Der begrenzte Vorrat an Sorgen

Verdrängt das Coronavirus die Klimakrise aus der öffentlichen Diskussion? – eine Analyse

10 Minuten
Eine Atemschutzmaske: eine weiße Fließschale mit angehefteten gelben Gummibändern oben und unten und einem Metallstreifen, den man um die Nase biegen kann, auf einem roten Hintergrund

Menschen können nur eine geringe Anzahl von Gefahren gleichzeitig aktiv verfolgen. Eine heraufziehende Epidemie verdrängt darum schnell eine langfristige Bedrohung wie den Klimawandel aus dem Bewusstsein. Ein Wettbewerb darum, wo mehr Leid droht, ist unangemessen. Aber die noch junge Klimabewegung muss sich bemühen, trotz Covid-19 das Gefühl der Dringlichkeit für die Klimakrise zu bewahren.

Vielleicht ist der Begriff zu freundlich: „finite pool of worries“. Es ist ein Konzept aus der Psychologie, das man als „der begrenzte Vorrat an Sorgen“ übersetzen könnte. Karikaturisten haben sich unter „pool“ aber auch schon ein Wasserbecken ausgemalt, in dem zu wenig Platz ist. Der Begriff beschreibt nämlich den Umstand, dass Menschen nur eine kleine Zahl von Entwicklungen wirklich aufmerksam verfolgen und als Bedrohung auffassen können. Was nicht dazu gehört, läuft einfach so am Rande der Wahrnehmung mit. So ungefähr nach dem Wahlspruch der Scarlett O’Hara aus Gone with the wind: „I can’t worry about that today, I’ll worry about that tomorrow.“

Das kann zu bedeutenden Fehleinschätzungen führen. Für viele Menschen ist der Vorrat an Sorgen zum Beispiel mit Alltäglichem erschöpft: Was ist mit meinem Arbeitsplatz, warum ist Oma schon wieder gefallen, nehmen die Kinder Drogen, was ist mein Diesel noch wert, macht die neue Kollegin meinem Mann schöne Augen? Zugegeben, das sind lauter üble Klischees, aber sie sind nicht nur aus der Luft gegriffen.

Als ein Beleg mögen die Aussagen des 22-jährigen Clemens Traub dienen, der jüngst seine vermeintliche Enttäuschung mit der von ihm zunächst unterstützten FridaysForFuture-Bewegung in einem Buch ausgebreitet hat. Leute auf dem Land oder Menschen mit wenig Geld, sagt er in einem jetzt.de-Interview, könnten mit den Forderungen der jungen Demonstranten wenig anfangen und seien weder repräsentiert noch würden sie eingebunden. Es gipfelt in der Aussage: „In der Bewegung fehlt das Bewusstsein, dass das Klima-Thema etwas ist, mit dem sich nur Menschen beschäftigen können, die keine dringlicheren Sorgen haben.“ (Betonung hinzugefügt)

Keine Bedrohung war wichtiger als der Klimawandel

Das soll hier nicht bewertet werden, es geht nur darum, dass Abwägungen wie diese immer noch auch in sehr jungen Köpfen potenzieller Aktivisten stattfinden. Gegen solche oder ähnliche Konkurrenz hatte es der Klimawandel sehr lange sehr schwer. Er erschien zu weit weg, sowohl örtlich wie zeitlich. Aber seitdem Menschen ernsthaft von der Klimakrise oder vom Klimanotstand reden, hatte sich das eigentlich geändert.

Einige Zahlen:

