„Das Gesetz lässt den Wald im Stich“: Ökologe Pierre Ibisch über Pläne von Cem Özdemir für den Wald
Die Ampel-Koalition wollte das veraltete Waldgesetz reformieren, um Deutschlands größtes Ökosystem gegen Klimawandel und Biodiversitätskrise zu stärken. Doch der Entwurf von Minister Cem Özdemir verpasst diese Gelegenheit, kritisiert Waldexperte Pierre Ibisch im Interview.
Die Ampel-Koalition hat sich vorgenommen, das veraltete Waldgesetz zu reformieren. Das bis heute gültige Gesetz aus den 1970er Jahren sieht im Wald wenig mehr als einen Holzlieferanten. Nun sollte es fit gemacht werden, um den Wald in Zeiten von Klimawandel und Artensterben als Ökosystem zu schützen, das überlebenswichtig für Mensch und Natur ist. Zuständig für die Reform ist Landwirtschaftsminister Cem Özdemir. Auf Druck der Forstlobby hat er einen ersten Entwurf stark abgeschwächt und dieser Tage eine neue Vorlage in die Abstimmung mit den anderen Ministerien gebracht. Der neue Gesetzentwurf enttäuscht Klima- und Naturschützer ebenso wie Expertinnen und Experten. Wir sprachen mit Pierre Ibisch über den Entwurf und die Frage, ob sich damit Klima- und Biodiversitätsziele der Regierung erreichen lassen.
Herr Ibisch, macht Cem Özdemir mit seinem Entwurf für das neue Waldgesetz den Aufschlag, der nötig ist, um die ökologische Krise im Wald zu bewältigen?
Die kurze Antwort lautet Nein. Das Gesetz bleibt ganz weit hinter den Erwartungen zurück und hinter dem, was an Weichenstellung nötig wäre, um die Wälder nachhaltig aus der Krise zu bringen. Es ist leider ein unrühmliches Beispiel für ein Gesetz, das, noch bevor es überhaupt den Bundestag erreicht, von Lobbyinteressen derartig aufgeweicht wird, dass darin nicht das geregelt wird, was dringend geregelt werden müsste.
Was müsste aus Sicht des Waldökologen dringend geregelt werden?
Wir stecken in einer Krise, in der der Klimawandel auf ein Ökosystem trifft, das durch eine lange Vornutzung schon massiv geschädigt und geschwächt ist. Zerstückelung, ein Waldbau, der auf vorwiegend auf Baumarten setzt, die vom Markt stark nachgefragt werden, Schadstoffe, Stickstoff und neuerdings noch Mikroplastik: Diese Belastungen bleiben nicht ohne Folgen und haben den Wald an den Rand seiner Leistungsfähigkeit gebracht. Jetzt wird das Ökosystem zusätzlich durch den Klimawandel extrem gefordert und stellenweise überfordert. Daraus kann es nur eine Konsequenz geben: Es ist höchste Zeit, dem Wald eine Erholungspause zu gönnen und Maßnahmen einzuleiten, um seinen Stress zu verringern.
Pause klingt gut. Aber der Wald bei uns ist nun mal vor allem ein wirtschaftlich genutzter Wald. Da muss es doch Kompromisse geben zwischen Waldnutzung und der Stärkung der Resilienz …
Einspruch! Was sein muss im Wald und was zu viel ist, das entscheidet die Natur, das entscheidet das Ökosystem. Wenn das Ökosystem richtig krank ist, dann wird es zusammenbrechen und dann gibt es gar keine Nutzung mehr. Das ist einerseits trivial. Zugleich will es aber kaum jemand wahrhaben. Die Konsequenz ist: Wir müssen erst einmal dafür sorgen, dass das Ökosystem funktioniert in all seinen Komponenten, in all seinen Interaktionen und Prozessen, bevor wir über die weitere Nutzung sprechen. Sonst verlieren wir beides – die Natur und ihre Früchte für uns.
Dann klopfen wir den Gesetzentwurf einmal auf seine einzelnen Punkte ab: Was ist gut?
