Ringelgänse über der Brandung
Ein Vogelspaziergang auf Spiekeroog mit Vogelwart Edgar Schonart
Die Sonne hat an diesem Oktobermorgen die Schlummertaste gedrückt und sich die dicke Wolkendecke noch für ein paar Minuten über den Kopf gezogen. Aus den Heckenrosen am Wegesrand protestieren Vögel mit kurzen Melodien gegen das Blaugrau – Rotkehlchen, wie ich später lernen werde. In der Nacht ist eine Kaltfront über Spiekeroog hinweggezogen und hat dem Altweibersommer mitten im Herbst ein jähes Ende bereitet. Als ich kurz vor acht am Treffpunkt oben in den Dünen ankomme, hat immerhin der Sprühregen aufgehört.
Der Höhenweg durch die Dünen ist atemberaubend. Dort liegen den Besuchern Strand und Meer zu Füßen. Der Wind hat die Nordsee aufgewühlt und mit weißen Wellenköpfen gespickt. Darüber blitzen die Scheinwerfer der Frachter, die vor der Jademündung auf Reede liegen und schaukelnd auf Platz in Bremerhaven oder Wilhelmshaven warten. Die Sicht ist gut. Sogar das Leuchtfeuer von Helgoland ist zu sehen.
Sea-Watching: Welche Vögel ziehen über der See?
Ein paar Vogelinteressierte treten von einem Bein aufs andere, die Hände in den Taschen, die Jacken bis unters Kinn zugezogen, die Mützen über die Ohren.
Edgar Schonart kommt barfuß und in dunkelblauen Jeans-Shorts, die gerade einmal die Hälfte seiner Oberschenkel bedecken In seinem Haarschopf ringen die dunkelblonden und die weißen Haare um die Mehrheit. Er zieht einen Handwagen mit Spektiven und Stativen hinter sich her, denn in der nächsten Stunde steht Sea-Watching auf dem Programm. Schonart ist Nationalparkwart auf Spiekeroog, ehrenamtlich. Ein gutes Dutzend Vogelinteressierte trudeln ein. Viele grüßt Schonart mit Vornamen.
Die Plätze auf den Bänken am Aussichtspunkt sind heute besonders begehrt, weil der frische Nordwind weniger an den Fernrohren rüttelt, wenn die Stative nur auf halbe Höhe ausgefahren sind. Es sind die „Zugvogeltage“ rund um das Wattenmeer. Die Nationalparkverwaltung hat zusammen mit den Örtchen an der Küste und den Inselgemeinden zum zehnten Mal ein umfangreiches Programm zusammengestellt. Dazu gehört auch Schonarts Sea-Watching: schauen, welche Vögel über der See ziehen.
Tags zuvor waren die Bedingungen angenehmer. Doch heute drückt der Wind die Vögel näher an die Insel heran. Außerdem treibt der Wetterumschwung die Tiere zum Aufbruch.
„Eiderenten bei der schmalen roten Fahrwasserrtonne!“ – „An der rot-weißen Tonne, entweder eine Sturm- oder eine Lachmöwe.“ – „Ich hab was kleines an der dicken roten“ – „Das ist ein Mittelsäger“ – „Ringelgänse beim Kreuzfahrtschiff“, ruft jemand, und alle Gläser drehen sich ein Stück nach rechts. „60 ungefähr.“ Die Ringelgänse – „schwarze Vögel mit weißem Rücklicht“, wie Schonart sie beschreibt – entdecke ich ohne weiteres, aber wenn einzelne Vögel aufgerufen werden, brauche ich meist viel zu lange, um das Spektiv an die richtige Stelle zu bewegen und scharf zu stellen. Also höre ich zu, was die Profis so sichten und nehme mir vor, die gesichteten Vögel später im Bestimmungsbuch nachzuschlagen.
„Ihr sollt nicht da hinten bei Helgoland gucken“, ruft Edgar Schonart. „Dann überseht Ihr die kleinen Piepmätze, die hier vorne fliegen.“ Sofort werden die Spektive neu justiert. Jeder will den nächsten Trupp Vögel als erster ankündigen. Zur Wettkampfatmosphäre trägt auch bei, dass die Beobachtungen in den „Aviathlon“ einfließen: Während der Zugvogeltage werden auf den Inseln sowie an der Küste alle gesichteten Vogelarten gezählt; es gewinnt die Region mit der längsten Liste. 124 Arten wird Schonart am Ende dieser Woche gemeldet haben. Darunter Highlights wie einen spät aufgebrochenen Wespenbussard und einen Gelbbrauen-Laubsänger. Doch richtige Knüller haben in diesem Jahr gefehlt. Andere Inseln bekommen mehr als 150 Arten zusammen. Borkum gewinnt unter den Inseln, das Wangerland an der Küste.
