Destination Andalusien: Wie junge Waldrappe trainieren, Zugvögel zu sein

Die Wiederansiedlung der Waldrappe in Europa ist eines der aufwendigsten Artenschutzprojekte. Die Zugvögel werden mithilfe von Ultraleichtfliegern in ihr Überwinterungsgebiet geführt

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter: Markus Hofmann
9 Minuten
Waldrappe im Formationsflug.

Einen Monat Trainingszeit bleibt noch. Dann müssen die 35 jungen Waldrappe von Süddeutschland nach Südspanien fliegen – eine Strecke von 2300 Kilometern. Den Weg dahin kennen sie nicht, denn ihre Eltern sind die Strecke auch noch nie geflogen.

Die Aufgabe, die Jungvögel zu trainieren, übernehmen ihre menschlichen Ziehmütter, Helena Wehner und Barbara Steininger. Anfang Juli sitzen sie um acht Uhr morgens in einem blauen Zelt beim Flugplatz Binningen an einem Tisch. In der Nähe von Singen leben sie hier in Wohnwagen und Zelten, zusammen mit Camp-Leiterin Laura Pahnke, Praktikantin Gina Gerecke sowie Hund Bonny.

Die beiden Waldrapp-Ersatzmütter sind an ihren gelben Shirts zu erkennen. Auf diese Farbe sind die schwarzgefiederten Vögel mit dem von Schopffedern geschmückten nackten Kopf und dem langen gebogenen Schnabel ein paar Tage nach dem Schlüpfen geprägt worden. Die Farbwahl hat keine modischen Gründe. Das leuchtende Gelb ist von weitem zu sehen. Ein Vorteil, der sich heute noch auszahlen wird.

Vorsichtige und eigenwillige Jungwaldrappe

Auf dem Tisch vor den vier jungen Frauen: frisch gebrühter Kaffee, Erdbeeren, Konfitüre, Brot, Mineralwasser, Ferngläser, Funkgeräte und Fotoapparate. Eine Lichterkette unter dem Zeltdach verströmt etwas Wohnlichkeit. In Kürze soll das nächste Flugtraining beginnen, eins von dreien, die pro Woche stattfinden.

Heute steht auf dem Trainingsplan: „Auf eine unbekannte Wiese fliegen und dabei Strukturen wie zum Beispiel eine Strasse oder ein Waldstück überwinden“, sagt die Ziehmutter Helena Wehner, die bereits seit 2017 mitarbeitet und vor vier Jahren zum ersten Mal Waldrappe aufzog. Über 100 Jungvögel hat Helena Wehner schon beim Grosswerden begleitet.

Die Übung, eine Wiese anzufliegen, klingt einfach. Schliesslich sind die Waldrappe bereits drei Monate alt, gut genährt, gesund und seit Ende Mai flügge. Doch sie haben nicht nur ihren je eigenen Kopf, sie sind auch sehr vorsichtig. In ihrem zarten Alter folgen sie ihren Ziehmüttern auf Schritt und Tritt.

Doch neuerdings setzen sich die Ziehmütter auf der Graspiste in ein Ultraleichtflugzeug und fliegen davon in der Hoffnung, dass ihnen die Waldrappe folgen. Denn auf diese Art werden die Vögel im August auf ihre 30– bis 40-tägige Reise von Baden-Württemberg nach Andalusien geführt, je nach Wetterbedingungen pro Etappe bis zu 300 Kilometer und fünf bis sechs Stunden Flug.

Wohnwagen und Zelte des Waldrappteams in der Nähe von Binningen.
Gleich beim Flugplatz Binningen leben Mitglieder des Waldrappteams während des Flugtrainings in einem Camp.

Heute gesellt sich Walter Holzmüller zur Frühstücksrunde im Zelt. Er lebt für die Zeit der Flugtrainings ebenfalls hier in einem Wohnwagen. Er ist nicht nur Pilot des Ultraleichtfliegers, einem sogenannten Paraplane, sondern auch Chefmechaniker.

Das Fluggerät hat er dem Waldrapp-Verhalten angepasst und sie auf deren Geschwindigkeit eingestellt: maximal 46 km/h. Es soll den Tieren weder davon- noch hinterherfliegen. Auch ist der Propeller durch einen Käfig und ein Netz geschützt, damit es zu keinen gefährlichen Kollisionen kommt. Der Blick auf den Wetterradar im Mobiltelefon verrät ihm: Sonnenschein mit ein paar Wolken, kaum Wind. Gutes Flugwetter für alle Beteiligten.