Positiv ist, dass schon im Namen und den allgemeinen Grundsätzen ein deutlicher Paradigmenwechsel vollzogen wird. Nämlich, dass der Schutz und die Erhaltung des Waldes und seiner Ökosystemleistungen ausdrücklich als Ziel benannt werden. Erstmals wird betont, dass der Wald nicht allein dazu da ist, Holz zu produzieren. Die Holzproduktion steht an zweiter Stelle, Platz 1 ist in der Zielsetzung der Klimaschutz, die Anpassung an den Klimawandel und die Kühlung der Landschaft. Mit Blick auf die Bedeutung von Ökosystemleistungen ist das Gesetz auf dem Stand der Wissenschaft. Das ist ein Fortschritt und kann helfen, Raum für einen Diskurs zu schaffen.
Wie wird diese neue Philosophie im Gesetz, das bislang auch „Gesetz zur Förderung der Forstwirtschaft“ heißt, umgesetzt?
Leider so gut wie gar nicht. Das ist die größte Schwachstelle des Entwurfs. Die guten Ziele werden praktisch überhaupt nicht mit konkreten Bestimmungen unterfüttert. Es gibt sehr wenige Regelungen, mit denen Bürgerinnen und Bürger oder Naturschutzverbände irgendwann vor ein Gericht ziehen könnten. Die wenigen Vorgaben, die es gibt, sind auch noch gegenüber dem vorherigen Entwurf stark aufgeweicht worden. Bleibt es bei diesem Gesetz, brauchen Sie erst überhaupt nicht zum Anwalt zu gehen.
Können Sie weitere Beispiele für gute Ziele, die nicht durch konkrete Maßnahmen unterfüttert werden?
Nehmen wir den Schutz des Waldbodens. Die überragende Bedeutung des Waldbodens für das Funktionieren des Ökosystems ist erkannt und wird gewürdigt, aber es folgt nichts daraus. Vorschriften wie „Der Waldboden ist so weit wie möglich zu schonen“, sind völlig wertlos, wenn dazu konkrete Vorgaben, Beschränkungen und Sanktionen fehlen.
Nach dem Gesetzentwurf kann fast die Hälfte eines Waldes mit nicht-heimischen Baumarten bepflanzt werden. Bäume sollen vor allem standortgerecht sein. Hilft das bei der Anpassung an den Klimawandel?
Dahinter steht eine Haltung, dass der Wald sozusagen zu doof ist, mit dem Wandel zurechtzukommen. Wir holen stattdessen lieber andere Bäume von überall her. Dabei wissen wir überhaupt nicht, was eine standortangepasste Eigenschaft sein soll in einem Klima, das sich beständig wandelt, und zwar in einer Art und Weise, die wir selbst im Detail nicht seriös voraussehen können. Ich habe es in der Realität schon erlebt, dass diese Art von Waldumbau die Problematik verschärft und den Niedergang von Waldökosystemen beschleunigen kann, statt ihn zu stoppen. Ich fürchte, dass diese „Gastbaumarten“ und wie sie heute nicht noch genannt werden, nicht zünden werden.
Also Vorfahrt für einheimische Baumarten?
Bei allem Hype um irgendwelche Zukunftsbäume wird mir viel zu wenig auf die anderen Bestandteile des Ökosystems Wald geachtet, mit deren Schutz wir uns zumindest ein bisschen Zeit kaufen können. Das Mikroklima zu schützen, dafür zu sorgen, dass der Boden durchlüftet und nicht zu sehr verdichtet wird, dass es dort Mykorrhiza und Mikroben gut geht, und dass Wasser gehalten wird – unter anderem mit mehr Laubstreu, Humus und Totholz– ist viel wichtiger als eine Diskussion über immer neue Wunderbaumarten. Es geht darum, durch ein möglichst starkes Ökosystem zu versuchen, die extremen Auswirkungen des Klimawandels möglichst noch aus dem Wald rauszuhalten. Wenn das gelingt, werden wir sehen, dass mit heimischen Baumarten noch einiges geht. Das sehen wir schon dort, wo ein bisschen mehr Wildheit zugelassen wird. Es gibt keine Garantie, aber intakte heimische Ökosysteme sind unsere beste Wette.
