Weißwangengänse – Zu Besuch bei den Seevögeln des Jahres
Es gibt wieder viele Weißwangengänse am Wattenmeer. Für den Naturschutz ist das ein klarer Erfolg, für die Landwirtschaft oft eher ein Ärgernis.
Über den Horizont ziehen Schwaden von kleinen schwarzen Punkten, als ich mich dem Beltringharder Koog im Norden von Schleswig-Holstein nähere. Nur noch über einen Deich, dann liegen teils überflutete Wiesen und Wasserflächen vor mir – und als hätten sie die Verabredung mitbekommen, stehen auf beiden Seiten der schmalen Asphaltstraße jeweils Trupps von Weißwangengänsen und knabbern am Gras, leise untereinander schnatternd.
Fachfrau mit dem passenden Namen
Meine Verabredung ist die 18 Kilometer aus Husum mit dem Fahrrad gekommen. Barbara Ganter ist Gänseexpertin. „Ich finde Gänse allgemein klasse. Das hat auch mit meinem Nachnamen zu tun“, erzählt Ganter und liefert mir damit die Gelegenheit nachzufragen. Ihre Entscheidung für die Erforschung von Gänsen fiel Ende der 1980er Jahre. Damals hat sie sich „eher wegen“ und nicht trotz ihres Nachnamens für eine Diplomarbeit über Weißwangengänse in Schleswig-Holstein entschieden. Es folgten Untersuchungen an Schneegänsen in Kanada, Ringelgänsen in den Niederlanden und Kurzschnabelgänsen in Dänemark.
Doch Weißwangengänse mag die promovierte Biologin immer noch besonders gern:
„Weil ich die einfach sehr hübsch finde mit ihrer schwarz-weißen-grauen Zeichnung und weil sie nett klingen. Die haben einfach eine schöne Stimme. Es gibt so Vergleiche: Wenn es wirklich große Schwärme sind, dann soll das wie eine Meute von kläffenden kleinen Hunden klingen. Aber ich finde es noch schöner.“
So klingen fliegende Weißwangengänse über dem Koog:
Weißwangengänse werden zum Teil noch Nonnengänse genannt
Und tatsächlich erscheint mir der Hunde-Vergleich ziemlich passend, als eine Viertelstunde später gleich mehrere Schwärme von Nonnengänsen niedrig und bellend über uns hinweg ziehen. Dieser Name für Weißwangengänse ist inzwischen veraltet und steht nicht in der offiziellen Artenliste der Vögel Deutschlands, wird aber immer noch für diese Art von Meergänsen benutzt.
Einmal Wattenmeer-Barentssee und zurück
Weißwangengänse sind arktische Zugvögel. Der Weltbestand teilt sich in drei Teilpopulationen auf, je nach Brutgebiet. Das liegt entweder in Grönland, auf Spitzbergen oder an der Nordküste Russlands an der Barentssee. Die Tiere hier im Beltringharder Koog gehören zu der Gruppe, die zwischen dem Wattenmeer der Nordsee und Nordrussland pendeln.
„Jetzt müssen sie sich Fettreserven anfressen, damit sie den Zug in die arktischen Gebiete auch schaffen, “ erzählt Ganter. „Man kann das tatsächlich auch sehen: Wenn man sich so einen Gänsehintern durchs Teleskop anguckt, dann ist er im Winter ziemlich gerade. Im Laufe des Frühjahrs wird er immer runder und runder. Am Ende hängt er durch, und dann können sie gerade noch abheben.“
Die 2000 bis 3000 Kilometer lange Strecke bis zu ihren Brutgebieten an der Barentssee, z. B. auf der Insel Kolgujew oder auf Nowaja Semlja, legen die Vögel in Frühjahr zum Teil nonstop zurück.
Sprung ins Ungewisse
Im Norden angekommen beginnen die Gänse direkt mit dem Brüten. Ihre Nester legen sie dort an, wo Polarfüchse und andere Beutegreifer nicht so leichtes Spiel haben. Zum Nisten wählen sie zum Teil Inselchen, zum Teil Klippen. Letzteres stellt frisch geschlüpfte Küken direkt vor eine der größten Herausforderungen ihres gesamten Lebens. Denn die kleinen Weißwangengänschen werden von ihren Eltern nicht gefüttert.