Glück im Gewitter

Vor ein paar Tagen sah dies anders aus. Während des Flugtrainings zog überraschend rasch ein heftiges Gewitter auf. Das Fluggerät konnte noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. Doch die Waldrappe schafften es nicht mehr zurück in die Voliere. Geistesgegenwärtig rief Ziehmutter Helena Wehner, die zu diesem Zeitpunkt allein mit den Waldrappen auf dem Flugfeld war, die Vögel zu sich. Diese scharten sich eng aneinander geschmiegt in ihrem Windschatten und liessen den Sturm über sich hinwegziehen. Alle blieben unverletzt.

Rasch werden die Aufgaben verteilt. Ziehmutter Helena Wehner wird mit dem Piloten Walter Holzmüller ins Fluggerät steigen und den Waldrappen vorausfliegen. Barbara Steininger wird zusammen mit Camp-Chefin Laura an den Zielort fahren, um den Trupp dort in Empfang zu nehmen. Gina hält die Stellung auf der Piste. Hund Bonny bewacht das Camp.

Nach 350 Jahren zurück in Europa

Seit rund 20 Jahren sind Bestrebungen im Gange, den Waldrapp wieder in Europa anzusiedeln. Kein einfaches Unterfangen, denn nie zuvor gab es einen Versuch, eine Zugvogelart, die auf dem ganzen Kontinent ausgestorben ist, wieder anzusiedeln und ihr die Migration in die Überwinterungsgebiete anzutrainieren.

Im 17. Jahrhundert starb der Charaktervogel in Mitteleuropa aus. Er war intensiv bejagt worden, denn nicht nur schmeckte sein Fleisch den Menschen, auch machte er ausgestopft als Trophäe etwas her. Nur in Marokko hat eine Kolonie wirklich wilder Waldrappe bis heute überlebt. Die Tiere zählen zu den seltensten Vogelarten der Welt.

Dem „Waldrappteam“ unter Leitung des österreichischen Biologen Johannes Fritz ist es seit Beginn des Projekts gelungen, rund 200 Waldrappe in den Alpen auszuwildern. Gezüchtet werden die Waldrappe in Zoos. Die 35 Waldrappe, die derzeit im Flugtraining in Binningen stecken, sind im österreichischen Tierpark Rosegg in Österreich geschlüpft.

Das Ultraleichtflugzeug mit gelben Schirm fliegt vor wolkigem Himmel.
Wo sind die jungen Waldrappe? Noch müssen die Waldrappe lernen, dem Ultraleichtflugzeug, in dem ihre Ziehmutter Helena Wehner sitzt, zu folgen.

Bisher wurden die Ibisvögel mit Ultraleichtflugzeigen von Deutschland und Österreich aus in ihr Überwinterungsgebiet über rund 800 Kilometer in die Toskana geleitet, von wo sie im Idealfall den Weg zurück an den Abflugort allein wiederfinden. 2011 gelang dies einem Waldrapp zum ersten Mal. Er flog aus der Toskana zu seinem Brutgebiet in Bayern zurück. Für das „Waldrappteam“ war dies der Beweis, dass die Wiederansiedlung gelingen kann.

Die EU unterstützt das Waldrapp-Projekt. 2022 wurde die Hilfe bis 2028 verlängert, mit 6,5 Millionen Euro, womit 60 Prozent der Kosten gedeckt sind. Der Rest stammt von Spendern. Bis 2028 sollen rund 360 migrierende Waldrappe im Alpenraum leben. Diese sollen dann eine selbständig überlebensfähige Population bilden. Nach rund 400 Jahren wäre der Waldrapp wieder nach Europa zurückgekehrt.

Angewöhnung ans Ultraleichtflugzeug

Die 35 Jungtiere in Binningen sind noch alles andere als selbständig. Den halben Tag werden sie von ihren Ziehmüttern in der Voliere betreut und gefüttert. Nur in der Nacht ziehen sie sich in den an die Voliere angebauten Aufzuchtswagen zurück. „Auch wenn ich selbst noch keine Kinder habe: Das Aufziehen der Waldrappe vom Schlüpfen bis zur Selbständigkeit im Überwinterungsgebiet kommt mir vor wie die Betreuung eines Kindes von der Geburt bis zum Abitur“, sagt Barbara Steininger, die zum ersten Mal die Rolle einer Waldrapp-Ziehmutter übernommen hat.

