Die Wissenschaft gewinnt an Statur
Wie auf die Virologie sollte die Politik auch auf die Klimaforschung hören – eine Analyse
Wo genau liegen die Parallelen zwischen der Corona- und der Klimakrise? Was kann man von der Reaktion der Menschen auf die Beschränkung ihres Alltags lernen, welche Argumente aufgreifen und zuspitzen, um später den Klimaschutz voranzubringen? Davon handelt die KlimaSocial-Serie „Schwung holen im Stillstand“.
In diesem Teil: Was in der Klimakrise nur behauptet wird, ist in der Coronakrise offensichtlich: Politiker folgen dem Rat von Expert:innen. Die hätten freilich auch viel zum Vermeiden der momentanen Probleme zu sagen gehabt; das wurde weitgehend ignoriert. Und das genau könnte die Lektion sein: Hört auf die Wissenschaft!
Teil der KlimaSocial-Artikelserie „Schwung holen im Stillstand“
„Die Virologen haben uns gesagt …“ oder „Wir stützen uns auf die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts …“, so fängt zurzeit gefühlt jeder dritte Satz an, mit dem Politiker die getroffenen Entscheidungen zu Kontaktverbot und „social distancing“ begründen, das besser „physical distancing“ hieße. In der Coronakrise suchen und folgen sie den Ratschlägen von Wissenschaftlern, und werden in der Öffentlichkeit sogar dafür gerügt, wenn sie nicht umgehend den jeweils weitestgehenden Appellen nachkommen [Q1].
„Wissenschaft muss zur Daseinsvorsorge gehören“
Nach „Jahren des Misstrauens, ja der offenen Verachtung“ zeige sich wieder der Wert der Spezialisten aus Wissenschaft und Forschung, erklärt Harald Lesch in seiner ZDF-Sendung Leschs Kosmos am 24. März und fordert: „Von nun an muss die Wissenschaft zur Daseinsvorsorge gehören.“ [Q2]
Und Yuval Noah Harari schreibt in einem Financial Times-Essay: „Wenn Menschen die wissenschaftlichen Fakten hören, und wenn diese Menschen der staatlichen Gewalt zutrauen, ihnen diese Fakten zu erklären, dann werden die Bürger das Richtige tun, ohne dass ein Big Brother über ihre Schultern blickt.“ Man brauche eben Vertrauen, um ein solches Niveau von Einverständnis und Kooperation zu erreichen. „Die Leute müssen der Wissenschaft vertrauen, der öffentlichen Hand vertrauen, den Medien vertrauen. Aber in den vergangenen Jahren haben verantwortungslose Politiker dieses Vertrauen gezielt untergraben.“ [Q3] [Siehe auch den Teil über die öffentlichen Güter: Q4]
Diese Hinwendung zu den Aussagen aus der Forschung wünschen sich viele seit langem auch in der Klimapolitik; es ist die Kernforderung von Greta Thunberg und der FridaysForFuture-Bewegung: „Hört auf die Wissenschaft!“ Andere verknüpfen beide Themen explizit im Tweet: „Bemerkenswert: Obwohl sich die Wissenschaft bei #COVID19 nicht annähernd so einig über Auswirkungen, Tempo und Gegenmaßnahmen ist wie beim #Klimawandel, sind die Maßnahmen gegen #coronavirus radikaler und werden schneller beschlossen – immer mit Berufung auf die Wissenschaft“, schreibt der WDR-Hörfunkjournalist Jürgen Döschner [Q5; abgekürzte Wörter wie „die“ oder „und“ ausgeschrieben, CS].
Ähnlich äußert sich das Klimateam des Naturschutzbunds: „Bundesregierung zeigt Handlungsfähigkeit in der #Corona-Krise. Maßgeblich für die ergriffenen Maßnahmen seien laut #Merkel Erkenntnisse der #Wissenschaft. Dieses konsequente Handeln brauchen wir auch in der #Klimakrise.“ [Q6] Wie viele andere haben die Mitarbeiter der Umweltorganisation genau registriert, dass die Kanzlerin sich in der Klimapolitik zwar gern auf die Wissenschaft beruft, aber im Zweifel doch den vermeintlichen Zwängen der politischen Kompromissfindung nachgibt [Q7].
Ganz so rosig ist das Bild allerdings auch in der Pandemiefrage nicht unbedingt. Zwar orientiert sich die Politik an den Empfehlungen der Virologen zum Bewältigen der akuten Krise, doch viele der Hinweise zum Vermeiden einer solchen Entwicklung sind in früheren Jahren auch in Sachen Gesundheitsschutz verhallt.
