„Keine kerntechnische Anlage der Welt ist explizit gegen kriegerische Angriffe ausgelegt“

Nach dem Russland zugeschriebenen Angriff auf das havarierte Kernkraftwerk Tschernobyl sehen deutsche Strahlenschutzexperten weiter keine Gefahr erhöhter Radioaktivität. Dem Bundesamt für Strahlenschutz zufolge sind die Brände an der neuen Schutzhülle aber noch immer nicht ganz gelöscht

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Große Halle mit Loch in der Decke und Arbeitern, die auf dem Dach stehen.

Nach dem Russland zugeschriebenen Beschuss des 1986 havarierten Kernkraftwerks Tschernobyl am vergangenen Freitag gibt es nach Angaben aus dem Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) an der Hülle weiter Feuer, die Gefahr eines Austritts radioaktiver Stoffe bestehe jedoch nicht. „Entgegen früherer Meldungen ist der Brand noch nicht vollständig gelöscht, vielmehr treten in gewissen Abständen immer wieder Brände auf“, erklärte Florian Gering, Leiter der Abteilung Radiologischer Notfallschutz im BfS, auf Anfrage. Es sehe derzeit aber so aus, als ob der Brand sich lediglich auf die Hülle selbst beschränke: „Solange dies der Fall ist, ist auch nicht mit einer Aufwirbelung von kontaminiertem Staub im Inneren der neuen Sicherheitshülle und damit auch nicht mit einer Freisetzung von Radioaktivität zu rechnen.“

Die neue Sicherheitshülle war an der nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw gelegenen Anlage nach sechsjähriger Bauzeit 2016 in Betrieb genommen worden. Sie hat die Aufgabe, den sogenannten Sarkophag mit dem geschmolzenen Reaktorkern von der Außenwelt abzuschirmen. Nach Angaben der ukrainischen Regierung schlug am vergangenen Freitag in den frühen Morgenstunden eine russische Drohne dort ein und riss ein Loch in die Umhüllung. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky sprach von einer „terroristischen Bedrohung für die ganze Welt.“ Dagegen wies Kreml-Sprecher Dmitri Peskow – wie üblich – eine russische Verantwortung zurück.

Keine Anzeichen für aufgewirbelten radioaktiven Staub im Inneren

Die Bundesregierung hat den Angriff auf die Atomanlage scharf verurteilt, aber der Bevölkerung versichert, dass keine erhöhten Strahlenwerte gemessen worden seien und keine akute Gefahr drohe. Die Situation in der Ukraine erfülle sie „auch im Hinblick auf die nukleare Sicherheit mit großer Sorge, denn Atomkraftwerke und nukleare Anlagen sind zu Kriegszielen geworden“, teilte Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) noch am Freitag mit.

Entgegen anfänglichen Angaben, dass der Brand gelöscht sei, spricht das in Salzgitter ansässige Bundesamt für Strahlenschutz nun davon, dass Feuer fortbestehen und die Löscharbeiten noch nicht abgeschlossen seien. Dies betreffe aber nur die rund 100 Meter hohe Schutzhülle namens „New Safe Confinement“ (NSC) selbst, nicht das Innere. „Zu einer Freisetzung von Radioaktivität aus dem beschädigten NSC kann es nur kommen, wenn im Inneren des NSC aufgrund zum Beispiel eines starken Feuers dort immer noch vorhandener radioaktiv kontaminierte Staub aufgewirbelt werden würde“, teilte Strahlenschutzexperte Gering mit. „Für eine derartige Aufwirbelung oder ein großes Feuer im Inneren des NSC sehen wir keine Anzeichen, daher ist derzeit auch nicht mit einer Freisetzung von Radioaktivität zu rechnen.“

Expertin: „Selbstverständlich gibt es Kriegswaffen, die verheerende Zerstörungen verursachen können“

Das BfS überprüfe täglich etwa 500 bis 600 Strahlen-Messwerte in der gesamten Ukraine und verzeichne bei der Auswertung von vor Ort „keine im Vergleich zum Vortag erhöhten Messwerte“. Der alte, unter der neuen Schutzhülle liegende Sarkophag biete weiterhin einen gewissen Schutz vor Strahlung aus dem Reaktor. „Schon bevor es die neue Hülle gab, konnte man sich dem Reaktor nähern, ohne dass man eine bedrohlich hohe Strahlendosis abbekommen hätte“, erklärte Gering.

Florence-Nathalie Sentuc, technisch-wissenschaftliche Geschäftsführerin der Gesellschaft für Anlagenbau und Reaktorsicherheit (GRS) mit Sitz in Köln, erklärte auf Anfrage, das „der absolut überwiegende Teil der Radioaktivität sich im Inneren des havarierten Reaktorblocks befindet, der seinerseits von dem alten Sarkophag umgeben ist.“ Dass ein solcher Treffer an der neuen Schutzhülle wohl nicht zu einer radiologisch relevanten Freisetzung von radioaktiven Stoffen geführt habe, überrasche sie daher nicht. Sie gehe derzeit nicht davon aus, dass es im Weiteren noch zu einem signifikanten Anstieg der Messwerte komme.

Sentuc warnte, keine kerntechnische Anlage der Welt sei explizit gegen kriegerische Angriffe ausgelegt: „Das gilt auch für Tschernobyl, und selbstverständlich gibt es Kriegswaffen, die verheerende Zerstörungen verursachen können.“ In so einem Fall seien unter ungünstigen Umständen auch größere Freisetzungen in die nähere Umgebung denkbar.

BfS-Experte Gering betonte, dass die neue Schutzhülle in Tschernobyl nie als Schutz vor kriegerischen Einwirkungen gedacht gewesen sei und daher nicht oder nur eingeschränkt vor Schäden durch Beschuss oder Explosionen schützen könne. „Das NSC soll den havarierten Reaktor vor Umwelteinflüssen schützen und verhindern, dass es zu einem Austritt von Radioaktivität aus dem Inneren des NSC in die Umwelt kommen kann“, erklärte er. Um diesen Schutz wiederherzustellen, müsse die innere und äußere Hülle des NSC repariert werden.

Bei der Havarie des Kernkraftwerks von Tschernobyl waren 1986 große Mengen Radioaktivität freigesetzt und in weiten Teilen Europas verteilt worden. Noch heute sind deshalb auch in Deutschland Böden, Pilze und Wildtiere mit radioaktiven Substanzen belastet.

Die Ukraine gehört mit einem Anteil von rund 50 Prozent mit Frankreich weltweit zur Spitzengruppe bei der Nutzung der Kernkraft. Allerdings mussten die Reaktoren in Europas größtem Kernkraftwerk Saporischschja wegen der Kriegsgefahr bereits im September 2022 abgeschaltet werden. Seither kühlen sie ab. Bereits Ende 2023 kam BfS-Experte Gering zu der Einschätzung, dass mit dem Abschalten eine grundlegend neue Situation entstanden sei. „Dadurch hat die Gefährdung der Menschen in der Ukraine, aber auch das Gefährdungspotenzial für Deutschland deutlich abgenommen“, sagte er. Im aktiven Betrieb blieben „vielleicht nur zwei Stunden, um eine Kernschmelze abzuwenden“, jetzt stünde dagegen im Ernstfall mehr als eine Woche zur Verfügung, um angemessen zu reagieren.

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