Vor UN-Umweltgipfeln: Wissenschaft fordert Schulterschluss zwischen Klima- und Naturschutz
Weltklimarat IPCC und Weltbiodiversitätsrat IPBES plädieren gemeinsam für mehr Naturschutz
Es geht um die beiden bedeutendsten Umweltkrisen unserer Zeit: das Artensterben und den Klimawandel. Erstmals in ihrer Geschichte legten der Weltklimarat IPPC und der Weltbiodiversitätsrat IPBES am Donnerstag einen gemeinsamen Bericht vor. Der „Workshop-Report“ analysiert, ob und wie sich die beiden Menschheitsprobleme erfolgreich gemeinsam bekämpfen lassen.
Der Schutz von Arten und Ökosystemen ist zentral im Kampf gegen den Klimawandel
Das Fazit des 300-Seiten-Berichts, an dem 50 der weltweit führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Klimaforschung und Biologie gearbeitet haben: Der Schutz von Arten und Ökosystemen kann und muss eine zentrale Rolle im Kampf gegen den Klimawandel spielen. Nur so ließen sich die gesteckten Klimaziele langfristig erreichen. Zugleich warnen die Forscherïnnen davor, den Beitrag der Natur als Kohlenstoffspeicher und Treibhausgas-Filter als Argument dafür zu nutzen, weniger strenge Reduktionsziele für Treibhausgase aus Industrie und Mobilität zu setzen. Das Erreichen der Pariser Klimaziele sei die Voraussetzung dafür, dass Ökosysteme ihre klimaschützenden Leistungen überhaupt erbringen könnten, unterstreicht der Report.
Der Verlust der biologischen Vielfalt und der Klimawandel würden beide durch wirtschaftliche Aktivitäten des Menschen angetrieben und verstärkten sich gegenseitig, stellt der Bericht fest. Weil beide Krisen die gleichen Ursachen hätten, gelte auch: „Keines der beiden Probleme kann erfolgreich gelöst werden, wenn man sie nicht gemeinsam angeht.“
Diese Schlüsselaussage des Reports ist wenig überraschend, gleichwohl politisch von großer Bedeutung. Denn dadurch bekommt das Konzept der „Nature-based Solutions“ oder “naturbasierte Lösungen” (NbS) nun auch den Segen der beiden wichtigsten zuständigen UN-Wissenschaftsorganisationen und damit einen weiteren Schub kurz vor dem Klimagipfel in Glasgow.
Nature-based Solutions verbinden Klimaschutz und Erhalt der Artenvielfalt
Das Konzept der NbS hebt die Leistungen intakter Ökosysteme für die Bindung und Speicherung von Kohlenstoff und die Bewahrung der Artenvielfalt hervor: Ökosysteme speichern nämlich zum einen enorme Mengen Treibhausgase, und zugleich sind sie wichtige Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten. Deshalb helfe der Erhalt dieser Lebensräume sowohl dem Klima- wie dem Artenschutz.
In ihrem Bericht machen die Expertinnen und Experten in 41 Einzelpunkten Vorschläge, wie ein Dreiklang aus Naturschutz, Klimaschutz und berechtigten Entwicklungsinteressen betroffener Gemeinschaften funktionieren könne. Zu den wichtigsten Handlungsempfehlungen gehören:
* Stopp der weiteren Zerstörung von kohlenstoff- und artenreichen Ökosystemen an Land und im Meer. Als besonders wichtige Landlebensräume erwähnt der Bericht Wälder, Feuchtgebiete, Torfmoore, Grasland und Savannen; unter den marinen Ökosystemen werden Mangroven, Salzwiesen, Algenwälder und Seegraswiesen genannt.
* Renaturierung: Ökosysteme, die bereits in ihrer ökologischen Leistungsfähigkeit geschädigt seien, müssten rasch renaturiert werden, fordern die Wissenschaftlerïnnen. Die Renaturierung sei die preiswerteste und am schnellsten umsetzbare unter den naturbasierten Klimaschutzmaßnahmen. Sie schaffe Überlebensräume für Tiere und Pflanzen und sichere gleichzeitig wichtige Naturleistungen, die bei zunehmender Erderwärmung immer wichtiger würden: Küstenschutz, Wasserqualität, Bestäubungsleistungen von Insekten und die Verhinderung von Bodenerosion werden als Beispiele angeführt. Auch sozioökonomisch sei großflächige Renaturierung ein Gewinn, weil sie Arbeitsplätze und Einkommen schaffe.
* Nachhaltigere Land- und Forstwirtschaft: Eine größere Vielfalt von angebauten Pflanzen- und Baumarten sowie weniger Pestizid- und Düngereinsatz leisteten wichtige Beiträge zum menschlichen Gesundheitsschutz, zum Erhalt der Artenvielfalt und zur Anpassung der Lebensräume an den Klimawandel. Gleichzeitig könnten so große Mengen an Treibhausgasen gebunden werden.
* Mehr und großflächige Naturschutzgebiete: Derzeit machen Schutzgebiete rund 15 Prozent der Landfläche und 7,5 Prozent der Meeresfläche aus. Die Expertïnnen verweisen auf Studien, die einen Schutz von 30 bis 50 Prozent der gesamten Meeres- und Landfläche der Erde als nötig ansehen, um ein Gleichgewicht zwischen Ökologie, Klimaschutz und menschlicher Entwicklung auch langfristig zu erhalten. Derzeit wird als Ziel für die kommende Biodiversitätskonferenz eine Marke von jeweils 30 Prozent an Land und auf dem Meer diskutiert. Neben Schutzgebieten müssten auch Wanderungskorridore für Tiere in nicht besonders geschützten Gebieten ermöglicht werden – auch mögliche Veränderungen durch den Klimawandel müssten bedacht werden.