  • Vor einem Jahr zeigte eine internationale Umfrage des Pew Research Center, dass zwei Drittel der Menschen in 26 Staaten die Klimakrise als wichtige Bedrohung betrachten. In der Hälfte davon war nichts anderes wichtiger, darunter Deutschland, Großbritannien, Schweden, Spanien, Kanada, Brasilien und Australien.
  • Fokussiert man auf Deutschland, ist das Bild etwas unklar. Das Institut Insa hatte für die Bild-Zeitung zum Jahresende 2019 nach den größten Sorgen gefragt, da bekam der Klimawandel mit 42 Prozent die meisten Nennungen. Praktisch ebenso viele Teilnehmer wählten das Thema im vergangenen Sommer bei der jährlichen Befragung der R+V-Versicherung aus einer Liste von 22 „Ängsten der Deutschen“ – aber damit kam die Klimakrise dort nicht einmal unter die Top 10, und gegenüber 2018 der Wert gesunken. Bei der zweijährlichen Umweltbewusstsein-Studie des Umweltbundesamts wiederum stimmten Ende 2018 etwas mehr als die Hälfte der Befragten „voll und ganz“ und ein weiteres Drittel „eher“ dieser Aussage zu: „Der Klimawandel bedroht auch unsere Lebensgrundlagen hier in Deutschland.“
  • In den USA stellten Ende 2019 die Besorgten bei der regelmäßigen Umfrage im Auftrag des Yale Center for Climate Change Communication zum ersten Mal deutlich die Mehrheit (die Kategorien „alarmed“ und „concerned“). Außerdem stieg die Klimapolitik in die Top Fünf der Gründe für eine Wahlentscheidung auf. (Links zu den Umfragen und anderen Quellen finden Sie wie immer unten.)

Doch nun gerät die Situation vermutlich wieder ins Rutschen: das wichtigste Thema der Nachrichten ist für viele zurzeit das neue Coronavirus. Zahlen dazu gibt es natürlich noch nicht, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass die Krankheit hoch oben auf der kurzen Liste der aktiven Sorgen einsteigt – und vermutlich gleich doppelt, weil es um die eigene Gesundheit und die möglichen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft geht. Mit der Klimakrise muss man wahrscheinlich niemandem kommen, der akute Angst vor einer Ansteckung oder um seinen Job hat.

Vier Kriterien für die hektische Suche nach Lösungen

Interessant ist in dem Zusammenhang auch ein Konzept, das der Psychologe Daniel Gilbert von der Harvard University entworfen hat. Wenn man sich fragt, welche Probleme Menschen wirklich berühren, wie sie Bedrohungen beurteilen und wann sie darauf reagieren, soll man an das Wort „pain“ denken. Oder genauer PAIN, in Großbuchstaben als Abkürzung. Dann steht es für „personal, abrupt, immoral, now“ – im Deutschen könnte man es so übersetzten: persönlich, unmoralisch, schlagartig, heute, also PUSH. Oder PAUA: persönlich, anstößig, unvermittelt, aktuell.

Jedenfalls sind in der Regel alle vier Kriterien erfüllt, wenn Leute sich richtig aufregen und hektisch nach Lösungen oder Auswegen suchen: Die Bedrohung sollte dem Menschen selbst oder jemandem gelten, die oder der wichtig ist, jetzt gerade plötzlich und überraschend aufgetreten sein. Wenn es einen verwerflich handelnden Schuldigen gibt, steigert das die Sorge noch erheblich. Das tatsächliche Schadenspotenzial spielt ausdrücklich keine Rolle.

Gehen wir es mal in Gedanken durch: die klischeehaften bärtigen islamistischen Terroristen erfüllen jedes der Kriterien, Geflüchtete je nach Weltanschauung und Vorkenntnissen alle vier oder höchstens eines. Der Eisbär als Symbol des Klimawandels hat keine der notwendigen Eigenschaften. Die Klimakrise in Gestalt der Hitzewelle und der Waldbrände von 2018 und 2019 bekam in den beiden Sommern mindestens drei Häkchen. Und ein vierter ergibt sich aus der Überlegung, dass Lobbyisten und Leugner aus egoistischen Motiven für die verschleppte Reaktion auf die Klimakrise mitverantwortlich sind.

Folgen des Coronavirus, sichtbar aus dem All: Der Sentinel-Satellit hat in den ersten drei Wochen im Januar (links) und zwei Wochen Mitte Februar 2020 (rechts) die Konzentration von Stickstoff-Dioxid in der Luft über China gemessen. Der Luftschadstoff stammt aus Verkehrs- und bei Industrieabgasen. Über den Region Beijing im Norden, Shanghai im Osten, Hongkong im Süden sowie über Wuhan und Chongqing sind die gelb-orange-braunen Flecken verschwunden.
Folgen des Coronavirus, sichtbar aus dem All: Der Sentinel-Satellit hat in den ersten drei Wochen im Januar (links) und zwei Wochen Mitte Februar 2020 (rechts) die Konzentration von Stickstoff-Dioxid in der Luft über China gemessen. Der Luftschadstoff stammt aus Verkehrs- und bei Industrieabgasen.