„Wenn sie schlüpfen, haben sie noch ein bisschen Vorrat aus dem Ei. Aber dann müssen sie grasen.“
Und dafür müssen sie ihr Nest oben auf der Klippe verlassen. Das bedeutet: Auf die Rufe der Elternvögel am Fuß der Klippe hören – und springen.
„Weil sie so leichte Flauschbällchen sind, wird natürlich ihr Fall ein bisschen gebremst. Aber es geht auch ziemlich oft schief.“
Viele Küken schlagen auf den Steinvorsprüngen auf und überleben nicht.
Weißwangengänse-Küken als Youtube-Stars
Der todesmutige Sprung von über hundert Meter hohen Klippen in Grönland hat Weißwangengänse-Küken zu Youtube-Stars gemacht. Der entsprechende Ausschnitt aus einer BBC-Naturdoku von 2014 wurde inzwischen mehr als 41 Millionen Mal angeklickt. Eine Kindheit in Schleswig-Holstein wäre aus Sicht eines Weißwangenganskükens sicher vorzuziehen, gibt Barbara Ganter lächelnd zu.
„Das mit den Klippen würden sie sich auf jeden Fall sparen. Aber Füchse gibt’s hier natürlich auch – keine Polarfüchse, sondern Rotfüchse.“
Im Schnitt entscheiden sich jedoch jedes Jahr nur ein paar hundert Vögel, auch den Sommer über in Deutschland zu bleiben und ihre Jungen hier groß zu ziehen.
Weißwangengänse erzählen eine Naturschutz-Erfolgsgeschichte
Wie auch bei anderen Gänsearten sah die Lage für Weißwangengänse Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa dramatisch aus. Anfang der 1950er Jahre waren es geschätzt gerade noch 10.000 bis 20.000 Weißwangengänse, die im Frühjahr vom Wattenmeer aus zu ihren Brutgebieten an der Barentssee aufbrachen. Vor allem intensive Jagd im hohen Norden und in Mitteleuropa hatte die Zahlen dezimiert. Auch um die beiden anderen Teil-Populationen der Gänse stand es schlecht. Deswegen wurden Weißwangengänse unter Naturschutz gestellt und die Jagd auf sie wurde weitestgehend verboten, auch in den Brutgebieten in der Arktis.
„Als ich dann Ende der 80er Jahre ins Weißwangengänse-Monitoring eingestiegen bin, waren es um die 100.000 Vögel, “ erzählt Barbara Ganter. „Das war schon toll, dass sich eine Population so erholt.“
Auf allen drei Zugwegen sind inzwischen wieder deutlich mehr Weißwangengänse unterwegs. Aus Nordrussland kehren aktuell um die 1,3 Millionen Vögel im Herbst zum Überwintern an Nord- und Ostsee zurück. Auch die Scheu der Gänse vor Menschen hat deutlich nachgelassen. Obwohl wir nur rund 30 Meter von einem Gänsetrupp entfernt stehen, lassen sich die Vögel von unserer Unterhaltung nicht stören.
„Als ich hier meine Diplomarbeit machte, wäre das undenkbar gewesen, “ erinnert sich die Biologin. „Wenn ein Gänseschwarm hier vor dem Deich saß, musste ich mich an der anderen Deichseite auf dem Bauch heranrobben und mit einem Teleskop rüber gucken, damit die nicht wegflogen.“
Als Seevogel des Jahres nicht unumstritten
An diesen Artenschutz-Erfolg möchte der Verein Jordsand erinnern und hat die Weißwangengans zum Seevogel des Jahres 2021 gekürt. Im Auftrag der Naturschutz-Organisation arbeitet Gänseexpertin Barbara Ganter zurzeit an einem Sonderheft der Vereinszeitschrift „Seevögel“ zur Weißwangengans. Der Verein hat auch einen aktuellen Videovortrag zu der Art und zu Ringelgänsen ins Netz gestellt.
Der Begriff Seevogel erscheint auf den ersten Blick sehr weit gefasst. Denn aus Beobachtersicht wirken Weißwangengänse vielleicht eher wie Landeier, weil sie fast immer beim Fressen auf Wiesen anzutreffen sind. Doch sie gehören zu den Meergänsen und übernachten und rasten gerne auf Wattflächen. Außerdem weideten sie vor der weitgehenden Eindeichung der Küsten statt auf Grasland hinterm Deich oft auf den Salzwiesen am Watt.