*Abschaffung schädlicher Subventionen: Abholzung, Überdüngung und Überfischung dürften nicht mehr mit staatlichen Mitteln gefördert werden, fordert der Bericht.
* Änderung von Konsumgewohnheiten: Weniger Fleisch in den reichen Ländern und weniger Lebensmittelverschwendung könnten einen wichtigen Beitrag zu Klimaschutz und Naturschutz in den Ländern des globalen Südens leisten. Auch mehr Recycling und langlebige Produkte seien wichtig, um Rohstoffe zu sparen, umweltschädliche Produktion zu vermeiden und die Belastung der Natur zu verringern.
* Kein Etikettenschwindel mit NbS: Der Bericht warnt auch vor nur vermeintlich „grünen“ naturbasierten Lösungen. Darunter wird der Anbau von Bioenergie-Pflanzen in Monokulturen auf großen Flächen und das Anpflanzen von Bäumen in Ökosystemen, die zuvor keine Wälder waren, besonders hervorgehoben. Auch Wiederaufforstungen mit Monokulturen könnten möglicherweise kurzfristige Vorteile mit Blick auf Treibhausgase bieten, seien aber schädlich für die biologische Vielfalt und raubten Platz für die Nahrungsmittelproduktion.
Naturbasierte Lösungen können nicht alle Probleme lösen
Schließlich verweisen die Autoren auf die Grenzen naturbasierter Lösungen. Die Natur könne zwar bei der Eindämmung des Klimawandels helfen. Um diesen Beitrag aber leisten zu können, müsse es an anderer Stelle eine ehrgeizige Reduzierung der Treibhausgasemissionen geben. "Land und Ozeane leisten bereits eine Menge – sie absorbieren fast 50 Prozent des Kohlendioxids aus den menschlichen Emissionen – aber die Natur kann nicht alles tun", betont die IPBES-Vorsitzende Ana María Hernández Salgar. Auch der Ko-Vorsitzende des Workshops, Hans-Otto Pörtner vom Alfred-Wegener-Insitut, stellt klar: „Das Wichtigste ist, die Pariser Klimaziele einzuhalten.“
Auch der kanadische Umweltdiplomat Basile Van Havre, der gegenwärtig die Arbeiten für ein künftiges Rahmenabkommen zum weltweiten Biodiversitätsschutz leitet, hatte kürzlich im Interview mit Countdown Natur die Bedeutung der NbS zwar unterstrichen, aber zugleich auf ihre Beschränkungen verwiesen. "Nature-based Solutions werden ein entscheidender Teil der Lösung sein müssen, aber sie können nicht die ganze Lösung sein."
Politische Rückendeckung für NbS
Vor kurzem hatten sich unter anderem die USA und die G7-Umweltminister hinter den Ansatz naturbasierter Lösungen für den Klimaschutz gestellt. Auch nach Ansicht vieler Naturschützer bietet die Verknüpfung von Klima- und Naturschutz die Chance, die Bedeutung des Schutzes von Ökosystemen aufzuwerten und finanziell besser auszustatten. „Wir glauben, dass Nature-based Solutions der Königsweg zu mehr Klimaschutz und Biodiversitätsschutz sind“, sagt etwa Georg Schwede, der Europachef der Campaign for Nature, die über ihren privaten Stifter Hansjörg Wyss bis 2030 eine Milliarde Dollar zur Rettung der Biodiversität bereitstellt.
Bislang wird die Artenkrise vielfach als ein weniger bedeutendes Umweltproblem angesehen als der Klimawandel. Das schlägt sich sowohl in einer schlechteren finanziellen Ausstattung als auch in einer geringeren politischen Schlagkraft der UN-Konvention zur biologischen Vielfalt (CBD) gegenüber der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) nieder.
Es scheint, als könne sich das ändern. Der britische Umweltminister Zac Goldsmith, Gastgeber des Weltklimagipfels in Glasgow, sprach bei der Vorstellung des Reports von einem wichtigen Beitrag der IPCC und IPBES-Expertinnen und Experten, um die bevorstehenden UN-Umweltgipfel zu einem Erfolg zu machen. „Mit der UN-Biodiversitätskonferenz in Kunming und dem UN-Klimagipfel in Glasgow haben wir die Chance und die Pflicht, den Globus auf einen Pfad der Erholung zu bringen“, sagte Goldsmith.
Ringen um Bericht hinter den Kulissen
Der rund 300 Seiten starke Bericht ist das Ergebnis eines viertägigen virtuellen Workshops vom Dezember vergangenen Jahres, in dem erstmals führende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Klimaschutz, Biologie und Sozialforschung beider UN-Organisationen gemeinsam Wege aus den Zwillingskrisen gesucht haben.
Während Teilnehmerinnen und Teilnehmer den harmonischen Charakter der Premiere lobten, verlief der Abstimmungsprozess auf politischer Ebene offenbar weit weniger glatt. Zunächst verschob sich die für das erste Quartal des Jahres angekündigte Veröffentlichung, dann wurde ein bereits fest geplanter Termin für die öffentliche Vorstellung in letzter Minute abgesagt. Hintergrund ist nach Angaben aus Kreisen der Vertragsstaaten beider Abkommen eine zeitweise Blockade der Veröffentlichung durch Brasilien. Das südamerikanische Land beherbergt mit 60 Prozent den größten Anteil des Amazonas-Regenwaldes, eines der wichtigsten Ökosysteme der Erde. Offenbar befürchtet die brasilianische Regierung Druck der internationalen Staatengemeinschaft, den Regenwald stärker zu schützen, weil er für das Klima auf dem ganzen Globus von entscheidender Bedeutung ist.
Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.