Aber inzwischen haben wir eine Art Winter-Frühling, das dämpft die Sorge, auch wenn gerade gemeldet wurde, dass es dieses Jahr zum ersten Mal überhaupt überall in Deutschland zu warm für Eiswein war. Gleichzeitig überbietet das Coronavirus gerade praktisch alles andere bei mindestens drei der vier Bedingungen. Und es ist interessant und besorgniserregend, wie manche versuchen, auch in dieser Situation Schuldige zu finden, in Gestalt überforderter Behörden, vermeintlich verantwortungsloser Infizierter, die sich nicht sofort selbst in Quarantäne nehmen, oder Hamsterkäufer.

Ob diese Bedingungen erfüllt sind, wird im Übrigen nicht nur mit Ja oder Nein beantwortet. Wie persönlich jemand etwa eine Gefahr nimmt, was aktuell und überraschend erscheint, ist immer eine subjektive und steigerbare Größe. Es muss sich darum auch niemand wundern, dass alle Welt den Coronavirus für aktuell gefährlicher hält als die Klimakrise – und warum Menschen in der aktuellen Situation zu Einschränkungen in ihrem Leben bereit zu sein scheinen, die für den Schutz des Klimas Ablehnung und erbitterte Diskussionen auslösen würden.

Was passiert im Verkehr und beim Warmwasser?

Es gibt natürlich weiterhin viele Menschen, die über das Klima sprechen oder twittern, und nicht über das Virus. FridaysForFuture wird sich nicht plötzlich auflösen, dort bereitet man den nächsten Klimastreik für den 24. April vor, einen Tag vor dem außerplanmäßigen CDU-Parteitag. Doch wer weiß im Moment schon, ob die Versammlung vieler Menschen in acht Wochen noch als gute Idee gelten wird.

Wenn man um die psychologischen Mechanismen weiß, dann kann man sich zumindest darauf einstellen, dass die Kommunikation der Klimakrise in der näheren Zukunft vielleicht wieder etwas schwieriger und zäher wird. Sie bleibt aber natürlich genauso nötig wie vor Auftreten der Krankheit Covid-19.

Immerhin kann man – mit der gebotenen Rücksicht auf die Sorgen anderer Menschen – auch schon direkte Verbindungen herstellen. Das beginnt zum Beispiel mit der Frage, wie viele Menschen ihre Kinder jetzt wieder mit dem Auto zur Schule fahren oder sich selbst zur Arbeit, weil sie eine mögliche Ansteckung in Bussen und Bahnen vermeiden wollen. Und wie lange jetzt in vielen Häusern warmes Wasser ungenutzt in den Ausguss läuft, während sich Menschen zweimal-Happy-Birthday-lang die Hände einseifen.

Auf der globalen Skala zeigt der Blick aus dem All die Veränderung in China, berichtet jetzt die Nasa. Der Sentinel-Satellit hat von oben den Gehalt der Luft an Stickstoff-Dioxid gemessen; der Schadstoff entsteht bei der Verbrennung von fossilen Energieträgern und wird mit Verkehrs- und Industrieabgasen frei: Im Januar lagen die Industriezentren im Norden bei Beijing, rund um Shanghai, Hongkong und Wuhan noch unter dickem Dunst, im Februar waren die Glocken praktisch weg.

Viele Fabriken hatten oder haben ja den Betrieb eingestellt, die Arbeiter durften nicht aus der üblichen Pause zum chinesischen Neujahrsfest zurückkommen. Lauri Myllyvirta, Analyst am Center for Research on Energy and Clean Air, berichtet bei Carbon Brief, was dieser wirtschaftliche Rückgang für die klimarelevanten Emissionen bedeutet.

Die globalen Emissionen sind um 10 Prozent gesunken

Zum einen ist der Verbrauch von Kohle in China auf einen Vier-Jahre-Tiefstand gefallen; bei der Herstellung von Ölprodukten in Raffinerien und von Stahl wurden ähnliche Mengen wie jetzt zuletzt 2015 gemessen. Der Rückgang macht 15 bis 40 Prozent aus, so die Berechnung.