So haben die Gesundheitsminister der G20-Gruppe in Jahr 2016, als Deutschland den Vorsitz hatte, in Berlin im Planspiel eine globale Pandemie behandelt [Q8]. Es muss ein wichtiges Erlebnis für Hermann Gröhe gewesen sein, den Vorgänger des jetzigen Amtsinhabers Jens Spahn (beide CDU). Ergebnis war eine „Berliner Erklärung“, in der die Minister feststellten [Q9]: „Die internationale Gemeinschaft muss die [Weltgesundheitsorganisation] WHO uneingeschränkt unterstützen, damit die Organisation ihre Rolle erfüllen, einschließlich des Aufbaus von Kapazitäten und Maßnahmen zur Vorbeugung von und Reaktion auf gesundheitlichen Notlagen treffen kann.“ (sic!)
Die nötigen Vorräte an Schutzkleidung fehlen
Doch so wenig die Grammatik dieses Satzes in der deutschen „Arbeitsübersetzung“ stimmt, so wenig „uneingeschränkt“ war die Unterstützung danach. Zuletzt im September 2019 stellte nämlich ein Expertengremium der WHO fest, die Welt sei unvorbereitet: „Zu lang sind die Verantwortlichen der Welt den gesundheitlichen Notfällen in einem Kreislauf aus Panik und Vernachlässigung entgegengetreten“, sagte Gro Harlem Brundtland, Ko-Vorsitzende der Arbeitsgruppe. „Es ist höchste Zeit für dringende und andauernde Maßnahmen.“ [Q10] Auch in Deutschland wurden zum Beispiel die in den Pandemieplänen seit langem vorgesehenen Vorräte an Schutzkleidung schlicht nicht angelegt, klagen Ärzte [Q11].
Das dürfte und sollte für die Bestandsaufnahme nach der Coronakrise eine große Rolle spielen. Eine Lehre daraus muss dann sein, dass Wissenschaftler auch vor einer Notlage wichtige Hinweise zu geben haben – wie es ja auch beim Kampf gegen die Klimakrise ist. Forscher mahnen hier seit Jahren, die Emissionen zu reduzieren, um die schlimmsten Folgen abzuwenden. Die späteren Schäden eines ungebremsten Klimawandels seien eine höhere Belastung für die Weltwirtschaft als die Kosten der nötigen Transformation oder eines globalen „Green Deal“. Zuletzt rechnete zum Beispiel das Potsdam-Institut vor, ein globaler Kohleausstieg nutze mehr als er koste [Q12].
Nicht zu übersehen ist allerdings, dass auch in der Coronakrise Wissenschafts-Verachtung aufflammt. Virologen und Epidemiologen erleben, was Klimaforscher seit Jahren plagt. Zum Beispiel verdreht der US-Fernsehsender Fox News Fachleuten wie dem britischen Epidemiologen Neil Ferguson vom Imperial College in London die Worte im Mund, berichtet die Washington Post [Q13]. Er hatte die Zahl der Todesfälle für sein Heimatland auf gut 500 000 geschätzt, und zwar für den Fall, dass das öffentliche und wirtschaftliche Leben uneingeschränkt bleiben. Nur 20 000 Opfer gäbe es bei starken Kontaktbeschränkungen.
Nicht nur eine Fox-Moderatorin bezeichnete das wahrheitswidrig – und vermutlich nicht mangels intellektueller Kapazität – als Widerspruch und Korrektur eines Fehlers in der ersten Modellrechnung. Auch eine Mitarbeiterin im Weißen Haus, die in der Task Force des Präsidenten arbeitet, nannte die zweite Zahl eine „Richtigstellung“ der ersten. Ihr oberster Dienstherr fährt ohnehin einen Zickzack-Kurs. Am einen Tag gibt er seinem „Gefühl“ Ausdruck, sein Land brauchen doch überhaupt keine 30 000 oder 40 000 neuen Beatmungsgeräte, dann wieder stellt er den Autohersteller General Motors nach einem Gesetz für Kriegszeiten unter Kuratel der Ministerien, um maßgeblich bei der Produktion von 100 000 der Geräte mitzuwirken.
Mehr Wert auf das Abwenden einer Krise zu legen, dabei den wissenschaftlichen Rat zu beherzigen, das muss die Lektion aus der Corona-Pandemie sein. In diese Richtung zielt auch ein Kommentar bei klimareporter.de: „Man redet viel über das Thema, […] aber man handelt erst, wenn es unbedingt sein muss, wenn die Notsituation schon da ist. Die Maßnahmen, die man dann ergreifen muss, sind drastischer als die, die man beizeiten vorsorglich hätte ergreifen können. […] Wenn die Coronakrise für etwas ein Vorbild sein kann, dann für die Erkenntnis, dass wir es beim Klimawandel besser machen müssen.“ [Q14]
Handeln, ohne alle Fakten genau zu kennen
Ein weiterer Aspekt im Zusammenhang mit Wissenschaft und Politik ist der Umgang mit Ungewissheit. Die Infektionszahlen, aus denen zurzeit weitreichende Schlussfolgerungen gezogen werden, sind von vielerlei Mängeln geplagt: teils enorme Dunkelziffern, langsam anlaufende Testprogramme, unterschiedliche Kriterien der Länder. All das erschwert die Vergleichbarkeit. Aber eine Diskussion über die Qualität der Daten wird höchstens in Fachkreisen geführt und hat keine aufschiebende Wirkung.