Die erste Spatelraubmöwe des Jahres ist ein Jungvogel
„Da ist eine Raubmöwe“, sagt Schonart, und die sogleich gestellte Standardfrage „Woran erkennst du das?“ beantwortet er so: „Ein schwarzer Vogel mit weißen Flecken auf den Flügeldecken . Eine Spatelraubmöwe, die erste dieses Jahr. Eine junge, erst in diesem Jahr geschlüpft.“ Spatelraubmöwen sind Langstreckenzieher: Sie fliegen bis nach Südamerika oder ins Afrika südlich der Sahara. Raubmöwen heißen die Vögel dieser Gattung, weil sie nicht selbst Fische fangen, sondern den Seeschwalben ihre Beute abjagen – was erhebliches Geschick erfordert, denn sie tun es in der Luft. „Es ist faszinierend, wie die fliegen können!“ sagt Schonart.
Viele Vögel erkennt er schon am Flug. Wer die Vögel schnell bestimmen wolle, müsse vor allem auf ihre Gestalt und ihre Bewegungen achten, ihren „Jizz“. Der Nordseetaucher oder Sterntaucher, der später vorüberzieht, fliege „wie ein Kleiderbügel“. „Der überwintert hier.“
„Hinter uns waren Weißwangengänse“, sagt ein junger Mann hinter mir. „Die hatten wir gestern auch. Und Spornpieper und Silberreiher.“
Heute ist die Stunde der Ringelgänse. Die Trupps werden immer größer, manchmal fliegen Hunderte fast direkt über die Brandung, wenige hundert Meter entfernt – wie Tuschepunkte, die ein besoffener Zeichner auf die grauen Wolken gestippelt hat.
Schon nach einer Stunde ist Schluss mit Sea-Watching. „Die Vögel ziehen ohnehin fast alle während der Nacht“, sagt Schonart. „Die setzen sich jetzt an den gedeckten Tisch. Nur die Finkenvögel fliegen tagsüber.“ Während wir zum Ort hinuntergehen, kämpft sich die Sonne sich durch die Wolken. Aus einem Sanddornbusch, dessen orangfarbene Früchte bereits spätherbstlich ausgebleicht sind, dringt ein zaghaftes, hohes Pipen: „Das sind Wintergoldhähnchen.“ Und richtig: Mit einer Lebhaftigkeit, die so gar nicht so den leisen Tönen passen will, turnen die winzigen grau-grünen Tiere mit dem leuchtend orangfarbenen Streifen auf dem Kopf durchs Gestrüpp. Auch sie ruhen sich im sicheren Dickicht aus und fressen sich satt, ehe sie weiterziehen.
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Aufwärmen im nahen Café sei jetzt eine gute Idee, findet Edgar Schonart. Er gehe außer im Winter das ganze Jahr über barfuß und in kurzen Hosen. „Ich bin ja im Krieg geboren“, sagt er, „meine erste lange Hose habe ich mit 14 bekommen“. Bei Kaffee und Franzbrötchen beginnt der 77jährige zu erzählen. 1955 brachte ihm der Weihnachtsmann das Vogelbuch „Was fliegt denn da?“. Er war begeistert. Aber es war vor allem eine „katastrophale menschliche Erfahrung“, die ihn erst zum Langstreckenlaufen und dann dauerhaft zu den „Piepmätzen“ trieb, wie er die Vögel meistens nennt. Nach einigen Jahren wusste er zwar bestens über Vögel Bescheid, stand aber ohne Schulabschluss da.