Die Wahl trifft auch auf Kritik: Der Bauernverband Schleswig-Holstein sieht darin Medienberichten zufolge eine „Provokation“. Landwirtïnnen klagen zum Teil über massive Schäden durch die Weißwangengänse. Denn es sind deutlich mehr Vögel sind als früher, die nicht nur das Gras in Naturschutzgebieten fressen, sondern auch ertragreiches Intensivgrünland abweiden. Eine Veränderung im Zugverhalten verschärft den Konflikt zwischen Artenschutz und Landwirtschaft zusätzlich:
„Die Weißwangengänse bleiben länger und sie fressen bis in den Mai hinein, “ erklärt Barbara Ganter. „Landwirten, die darauf angewiesen sind, ihr Grünland ein paarmal jährlich zu mähen, fehlt dann zum Teil der erste Schnitt.“
Außerdem kommt es auch vor, dass die Vögel Wintergetreide fressen. „Punktuell sind Bauern davon sehr stark betroffen. Und natürlich ist es aus deren Sicht verständlich, dass sie das nicht so toll finden.“
Naturschutz und Lebensmittelproduktion besser in Einklang bringen
Bei unserem Treffen am Beltringharder Koog liefert mir Barbara Ganter auch eine Erklärung für Beobachtungen, die ich im Kreis Nordfriesland gemacht habe: Teilweise stehen alte, verbeulte Autogerippe am Rand von Wiesen und Feldern – als „Vogelscheuchen“. Doch sie helfen nach der Beobachtung der Gänseexpertin nur bedingt, um die Tiere von einer Fläche fernzuhalten: „Die lernen ganz schnell, dass davon keine Gefahr ausgeht.“
Den Schutz der Gänse mit der Produktion von Lebensmitteln wieder besser in Einklang zu bringen – das ist offenbar nicht ganz einfach. Denn Weißwangengänse stehen in der Europäischen Union weiterhin unter Naturschutz. Nur mit Sondergenehmigung dürfen sie geschossen werden, um sie von Feldern zu vertreiben. Diese Sondergenehmigungen werden laut Ganter zum Teil auch erteilt, doch das löst die Probleme nicht.
Vorranggebiete für Wildgänse und Vorranggebiete für Landwirtschaft?
In Schleswig-Holstein wird aktuell debattiert, ob große zusammenhängende Gebiete geschaffen werden, wo die Gänse ungestört fressen können. Dabei denken Naturschützerïnnen an die Naturschutzköge an der Küste, aber auch an Grünland-Gebiete in der Umgebung.
„Wenn man solch große Gebiete einfach beruhigen könnte, damit die Gänse da sein dürfen, und dort die Landwirte für ihre Verluste entschädigt – dann hätte man andererseits Gebiete, wo man Ackerbau betreiben kann und die Gänse, wenn auch natürlich mit viel Aufwand, vertreiben kann. Und dann würde insgesamt vielleicht mehr Friede einkehren.“
Entschädigungen wegen Wildgans-Fraß werden Landwirtïnnen zwar zum Teil schon jetzt gezahlt. Aber laut Bauernverband in Schleswig-Holstein decken die bei weitem nicht die Verluste durch die Fraßschäden. Der Verband sieht dabei auch die Landesregierung in der Pflicht.
Aktuell wächst die Zahl der Weißwangengänse nicht mehr weiter
Sowohl Naturschützende als auch Landwirtïnnen in der Region interessieren sich dafür, wie sich der Bestand an Weißwangengänsen am Wattenmeer weiterentwickelt. Barbara Ganter geht davon aus, dass sich die Zahl der Gänse auf dem aktuellen Niveau einpendeln wird:
„Das Schöne an diesen Tieren ist, dass man im Herbst, wenn sie aus ihren arktischen Brutgebieten wiederkommen, sehen kann, wie viele Jungvögel dazwischen sind, weil die sich ein bisschen im Gefieder unterscheiden.“
Und dabei hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt:
„Die Gänse bringen jedes Jahr so um die zehn Prozent Jungvögel mit. Und wenn man sich überlegt, dass die Vögel ja nun auch nicht unsterblich sind und jedes Jahr ungefähr zehn Prozent aller Vögel sterben, dann passt das; dann werden es eben nicht mehr.“
Eine Herausforderung für die Weißwangengänse ist der Klimawandel. Der hat Auswirkungen auf das Timing des Frühjahrszugs. Die Weißwangengänse im Wattenmeer müssen den richtigen Zeitpunkt abpassen, um zur Schneeschmelze in der Arktis anzukommen. Das ist schwierig, weil sich die arktischen Brutgebiete im Klimawandel deutlich stärker erwärmen als das Wattenmeer. Niederländische Forschende gehen davon aus, dass die Zukunft der Wildgänse davon abhängt, ob sie schnell genug lernen, sich den verändernden Bedingungen anzupassen.