In einer roten Kiste liegen leere Schneckenhäuser, daneben ein Mörser.
Ergänzungsnahrung für gesunde Waldrappe: Die Schneckenhäuser werden zermalmt und unters Futter gemischt. Die Schneckenhäuser stammen von einem Züchter.

Ausser den Ziehmüttern darf sich derzeit niemand in die Voliere begeben, die sich etwas abseits des Camps und neben den Hangars des Flugplatzes befindet. Besucher müssen Abstand halten und leise sein. Die Waldrappe sollen sich mit Ausnahme ihrer Ziehmütter nicht allzu sehr an Menschen gewöhnen.

Nach ein paar Minuten Fahrt mit dem Campingbus sind Barbara Steininger und Camp-Leiterin Laura Pahnke auf einem Feldweg an einem Waldrand angekommen. Vor ihnen liegt eine gemähte Wiese: das Ziel des heutigen Ausflugs. Die den Jungvögeln vertraute Flugpiste liegt verdeckt von Büschen und Bäumen ein paar Hundert Meter entfernt. Nun heisst es: warten.

Aus der Ferne ist der Propellermotor zu hören. Helena Wehner und Walter Holzmüller sind gestartet. Das Fluggerät ist den Waldrappen schon vertraut. „Wir stellten es neben die Voliere und liessen den Motor laufen, damit sie die Scheu davor verlieren“, sagt Barbara Steininger. Anschliessend sind die Ziehmütter mit dem Fluggerät am Boden gefahren. Sobald die Waldrappe ihnen gefolgt sind, wird der nächste grosse Schritt gewagt: das Fliegen.

Komm, komm, Waldi, komm, komm!

Es dauert eine Weile, bis das Fluggerät über den Baumwipfeln auftaucht. Es ist ebenfalls gelb. Und dann ist der Ruf von Ziehmutter Helena Wehner zu hören: „Komm, komm, Waldi, komm, komm!“

Doch die „Waldis“ kommen nicht. Das Ultraleichtflugzeug kreist ein paar Mal über der Wiese, bevor es zur Landung ansetzt.

Die beiden Ziehmütter stehen jetzt mitten in der Wiese. Ihre gelben Shirts leuchten im Grün wie Signallichter. Sie rufen und winken mit gelben Mehlwürmer-Büchsen über ihrem Kopf, um die Vögel auf sie aufmerksam zu machen. Die Würmer sind die Belohnung für die Tiere, wenn sie das Ziel gefunden haben.

Da sieht man ein paar Waldrappe am Horizont, aber noch sind sie auf der anderen Seite der Baumreihe. Die beiden Frauen laufen ihnen entgegen, rufend und Büchsen schwenkend.

Endlich fliegen neun Waldrappe zu ihnen, landen auf der Wiese und versammeln sich um ihre Ziehmütter. Eine Viertelstunde später ist auch der Rest der Gruppe dazugestossen. Helena Wehner und Barbara Steininger sitzen auf der Wiese, rundherum 35 Waldrappe, die Mehlwürmer und Wasser zur Stärkung erhalten.

Über ihnen ziehen Rotmilane ihre Erkundungsrunden. Doch von ihnen lassen sich die jungen Waldrappe nicht beeindrucken, sie haben sich an Greifvögel gewöhnt. Nur von den grösseren Störchen erschrecken sie noch manchmal.

Waldrappe ziehen Kreise um ihre Ziemütter Helena Wehner und Barbara Steininger, die auf einer Wiese stehen.
Doch noch geschafft: Die jungen Waldrappe fliegen eine ihnen unbekannte Wiese an.
Das Fluggerät steht nach der Landung auf der Wiese, die Ziehmütter kümmern sich um die Waldrappe.
Nach der Landung der Waldrappe folgt die Erholung: mit Mehlwürmern, Wasser und etwas Knuddeln mit den Ziehmüttern.

Noch bleibt Zeit, die Waldrappe bis zum geplanten Abflug nach Spanien im August ans Fluggerät zu gewöhnen. Irgendwann wird es bei ihnen Klick machen. Sie werden das Flugzeug mit dem gelben Schirm mit ihren Ziehmüttern verknüpfen und ihm folgen.

Zwei Ultraleichtflugzeuge werden mit den Waldrappen nach Spanien fliegen, eines gesteuert von Walter Holzmüller, das andere von Johannes Fritz, dem Leiter des Wiederansiedlungsprojekts. In einem der Flugzeuge wird Helena Wehner, im anderen Barbara Steininger sitzen.