Gleichzeitig ist die zentrale Strategie in der Coronakrise, mit den umfangreichen Maßnahmen zur Beschränkung des öffentlichen Lebens die Infektionsraten zu senken, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Ob sie wie gewünscht wirkt, kann man erst nach sechs oder zehn Tagen wirklich beurteilen. Allerdings haben die Politiker dann auch nicht die Geduld, so lange zu warten. Weit vor Ablauf der Frist wurden die Maßnahmen immer weiter verschärft. Und inzwischen läuft längst die Diskussion, was Veränderungen in Statistiken der Fallzahlen bedeuten könnten, und wann man das Land wieder öffnen dürfe. Oder ob es umgekehrt demnächst die Pflicht gibt, beim Einkaufen Gesichtsmasken zu tragen.
Das lässt sich zum Teil damit erklären, dass die angeordneten Maßnahmen des „physical distancing“ ohne staatlichen Zwang nicht ausreichend beachtet werden. Aber dahinter steckt auch die Erkenntnis, dass sich Infektionszahlen in zehn Tagen mindestens dreimal verdoppeln könnten – dass man also handeln muss, um Schlimmeres zu vermeiden, ohne alle Fakten genau zu kennen.
„Wir wissen genug, um zu handeln“, erklärt zum Beispiel der Statistik-Experte Mark Lipsitch von der Harvard University in einer Fach-Debatte, ob die Infektionszahlen und die Erkenntnisse von Virologie und Epidemiologie die jetzigen staatlichen Maßnahmen wirklich rechtfertigten [Q15].
Eine Debatte über das Allgemeinwohl wäre ein Schritt nach vorn
Exakt die gleiche Formulierung gilt für die Klimakrise, und sie ist sozusagen Raison d’Être von KlimaSocial. Vergleichen mit der Coronakrise ist die Erkenntnislage in der Klimaforschung felsenfest. Dennoch gilt es immer wieder als probates Mittel, vermeintliche Wissenslücken über Randaspekte als Entschuldigung für Nicht-Handeln herzunehmen. Das, sagen Wissenschaftler schon lang, muss sich schleunigst ändern – die Coronakrise zeigt, dass und wie es geht.
Die eigentliche Frage liegt ohnehin woanders, stellt Henning Hahn vom Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin in einer Umfrage des Science Media Center fest: „Eine unsichere Datenlage und Komplexität [entlasten] nicht vor politischer Verantwortung. Entscheidend ist, dass wir uns in diesen Fragen nicht von einer Demokratie in eine Expertokratie verwandeln. Es gehört zur politischen Verantwortung von Politikerinnen und Politikern, wissenschaftliche Erkenntnis zu konsultieren und ernst zu nehmen; aber ebenso gehört es zu ihrer Verantwortung, diese Erkenntnisse in eine Allgemeinwohlvorstellung einzuordnen.“
Wenn wir in der Klimadebatte mal an dem Punkt wären, wo man ernsthaft über die „Allgemeinwohlvorstellung“ spricht, und neue Erkenntnisse jeweils dort einordnet anstatt immer wieder über die Erkenntnislage zu streiten, dann hätten wir einen großen Schritt vorwärts gemacht. ◀
Weiter in der KlimaSocial-Serie „Schwung holen im Stillstand“
Links und Quellen zu diesem Serien-Teil
- [Q1] Anne Will Sendung am 15.3.2020
- [Q2] Leschs Kosmos: Übrigens
- [Q3] Yuval Noah Harari in der Financial Times
- [Q4] KlimaSocial-Artikel: Die öffentlichen Güter sind vernachlässigt worden
- [Q5] Tweet Jürgen Döschner
- [Q6] Tweet Nabu
- [Q7] KlimaSocial-Artikel zur Bewertung des Klimapakets
- [Q8] Bericht der taz über Pandemie-Planspiel der G20 in Deutschland
- [Q9] Berliner Erklärung der Gesundheitsminister (pdf)
- [Q10] Warnung der WHO (pdf)
- [Q11] SZ-Bericht: „Masken, was für Masken?“
- [Q12] Pressemitteilung PIK zum globalen Klimaausstieg
- [Q13] Bericht der Washington Post über Angriffe auf Virenforscher
- [Q14] Kommentar Klimareporter
- [Q15] Stat News-Kommentar vom Mark Lipsitch