Von der Vogelgrippe stark betroffen
In dieser Saison werden vermutlich auch noch mehr Vögel sterben als sonst. Denn Weißwangengänse hängen gerne zusammen ab. Dabei wäre Abstand Halten aktuell auch bei ihnen aus gesundheitlichen Gründen sinnvoll. Seit Herbst 2020 gibt es – nicht nur in Schleswig-Holstein – etliche Fälle von Vogelgrippe mit Tausenden von toten Wildvögeln – die Flugbegleiter haben berichtet.
„Das war nicht schön, “ erinnert sich Barbara Ganter. „Man lief draußen rum und überall lagen tote Graugänse, Weißwangengänse, Brachvögel. Und auch andere Vögel hat es getroffen.“
Auch in diesem Frühjahr ist der Ausbruch der Vogelgrippe noch nicht vorbei. Als wir zur Beobachtungshütte mitten im Koog gehen, finden wir auf dem Pfad eine tote Weißwangengans.
Von dem Fund informieren wir wenig später das Veterinäramt des Kreises Nordfriesland. Das Amt ist dafür zuständig, tote Wildvögel auf aviäre Influenzaviren zu untersuchen – also auf Geflügelpest, auch Vogelgrippe genannt. Per E-Mail teilt mir der Amtstierarzt kurz darauf mit, dass Mitarbeitende des Ordnungsamtes am Koog waren, um den toten Vogel zu bergen. Doch der Kadaver ist in der Zwischenzeit offenbar verschwunden. Es lässt sich also nicht klären, woran die Weißwangengans auf dem Pfad zur Beobachtungshütte gestorben ist.
Die Vogelgrippe grassiert noch weiter
Seit Oktober 2020 wurden allein im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer mehr als 17.000 tote Wildvögel gefunden (Stand: 01.04.2021), darunter waren um die 5.000 Weißwangengänse. Zur Jahreswende hatte sich das Infektionsgeschehen zwar beruhigt. Doch seit Februar werden wieder mehr Totfunde gemeldet. Ein Blick auf eine aktuelle Karte verrät: Fast alle übrigen Bundesländer sind laut dem für Tierseuchen zuständigen Friedrich-Loeffler-Institut inzwischen ebenfalls von der Vogelgrippe betroffen. Es kommt bei wilden und gehaltenen Vögeln regelmäßig zu Ausbrüchen der Geflügelpest, doch der aktuelle ist laut den Fachleuten des Instituts besonders heftig.
Für Menschen sind die aktuell grassierenden Vogelgrippe-Erreger bislang offenbar nicht gefährlich. Trotzdem sollte man tote Wildvögel nicht anfassen. Nicht umsonst tragen Fachleute, die Kadaver bergen, einen Schutzanzug. Damit soll auch die Gefahr einer Übertragung auf Nutztiere verringert werden. Für Geflügel verläuft die Vogelgrippe fast immer tödlich. In vielen Regionen Deutschlands herrscht deswegen aktuell Stallpflicht für Geflügelhaltungen. Weil der aktuelle Ausbruch der Vogelgrippe zuerst bei Wildvögeln aufgetreten ist, geht das Friedrich-Loeffler-Institut davon aus, dass sich bei Ausbrüchen auf Höfen in der Regel Geflügel bei Wildvögeln angesteckt hat, auch wenn es in Einzelfällen andersherum sein kann.
Beobachtungsmöglichkeiten von Oktober bis Mai
Wer den Seevogel des Jahres in großen Schwärmen an der Nordseeküste erleben will, hat dafür zunächst noch bis in den Mai hinein Zeit.
„Man kann durchaus auch mal Schwärme von ein paar zehntausend Vögeln beobachten. Das ist schon ein Erlebnis“, sagt Biologin Barbara Ganter. „Es ist ein tolles Naturphänomen, diese ziehenden Tiere hier zu haben.“
Hoffentlich ist das Reisen pandemiebedingt auch für Menschen spätestens im Herbst wieder besser möglich. Dann kann es ab Ende Oktober ein Treffen mit den Weißwangengänsen an der Küste geben.