch in Deutschland auf absehbare Zeit nicht auskommen. Umso wichtiger ist, dass die Hilfen künftig zum Hebel für mehr Resilienz werden. Allzu oft wird nach der Zerstörung an gleicher Stelle einfach wiederaufgebaut. Das neue Normal verbietet aber ein „weiter wie bisher“. Die Auszahlung staatlicher Mittel sollte konsequent an Auflagen zur Anpassung und Vorsorge geknüpft sein – wie den Abschluss einer Elementarversicherung.
Von anderen Ländern lernen
Die Risiko-Expertin Melanie Gall würde zudem eine gesetzliche Vorgabe befürworten: „Versicherungen haben an sich kein geschäftliches Interesse daran, Schäden zu vermeiden“, sagt sie. „Sie können ja jederzeit aus jedem Geschäft aussteigen und sich aus einzelnen Bereichen ganz zurückziehen, wenn es für sie zu riskant oder zu teuer wird. Für mehr Nachhaltigkeit wäre wichtig, dass Versicherungen künftig zwingend einen Anreiz enthalten, den Schaden zu vermeiden, um den es geht. Sowas gibt es im Prinzip schon: Wer eine Einbruchsversicherung will, zahlt weniger, wenn er eine Alarmanlage hat.“
Die Klimakrise geht uns alle an und wirkt sich auf alle Versicherungsmärkte aus. Wir können also von anderen Ländern lernen – im Guten wie im Schlechten.
So zeigen die USA, wie sich die Lage in Hochrisikogebieten durch den selektiven Rückzug von Versicherern extrem verschärfen kann. Ein anderes Land wiederum macht per Public-Private-Partnership vor, wie staatliche und privatwirtschaftliche Unternehmen Katastrophenvorsorge vielleicht gemeinsam voranbringen können: „In Großbritannien gibt es dafür ein schönes Beispiel“, sagt Tobias Grimm. „Flood Re ist ein staatlich organisierter Rückversicherer mit privatem Kapital, dessen Überschüsse in Hochwasservorsorge investiert werden. Die Laufzeit ist dreißig Jahre und danach soll der Markt wieder allein funktionieren. Das ist ein schlaues Modell – für mehr Resilienz.“
Dieser Beitrag wurde gefördert durch die Hering-Stiftung Natur und Mensch.