Arbeit fand er schließlich an der Vogelwarte in Wilhelmshaven. Stationen bei archäologischen Arbeiten im Oldenburger Land, in einem Kibbuz in Israel und an der Vogelwarte auf Helgoland folgten. Dort lernte er seine erste und seine zweite Frau kennen. Mit ihr ging er nach Tübingen und blieb dort bis zu seinem 65 Lebensjahr. Dann flog ein Alpenstrandläufer rufend über die Stadt. „Da tat mir das Herz so weh, da wusste ich, dass ich wieder in den Norden zurückkehren muss.“
Das war 2006. Die Klassenlehrerin seines Sohnes wusste von jemandem, der einen Verwalter und Hausmeister für sein Haus auf Spiekeroog suchte. „Wahrscheinlich bin ich der treuste Bewohner der Insel: Seitdem habe ich nur vier Nächte nicht auf der Insel verbracht.“
Hausverwalter, Fotograf, Buchautor
Das Arrangement mit seinem Hausbesitzer sichert ihm die Bleibe; in der Zeit, die ihm daneben bleibt, beschäftigt er sich mit den Vögeln. „Als Nationalparkwart ist meine Aufgabe, die Leute zu bekehren, ihren Hund anzuleinen und aus Schutzgebieten oder den Dünen rauszugehen“, sagt er lächelnd. Und er leitet die beiden jungen Menschen an, die hier immer noch Vogel-Zivis heißen, auch wenn der Zivildienst längst dem Bundesfreiwilligendienst gewichen ist. Die „Zivis“ – heute sind natürlich auch Frauen dabei – helfen bei Brut- und Zugvogelerfassung und geben den Touristen Einblicke in die Vogelfauna von Spiekeroog. Wenn sie auf dem Festland sind, springt Edgar Schonart ein; er präsentiert seine Beobachtungen samt großartiger Fotos den Gästen bei Vorträgen und in einer Artikelserie im Wochenblatt „Inselboten“. 2016 hat er sämtliche Brutvögel von Spiekeroog in einem Buch porträtiert. Jetzt sind die Zugvögel an der Reihe. In den „Spiekerooger Jahresberichten“ hält er außergewöhnliche Beobachtungen und Besonderheiten aus dem Vogelzug fest, auf eine Weise, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt: „Ich will alle jemals hier nachgewiesenen Vögel aufführen und zeigen, in was für einem Verhältnis sie zu Spiekeroog stehen“, sagt er. „Bislang sind es 319 Arten, jedes Jahr kommen ein oder zwei hinzu.“
Der Kaffee hat gut getan, die Sonne ist auch richtig wach inzwischen. Es geht in den Kurpark, ein kleines Areal mit hohen Bäumen und Rasenflächen, auf denen im Sommer ein Mitmachzirkus gastiert und die Touristen Yoga machen. In einem abgeschlossenen Teil des Parks hat Schonart zwei schwarze Netze gespannt. In einem hängt kopfüber eine Blaumeise. Behutsam befreit Schonart den kleinen Vogel, der wehrhafter ist, als man bei knapp elf Gramm Körpergewicht meinen könnte. „Blaumeisen beißen wie verrückt!“ Er steckt ihn in einen gelben Beutel. Ein paar Schritte weiter findet er eine Singdrossel, im zweiten Netz eine Rotdrossel. Diese Vögel sind etwas kleiner als Amseln, haben einen braunen Rücken und einen hellen Bauch mit braunen Flecken. Die Rotdrossel erkennt man am hellen Streifen über den Augen sowie den rote Achseln und Flügelunterseiten.
Im Kurpark fängt Schonart Vögel zum Beringen
Schonart legt beide Drosseln behutsam in rote Säckchen und holt aus seiner nahegelegenen Wohnung Federwaage, Messstab und Zange. Er wiegt und vermisst die Vögel, ehe er ihnen einen Ring verpasst und sie wieder freilässt. Dank der Ringe weiß Edgar Schonart zum Beispiel, dass ein Turmfalke von Spiekeroog jetzt in Holland brütet. Hier hinter dem Haus hat er weitere Netze gespannt: „Darin kriege ich auch die Spatzen, über deren Population möchte ich mehr wissen.“ Denn anders als zum Beispiel Amseln, die ihrem Revier treu bleiben und es lauthals gegen Eindringlinge verteidigen, fliegen die Spatzen überall auf der Insel herum. Nur die Ringe verraten ihm, welchen Vogel er wo vor sich hat.
