Wir haben die Nacht zum Tag gemacht – und treiben damit das Artensterben an
Lichtverschmutzung tötet und schädigt unzählige Lebensformen – von Insekten bis zu Fischen. Wissenschaftlerïnnen warnen vor gravierenden Folgen
Angelockt vom hellen Licht tappt der Braune Bär in die Falle. Tagsüber hat er sich im dichten Gebüsch ausgeruht. Bei Dunkelheit, jedoch meist nicht vor Mitternacht, wird der große Falter aktiv und geht auf Partnersuche. Dabei orientiert er sich im Mond- und Sternenlicht eigentlich sicher dorthin, wo seinesgleichen anzutreffen ist.
Doch die grelle Straßenbeleuchtung bringt den Nachtfalter vom Ziel seines Ausfluges ab. Hektisch umschwirrt er das künstliche Licht und kann nicht von ihm lassen. Entweder geht der Falter dabei gleich zugrunde oder er ist zu erschöpft, um sich noch zu paaren.
Bis vor einigen Jahren war der Braune Bär – der so heißt, weil er als Raupe eine bräunliche Haarpracht trägt – noch häufig in Gärten, Parks, Waldwegen und Flussauen anzutreffen. Doch Flächenschwund, Landwirtschaft und künstliches Licht machen ihm so zu schaffen, dass der Braune Bär nun auf der Vorwarnliste bedrohter Arten steht. Der Umweltverband BUND hat den auffällig farbenfrohen Falter daher für 2021 zum „Schmetterling des Jahres“ ausgerufen.
Künstliches Licht stört natürliche Rhythmen
Der Rückgang des Braunen Bären ist eines der vielen Symptome dafür, wie sehr die Lebensgemeinschaft auf der Erde in eine Schieflage geraten ist. Wir stehen laut vieler Experten am Beginn des sechsten großen Artensterbens seit Bestehen dieses Planeten. Die Ursache sind wir.
Die Population des Homo sapiens ist innerhalb von 10.000 Jahren von einer Million auf derzeit 7,8 Milliarden Menschen angewachsen. Die einseitige Nutzung von Ressourcen und Flächen durch den Menschen lastet schwer auf all den anderen Lebewesen, mit denen wir die Erde teilen. Zerstörerisch ist unser Verhalten vor allem deshalb, weil wir uns größtenteils herausgenommen, abgetrennt haben von derNatur. Bis zum Beginn der Industrialisierung war – mit Ausnahme sommerlicher Polarregionen – die Nachtseite der Erde dunkel. Über Hunderte Millionen Jahre hat sich das Leben auf unserem Planeten auf diese Dunkelheit eingestellt. Innere Uhren, die Wach- und Ruhezeiten von Lebewesen steuern, werden stark durch Licht beeinflusst.
Wir müssen anfangen, über die Beleuchtung so zu denken, wie wir es über andere große systembedingte Belastungen wie den Klimawandel tun. (Kevin Gaston)
Doch heute ist kaum mehr dunkel auf der Erde. Mit der Nutzung fossiler Brennstoffe kam seit dem 19. Jahrhundert flächendeckend künstliches Licht in die Welt. Die Nachtseite der Erde ist inzwischen auf riesigen Flächen künstlich erleuchtet, wie Aufnahmen von der Internationalen Raumstation eindrucksvoll zeigen. Dieses menschgemachte Licht spielt bei unserer Loslösung aus den Lebensrhythmen der globalen Artengemeinschaft eine wichtige Rolle – und es beeinflusst das Leben unzähliger Organismen.
Künstliche Lichtquellen haben die Nacht vielerorts abgeschafft, die Zeiträume für Arbeit und Freizeit verlängert. Fast ein Viertel der globalen Landfläche liegt inzwischen unter lichtverschmutzten Nachthimmeln. Dabei sind die meisten Lebewesen auf den natürlichen Wechsel zwischen Tag und Nacht angewiesen.
Dauerlicht beeinflusst und stört die Fortpflanzung, die Kommunikation und die Orientierung. Lichtverschmutzung wird von Expertïnnen inzwischen als ein wichtiger – aber häufig unbeachteter – Grund für das Artensterben, besonders das Insektensterben, angesehen. „Wir müssen anfangen, über die (künstliche) Beleuchtung so zu denken, wie wir es über andere große systembedingte Belastungen wie den Klimawandel tun“, sagt der Ökologe Kevin Gaston von der University of Exeter.