Zum anderen ist der Flugverkehr in, von und nach China zurückgegangen – 70 Prozent der Inlandsfüge fallen aus und sogar bis zu 90 Prozent der internationalen Verbindungen. (Die New York Times hat dazu in ihrem Klima-Newsletter „Climate Fwd“ einen eigenen Artikel verlinkt, der die ausgefallenen Flugbewegungen grafisch illustriert.)

Insgesamt, stellt Myllyvirta fest, seien die Emissionen Chinas um mindestens 25 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum in früheren Jahren gesunken. Umgerechnet auf die ganze Welt macht das etwa ein Zehntel aus. Allerdings habe das Land große Überkapazitäten, könne die Produktionsausfälle also später aufholen, wenn die Nachfrage wieder erwacht – und damit auch den Rückgang der Emissionen ausgleichen. Je länger die Coronavirus-Krise dauert, desto mehr werden jedoch auch Industriebetriebe in anderen Ländern betroffen sein. In Japan hat bereits ein Anbieter von Kreuzfahrten Insolvenz angemeldet.

In seinen Tweets beschreibt Myllyvirta auch das gedankliche Dilemma, das solche Überlegungen bringen. Weil wir alle diese Mechanismen zur Beurteilung von Bedrohungen eingebaut haben, möchte man die Sorgen und das Leid von niemand anderem gering schätzen – und trotzdem sein eigenes, wichtiges Anliegen vorbringen.

Lauri Myllyvirta hat es so ausgedrückt: „I'm painfully aware of the human toll of the virus response, with millions losing income, stranded not able to travel, access health care etc etc. Still, imagine if we adopted solutions like remote working and built clean energy with the same sense of urgency. Do note though that the people suffering the impacts of the response […] never had a say.“

Ähnlich hat sich Daniela Becker aus dem KlimaSocial-Team geäußert, als sie eine Meldung über chinesische Autozulieferer kommentierte, die jetzt auf die Produktion von Atemschutzmasken umstellen. Sie ahne ja, welche menschlichen Dramen dahinter stehen, „aber es zeigt auch wie schnell sich Industrie umstellt, wenn sie muss“.

Es geht dabei überhaupt nicht darum, Leid aufzuwägen, sondern das Gefühl von Dringlichkeit auch für die Klimakrise zu bewahren. Und bei deren Lösung möglichst die Beteiligten und Betroffenen mitzunehmen.

Notiz an die Zukunft: Denken wir über Wirtschaft nach

Es ist ja nicht zu bestreiten, dass sich in der aktuellen Krise viele Nachteile der Globalisierung im Turbo-Kapitalismus deutlich zeigen. Es sind bereits an vielen Stellen Lieferketten für Produkte unterbrochen, was auch Menschen weit weg vom Ursprung des Virus in China betrifft.

Über ein bedenkliches Beispiel berichtete der Weltspiegel in der ARD vor wenigen Tagen: Einer Fabrik für die Produktion von Antibiotika in Indien gehen langsam die Grundstoffe aus, weil sie normalerweise aus China geliefert werden. Das betrifft dann nicht nur die Menschen in Südasien, sondern auch in den Industrieländern, weil sich Pharma-Firmen in Europa weitgehend aus dem Geschäft zurück gezogen haben. Die indische Regierung, hieß es, erwäge bereits Export-Restriktionen der Arzneimittel.

Die Mechanismen der Globalisierung, die für uns jetzt zum Nachteil werden, sind natürlich nicht deckungsgleich mit der Rolle, die der Kapitalismus in der Klimakrise spielt. Aber es kann auch niemand behaupten, beides habe nichts miteinander zu tun. Wenn es nach der Epidemie ans gedankliche Aufräumen geht, sollten wir uns und andere daher an dies erinnern: Reformen der Wirtschaftsordnung können vielerlei menschliche Krisen entschärfen, nicht zuletzt die existentielle Krise rund um den Klimawandel. ◀

[Anmerkung: Dieser Beitrag beruht auf einer Ausgabe des wöchentlichen Briefings KlimaSocialPlus.]

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