Viele der Regelungen sind gegenüber der ersten Fassung des Entwurfs abgeschwächt. So war dort vorgesehen, Maschinenschneisen für Harvester, die sogenannten Rückegassen, auf höchstens 10 % der Waldfläche anlegen zu dürfen. Dies hätte einen Abstand zwischen den Schneisen von 40 Metern bedeutet. Diese Regel entfällt nun ersatzlos. Wie bewerten Sie das?
Rückegassen sind der Ausdruck eines Konzepts, das darauf abzielt, den Wald für die maschinelle Bearbeitung herzurichten. 40 Meter Abstand wären vielleicht immer noch nicht ausreichend gewesen, aber wenigstens ein Ansatzpunkt. Derzeit werden Gassen regelmäßig im Abstand von 20 Metern in den Wald geschlagen. Wenn sie dann noch mehrere Meter breit sind, sind wir schnell bei 20 oder 25 Prozent des Waldes ohne Bäume.
Was ist so schädlich an den Rückengassen?
Diese Schneisen beeinträchtigen das Mikroklima im Wald, sie reduzieren die Fläche, auf der Bäume überhaupt wachsen können, und sie beschädigen den Boden nachhaltig durch Verdichtung. Das wiederum bedeutet eine reduzierte Wasserspeicherfähigkeit und eine schlechtere Sauerstoffversorgung von Baumwurzeln. Eine schlechte Durchwurzelung des Bodens ist die Folge. Ebenso werden die extrem bedeutenden Geflechte der Mykorrhiza zerschnitten. Kurz: das ganze Ökosystem wird massiv gestört. Auch hier bleibt das Gesetz weit hinter dem Stand der Wissenschaft und den Anforderungen an ein zeitgemäßes Gesetz zurück.
Ein besonders umstrittener Punkt sind Kahlschläge, also das komplette Abholzen von Wald auf großer Fläche. Bisher ist das im Bundesgesetz ungeregelt. Özdemir will Kahlschläge von einer Größe bis zu einem Hektar ohne Genehmigung weiter erlauben. Ist das nicht ein Fortschritt?
Nein. Kahlschläge sind in vielfacher Weise verheerend. Hier hätten wir eine totale Abkehr haben müssen, unter allen Umständen. Auch Kahlschläge von einem Hektar in den verbliebenen einigermaßen stabilen Wäldern sind zu viel. Und die Praxis zeigt, dass die Genehmigung für noch größere Abholzungen in aller Regel erteilt wird. Und selbst wenn nicht: eine Bußgeldandrohung schreckt nicht ab.
Was ist so schlimm daran, ganze Flächen abzuräumen?
Das Leerräumen von Waldböden setzt auch im großen Stil Treibhausgase frei, schädigt die Böden samt den für das Ökosystem existenziell wichtigen Mikrobioms dauerhaft und beeinträchtigt den Wasserhaushalt auf großer Fläche. Wir zerstören damit nicht nur den Wald selbst, sondern auch seine wichtigen Funktionen für die Umwelt und den Menschen. Damit erhöht sich auch das Risiko für Leib und Leben von Menschen stark – zum Beispiel durch Überflutungen, aber auch durch Hitze. Deshalb halte ich diese Form der Bewirtschaftung für unverantwortlich, ja sogar für kriminell. Die katastrophalen Wirkungen von Kahlschlägen sind im Gesetz komplett unter den Tisch gefallen. Das macht sehr betroffen.
Würden Sie Kahlschläge auch auf den sogenannten Kalamitätsflächen komplett verbieten wollen, also Flächen, auf denen Hitze, Stürme und Borkenkäfer bereits Bäume im großen Maßstab getötet haben?