Wechsel von Hell und Dunkel mit allen Lebensprozessen verwoben
Mit dem Denken fängt es an, doch im menschlichen Kopf ist alles, was mit Licht und Helligkeit in Zusammenhang steht, meist unter „gut und wohltuend“ abgespeichert. Wir sehen das „Licht am Ende des Tunnels“, wir bringen „Licht ins Dunkel“, uns „geht ein Licht auf“, wir freuen uns über Lichtblicke im Leben. Als „Lichtmaulwürfe“ hat uns der Schriftsteller Alfred Döblin spitzzüngig beschrieben.
Wenn Motten nur noch um das künstliche Licht herumfliegen, halten sie sich nicht mehr in der Nähe von Pflanzen auf, die sie sonst bestäuben. (Maja Grubisic, IGB)
Was wir dabei gerne übersehen: seit Anbeginn ist alles Leben auf der Erde eingefügt in die festen Größen der harmonischen Bewegungen von Erde, Mond und Sonne – in das Kommen, aber eben auch das Gehen von Licht. Künstliches Licht ist eine evolutionäre Neuheit. Lebewesen können sich, wenn überhaupt, nur begrenzt daran anpassen. Der natürliche Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit ist zu grundsätzlich, zu sehr elementar verwoben mit fast sämtlichen Lebensvorgängen und Prozessen, als dass Lebewesen sich in kürzester Zeit umstellen könnten.
„Lichtverschmutzung ist die Zerstörung des natürlichen Licht-Dunkel-Rhythmus wegen künstlicher Beleuchtung, mit der Folge, dass die Nächte heller werden“, sagt Maja Grubisic vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin. Um die Auswirkungen der Lichtverschmutzung auf ein Ökosystem, auf Insekten, Fledermäuse und Vögel, zu untersuchen, haben Grubisic und ihre Kollegïnnen im Westhavelland, weitab von nachthellen Städten, eine Straßenbeleuchtung installiert.
„Dort sammeln wir beispielsweise Insekten ein und vergleichen den Bestand mit einem identischen Gebiet in der Nähe, in dem es nachts vollkommen dunkel ist“, erklärt die Forscherin. Junge Insekten einiger Arten entwickelten sich unter nächtlichem Lichteinfluss beispielsweise schneller, blieben aber kleiner und produzierten weniger Eier. Licht wirkt sehr unterschiedlich auf die Insekten; einige zieht es an, andere fliegen weg. Warum einige nachtaktive Insekten, die sich an Mond- und Sternenlicht orientieren, so magisch von künstlichem Licht angezogen werden, ist wissenschaftlich noch nicht geklärt; die Auswirkungen jedoch sind unbestritten: „Wenn Motten nur noch um das künstliche Licht herumfliegen, halten sie sich nicht mehr in der Nähe von Pflanzen auf, die sie sonst bestäuben“, sagt Grubisic.
Die Erde in permanenter Festtagsbeleuchtung
Satellitenbilder zeigen es: die Intensität und das Ausmaß der Lichtverschmutzung wächst jedes Jahr um etwa zwei Prozent. „Die Erde wirkt aus dem Weltraum betrachtet wie ein hell erleuchteter Ausflugsdampfer bei einer abendlichen Ausfahrt“, schreibt der Journalist und Astrofotograf Jan Hattenbach. Kein Wunder, dass durch den Lichteinfluss eine Fülle an Lebewesen – Mikroorganismen, Wirbellose, Tiere, Pflanzen, der Mensch – in ihrer Fortpflanzung, Kommunikation, Orientierung und in der Wahl des Lebensraumes beeinflusst wird und Wissenschaftlerinnen fordern, das künstliche Licht mit ins Zentrum der Umweltforschung zu rücken.
Künstliches Licht belastet nicht nur Landlebewesen, schätzungsweise 22 Prozent der Küstenregionen und mit ihnen Wasserorganismen sind ebenfalls betroffen. Kleinste Lebewesen in Seen und Meeren, das Plankton, bewegen sich in einem 24-Stunden-Rhythmus im Wasser auf und ab.