Spiekeroog ist immer noch ein Vogelparadies, eine Oase der Ruhe, in der nur wenige Elektroautos fahren und Backsteinhäuser das Ortsbild prägen. Wer aber schon länger herkommt, erkennt, dass auch hier die freien Flächen rapide schrumpfen. Erst im vergangenen Jahr musste der Minigolfplatz zwei Riegeln mit Ferienwohnungen weichen. Die Baulücken werden immer kleiner. Jedes Jahr kommen mehr Touristen, und viele empfinden Naturschutz eher als hinderlich denn als erstrebenswert. Leute, die in den Dünen Party machen und die Brutvögel aufscheuchen. Schonart sieht eine „Versyltung der Insel“.
In diesen Tagen macht zudem die Nachricht die Runde, die Insel Baltrum wolle zusammen mit Spiekeroog aus dem Nationalpark ausscheiden. Das ist zwar rechtlich nicht möglich, aber es weckt Begehrlichkeiten auch auf anderen Inseln.
Schonart bemängelt auch, dass sich die Zugvogeltage mehr nach den Herbstferien in Nordrhein-Westfalen richten – also dem Touristenzug – als danach, wann die Vögel in die Winterquartiere aufbrechen. Viele sind jetzt Mitte Oktober schon abgeflogen.
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Auf dem Weg durch den Ort Richtung Osten bekommen wir, immerhin, noch ein paar Vogelstimmen zu hören. Und Schonart erkennt sie natürlich, auch wenn die Vögel selbst sich nicht blicken lassen. Immer wieder ertönt das feine, scharfe „Keckkeck“ der Rotkehlchen, ein Buchfink ruft „Tjü“, eine Schneeammer „Djüh“, ein Buntspecht „Gib-Gib“, die Singdrossel „ Zipp“. Auch Erlenzeisig, Ringdrossel und Goldammer hört der Vogelwart heraus. Wir überqueren den Deich und lassen das Dorf hinter uns. Flache Wiesen und Pferdekoppeln ziehen sich nach Süden. Das Wasser glänzt auf dem Watt. In der Ferne ist im Dunst das Festland zu erkennen. Hier führt ein Weg direkt ans Wasser an eine besonders ergiebige Stelle für Vogelfans. Denn dorthin flüchten sich viele Vögel, wenn die auflaufende Flut sie vom Watt verscheucht und landwärts treibt – auch, weil an dieser Stelle gereinigtes Süßwasser aus dem Klärwerk ins Meer fließt. Schonart hat vorgeschlagen, an dieser Stelle einen Beobachtungsturm mit einem fest installierten Spektiv zu errichten. Von dort könnte man noch besser als jetzt Rotschenkel, Steinschmätzer, Säbelschnäbler und natürlich Austernfischer beobachten, die sonst weit draußen im Watt nach Würmern, Muscheln und Krebstieren suchen. „Damit die Inselgäste verstehen, warum sie das Watt dort nicht betreten sollen.“ Jetzt schreiten dort auch Brandgänse durch das flache Wasser. Sie schwenken ihren leuchtend roten Schnabel langsam hin und her auf der Suche nach Muscheln, Schnecken und Würmern. Über allem schweben die Lachmöwen. Sie haben ihre schwarzen Sturmhauben, mit denen sie im Frühling und Frühsommer durch die Lüfte jagen, gegen schwarze Ohrstöpsel eingetauscht.
Ein paar Minuten später, vorbei am Internat und am Nationalparkhaus, liegen uns die Leegde und die Ostplate zu Füßen. Links im Norden versperren die hohen Dünen den Blick auf den Strand. Wo jetzt trockenes Gras die Ebene beige färbt, brüten im Sommer tausende Seevögel. Jetzt ist es hier ziemlich ruhig. Das ist wirklich ein unersetzliches Stück Natur. Kaum zu glauben, dass es vor Gründung des Nationalparks Wattenmeer Pläne gab, hier eine Landebahn für Flugzeuge und einen Golfplatz zu bauen. Auch wenn solche Projekte nicht mehr zu befürchten sind – es ist selbst auf Spiekeroog nicht immer einfach, die Natur vor Begehrlichkeiten anderer Nutzer zu schützen. Edgar Schonart macht mich auf einen großen braunen Flecken in der Ferne aufmerksam: „Da rüttelt ein Seeadler“, sagt er. Ein Paar hat sich hier eingerichtet. „Ich denke, dass die hier irgendwann brüten werden.“ Das wäre eine Sensation. „Bodenbrut ist bei Seeadlern ganz selten.“