Das wäre die Maximalforderung. Kompromisse sind aber denkbar, indem nur ein Teil des Holzes abgeräumt und genutzt wird und Inseln oder Säume toter Bäume stehen bleiben. Wenn wir alles wegnehmen, berauben wir den Wald seiner eigenen Mittel, sich zu erholen. Wir nehmen ihm Schatten, Feuchtigkeit, Nährstoffzufuhr, die Fähigkeit, Wasser zurückzuhalten, Verbissschutz und vieles mehr. Die Forstwirtschaft schneidet sich mit mit Kahlschlägen ins eigene Fleisch.
Wir brauchen den Wald auch, um das Ziel erreichen zu können, bis 2045 klimaneutral zu werden. Gemeinsam mit wiedervernässten Mooren sollen Wälder bis 2030 die Emissionen aus der Landnutzung ausgleichen und zusätzlich 25 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr einlagern. Schafft der Wald das mit diesem Gesetz?
Das sieht nicht gut aus. Es ist völlig illusorisch, auf der einen Seite den Wald als Klimaschützer haben zu wollen, ihn gleichzeitig aber noch intensiver zu nutzen und große Flächen kahlzuschlagen. Aus neueren Daten wissen wir, dass in einigen Regionen Wälder in den vergangenen Jahren schon zu Emittenten von Treibhausgasen geworden sind. Es kann sein, dass wir da ein ganz böses Erwachen erleben, wenn im Herbst die Daten der Bundeswaldinventur vorgelegt werden.
Auch für das Erreichen internationaler Naturschutzziele braucht es eine Ökowende im Wald. Deutschland hat sich im Weltnaturabkommen verpflichtet, auf 30 Prozent einen effektiven Biodiversitätsschutz zu garantieren. Das gerade verabschiedete EU-Renaturierungsgesetz sieht sogar aktive Maßnahmen zur Wiederherstellung der Natur auf einem Fünftel der Fläche bis 2030 vor. Leistet der Entwurf dazu einen ausreichenden Beitrag?
Leider muss ich auch darauf mit einem Nein antworten. Das Gesetz ist in dieser Form einfach nicht geeignet, wirklich maßgebliche Verbesserungen zu erwirken. Nicht für das Klima und nicht für die Biodiversität. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Artenvielfalt zum Beispiel bei Insekten im Wald abnimmt, selbst in naturnäheren Wäldern. Wir können nicht erwarten, dass alle negativen Faktoren, über die wir gesprochen haben, keine Wirkung auf das Ökosystem haben: intensive Nutzung, Einträge von toxischen Stoffen, die Erwärmung – das alles spielt auf eine ungünstige Weise zusammen. Wenn wir diesen Prozess auch nur anhalten wollen, bräuchten wir einen deutlich beherzteren Ansatz zum Schutz und zur Schonung für dieses Ökosystem als wir ihn mit Özdemirs Entwurf haben.
Am Anfang unseres Gespräches nannten Sie diesen Gesetzentwurf ein Beispiel dafür, wie Lobbyeinfluss wirksame Gesetze schon vor der Behandlung im Bundestag verhindert. Ist Landwirtschaftsminister Cem Özdemir vor der Waldlobby eingeknickt?
Das sehe ich so. Die Waldeigentümerverbände haben mit ihrer einseitigen Lobbyarbeit zugunsten der forstwirtschaftlichen Interessen enormen Schaden angerichtet. Und der grüne Minister hat in diesem Fall einfach nicht gekämpft.
Als Fazit: Welche Schulnote geben sie dem Gesetzentwurf?
Nicht bestanden.
Und als Zensur?
Das Gesetz hat angemessenere Zielbeschreibungen und Grundsätze als noch in der Fassung von 1975. Diesen Fortschritt reißt es aber wieder ein, weil es die Ziele einfach nicht mit Vorgaben untersetzt. Es gibt so gut wie keine Sanktionen oder Mindestanforderungen an die Waldbewirtschaftung. Dieser Entwurf ist der Prototyp eines kontraproduktiven Gesetzes, weil es nicht einklagbar ist und die Ökosysteme in einer kritischen Phase im Stich lässt. Also gebe ich ihm eine Fünf minus.