Um Fressfeinden zu entgehen, steigen sie erst in der Dunkelheit in Richtung Wasseroberfläche auf. Viele dieser winzigen Lebewesen reagieren dabei extrem empfindlich auf minimale Lichtmengen. Ruderfußkrebse etwa, die bis zu 50 Meter in der Tiefe des Meeres auf und abwandern, tun dies nur unter dem Einfluss von Mondlicht selbst im arktischen Winter, in dem es andauernd dunkel ist. Kollidieren diese sensitiven Lebewesen mit menschgemachtem, viel intensiverem Licht, werden die Wanderbewegungen massiv gestört. Dass die Menschheit sich vor allem an Küsten ansiedelt, verstärkt auf riesigen Flächen die Beleuchtung des Meerbodens.
Hell erleuchtete Hotels oder Strandpromenaden verwirren regelmäßig den Nachwuchs von Meeresschildkröten (Caretta caretta), die in allen tropischen und subtropischen Meeren beheimatet sind. Normalerweise krabbeln sie angezogen vom „hellen“ Meer, das in der Nacht Mond- und Sternenlicht reflektiert, vom Strand, wo sie geschlüpft sind, in Richtung Wasser. Tausende der Jungtiere verirren sich jedoch auf Parkplätzen und in Swimmingpools, so dass es nur noch ein Bruchteil tatsächlich ins Meer schafft.
Wo sind all die Glühwürmchen hin?
Dass es in Europa immer weniger Glühwürmchen (Lampyris noctiluca) gibt, ist zu einem großen Anteil ebenfalls der künstlichen Nachtbeleuchtung geschuldet. Bei einem Spaziergang in ländlichen Regionen Ost-Englands konnte man in den frühen Sommermonaten noch vor 20 Jahren im Durchschnitt 20 Glühwürmchen antreffen. Aktuell sind es weniger als fünf.
Die weiblichen Glühwürmchen halten erst bei völliger Dunkelheit ihren leuchtenden Bauch in die Nacht. So locken sie die Männchen an, die selbst nicht leuchten. Die männlichen Würmchen können leider auch auf künstliche Lichtquellen „hereinfallen“; bei nächtlichem Licht beginnen die Weibchen außerdem – wenn überhaupt – erst später zu leuchten, zwei Effekte, die den Befruchtungserfolg der Glühwürmchen stark beeinträchtigen.
Bei künstlicher Beleuchtung kommen Frösche und Kröten später aus ihrem Versteck und haben daher weniger Zeit, um Nahrung zu finden. Bei Dunst und Nebel können in der Nähe hell erleuchteter Städte regelrechte Lichtglocken entstehen, die nachts fliegende Zugvögel von ihrem Kurs abbringen.
Licht in den Städten kann sich in Form eines Himmelsglühens bis Hunderte Kilometer weit auswirken. Blau-, Kohlmeisen und Buchfinken starten unter Einfluss künstlichen Lichtes mit ihrem Gesang morgens früher in den Tag. Das mag so schlimm nicht sein. Doch einige Arten, die mehr Licht abbekommen, legen ihre Eier manchmal drei bis vier Wochen früher als ihre Artgenossen. Manchmal kann es dadurch zu Engpässen bei der Nahrungssuche kommen, weil durch die Zeitverschiebung das Futter für den Nachwuchs möglicherweise noch nicht zu finden ist.
Die Effekte künstlichen Lichts müssen sich nicht in jedem Fall unmittelbar negativ auswirken: einige Pflanzen wachsen schneller, einige Fledermausarten gedeihen prächtiger. Amerikanische Krähen wählen, wenn möglich, gerne beleuchtete Schlafplätze, um feindliche Eulen abzuschrecken. Doch insgesamt sind die Auswirkungen heller Nächte zerstörerisch, wenn nicht für wenige einzelne Arten oder Individuen, so doch für das gesamte Netzwerk aller Lebewesen.
Was kann man gegen die Lichtverschmutzung tun?
Wenn es nach Thomas Davies und Tim Smith von der School of Ocean Science am britischen Bangor University Center ginge, sollte im Rahmen der „Global Change“-Forschung unbedingt auch das nächtliche Kunstlicht in den Fokus genommen werden. Ein Grund: der rasante Aufstieg der LED-Beleuchtung. Machten diese Lichtquellen, die ein breites Spektrum an Wellenlängen abstrahlen, vor zehn Jahren noch neun Prozent des Lichtmarktes aus, sind es aktuell rund 70 Prozent.