Neue Route wegen Klimawandel

Dass sie dieses Jahr nicht die Toskana, sondern Andalusien ansteuern, hat mit dem Klimawandel zu tun. Wegen der zunehmend warmen Herbste verlassen die Waldrappe ihre Übersommerungsgebiete immer später. „Doch damit verpassen sie vermutlich die ideale Thermik, um über die Alpen zu gelangen, und bleiben irgendwo in den Bergen hängen“, sagt Laura Pahnke: „Dann müssen sie in Kisten verpackt mit dem Auto in die Toskana gebracht werden.“ Und das entspricht nicht der Art und Weise, wie wilde Zugvögel ihr Überwinterungsgebiet erreichen sollten. Zwischen Süddeutschland und Südspanien gibt es dieses Thermikproblem nicht.

Die neue Route nach Spanien sei kein Zufall, sagt Laura Pahnke. Letztes Jahr sei bei einer menschengeführten Migration ein Waldrapp ausgerissen und in Richtung Südwest nach Frankreich geflogen. Bereits zuvor hatte sich gezeigt, dass es Waldrappe, die auf sich allein gestellt sind, im Herbst in den Südwesten zieht. Möglicherweise handelt es sich um eine traditionelle Migrationsroute. In Spanien wird das Waldrappteam bis nach Jerez fliegen, wo ebenfalls Waldrappe angesiedelt worden sind. Die dortige Kolonie ist aber sesshaft.

Zu grosser Aufwand für eine einzige Vogelart?

Am gesamten Wiederansiedlungsprojekt wird immer wieder Kritik laut. Das Geld sollte besser in den Erhalt der noch wildlebenden Waldrappe in Marokko und andere Naturschutzprojekte investiert werden, argumentieren Kritiker. Das „Waldrappteam“ sieht sich hingegen auf der Zielgeraden. Gemäss einer neuen Studie hat die Waldrapp-Population in Europa gute Chancen, langfristig zu überleben. Dafür müsse das Projekt aber noch eine Weile weitergeführt werden. Und man müsse weiterhin unnatürliche Todesursachen wie die illegale Jagd in Italien sowie Stromschläge durch ungesicherte Mittelstrommasten bekämpfen.

Die Voliere mit 35 Waldrappen und den Ziehmüttern Barbara Steininger und Helena Wehner vor dem Hohentstoffeln bei Binningen.
In der Voliere verbringen die Waldrappe zusammen mit ihren Ziehmüttern Helena Wehner und Barbara Steininger den grössten Teil des Tages. Im Hintergrund der Hohentstoffeln bei Binningen.

Das Waldrappteam in Binningen ist derzeit mit kurzfristigen Fragen beschäftigt: Warum sind an diesem Tag die Tiere nicht wie geplant ans Ziel gekommen? Lag es an einem Echo der Ziehmutterrufe, das sie verwirrt hat?

Dennoch: Das Team zieht ein positives Fazit des rund vierstündigen Trainings. „Am Start sind die Waldrappe gut gefolgt, haben dann aber wohl möglicherweise wegen des starken Halls etwas die Orientierung verloren“, sagt Helena Wehner. „Es braucht etwa drei Wochen, bis die Waldrappe verstanden haben, uns und dem Flugzeug zu verfolgen. Wenn sie es aber verstanden haben, dann vergessen sie es nicht mehr.“

Walter Holzmüller, Laura Pahnke und Gine Gerecke stossen das Fluggerät zurück in den Hangar des Flugplatzes Binningen.
Aufräumen nach dem Training: Walter Holzmüller, Laura Pahnke und Gina Gerecke stossen das Fluggerät zurück in den Hangar des Flugplatzes Binningen.

Pilot Walter Holzmüller, der ebenfalls schon viele Waldrappe in die Toskana begleitet hat, lobt, dass keiner der Vögel ausgebüxt sei: „Die Gruppe ist zusammengeblieben und auch wieder gemeinsam zurückgekommen. Darauf lässt sich in den kommenden Trainings bauen.“

Bis der Ruf „Komm, komm, Waldi, komm, komm!“ in Andalusien zu hören ist, muss das Team aber noch viel arbeiten.

Das Waldrapp-Team in Binningen kann besucht werden. Auch ein Blick auf die Waldrappe in der Voliere ist möglich, aber nur geführt. Besuchszeiten sind Mo-Fr 15 bis 17 Uhr; Sa, So und feiertags: 11 bis 13 Uhr und 15 bis 17 Uhr. Weitere Angaben gibt es auf der Webseite des Projekts.

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