Doch die LED-Technologie ist einerseits zwar Ursache, könnte andererseits aber auch Lösung des Problems sein. Maja Grubisic hat ermittelt, dass weißes LED-Licht Ökosystemen durchaus schaden kann. Sie warnt davor, dass das effizientere und damit billigere LED dazu verführen könnte, überall eingesetzt zu werden: „In der Regel benutzen wir mehr Licht als wir tatsächlich brauchen und mit LEDs bekommen wir mehr Licht für weniger Geld, da ist die Versuchung besonders groß“, sagt Grubisic. Aber zugleich sieht sie die Chance, dass LED-Licht bewusster und gezielter eingesetzt wird als bisherige Lichtquellen: „LED ist nicht ‚an sich‘ schlimm, die Technologie ist sehr flexibel“, sagt Maja Grubisic.
Die Beleuchtungszeit, Intensität und auch die Spektralzusammensetzung können je nach Nutzung angepasst werden, ein Dimmen ist möglich. In manchen kleineren Städten würden bereits neue dimmbare Straßenbeleuchtungen installiert, manche mit einem besonderen Design, wodurch das Licht auch wirklich nur dorthin falle, zum Boden, wo es benötigt würde.
Die Angst vor dem Nichts
Der Mensch und das Licht, der Mensch und die Dunkelheit – dabei geht es auch um etwas Grundlegenderes als um Straßenlaternen und flackernde Reklameschilder. „Im Zentrum liegt das tiefverwurzelte menschliche Bedürfnis, die Nacht zu erhellen“, sagt Kevin Gaston. In einem gewissen Sinn hätten wir immer noch Angst vor der Dunkelheit.
Wenn der Times Square oder irgendein anderes berühmtes Denkmal in einer großen Stadt dunkel würde, würde das eine beunruhigende Botschaft aussenden. (Marina Koren, The Atlantic)
Doch unsere Möglichkeiten die Nacht in so etwas wie Tage umzuwandeln, hätten wir weit über das eigentliche Notwendige getrieben. Hinter der Angst vor dem Dunkel, steckt die Angst vor dem Nichts und wohl auch dem Tod. Während der schlimmsten Phasen der Corona-Pandemie, als die Straßen leer und Millionen Menschen sich mehr oder weniger drinnen aufhielten, war der Time Square in New York hell erleuchtet. Schilder und Tafeln an den hohen Gebäudetürmen leuchteten und flackerten wie immer, ein Sinnbild für Stärke und Resilienz, wie Marina Koren in „The Atlantic“ schreibt: „Wenn der Times Square oder irgendein anderes berühmtes Denkmal in einer großen Stadt dunkel würde, würde das eine beunruhigende Botschaft aussenden.“
Die Menschen des 21. Jahrhunderts sind in einer künstlich beleuchteten Welt groß geworden – und müssen nun erkennen, dass sie mit diesem Licht ihren Mitbewohnern auf der Erde massiv schaden. Das Lichtproblem anzugehen heißt, Licht sehr bewusst zu nutzen, Gebäude- und Industriebeleuchtung nachts abzuschalten: Dann profitieren alle Lebewesen, auch der Mensch dank deutlicher Zeiten für Ruhe und Regeneration. Und auch ökonomisch ist der Lichtverzicht ein Gewinn: es wird weniger Energie verbraucht, niedrigere Stromkosten werden fällig, die CO2-Emissionen sinken.
Zudem gibt es eine unbezahlbare Belohnung: Der Anblick des Sternenhimmels in einer wirklich dunklen Nacht könnte eines vollbringen, das der moderne Mensch am dringendsten braucht: „Es gibt wahrscheinlich keinen nachhaltigeren Weg, über den sich Menschen wieder mit der Natur verbinden, als ihnen den Anblick der Milchstraße zu ermöglichen“, schreiben die Lichtforscher Thomas Davies und Tim Smith. Und wer sich verbunden fühlt, muss dann vielleicht auch weniger Angst haben vor der Nacht und dem scheinbaren Nichts.
Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.