Das Uhrwerk der Natur

Wie biologische Uhren gebaut sind

35 Minuten
Eine Uhr liegt auf einem rot blühenden Hortensienstrauch. Die Uhr zeigt fünf vor drei.

 Der vierte Teil des Erbe&Umwelt Schwerpunkts zur Chronobiologie widmet sich den Mechanismen der biologischen Uhrwerke in jeder unserer 37 Billionen Körperzellen. Erfahren Sie hier mehr über den Dirigenten hinter den Augen, das Pendel in den Genen, den Medizin-Nobelpreis des Jahres 2017, den Einfluss des Tageslichts, periphere Uhren, den Taktgeber des Mittagsschlafs und den biologischen Kalender.

Selbst die angesehensten wissenschaftlichen Fachzeitschriften wollen Auflagen steigern. Und so kamen die Macher des US-Blatts Science in den 1990er Jahren auf die Idee, immer wieder zu Sylvester eine Hitliste der zehn wichtigsten Forschungsergebnisse des Jahres zu veröffentlichen. Forscher freuen sich, wenn ihr Gebiet vertreten ist. Immerhin zeigt die Ernennung zum „Durchbruch des Jahres“ nicht nur an, wo besonders viel passiert, sie ist auch ein gutes Indiz dafür, welche Trends als viel versprechend und folglich besonders förderungswürdig gelten.

Dass es die Chronobiologie in den ersten Jahren der Auszeichnung gleich zwei Mal in die Top Ten schaffte, dass es für Erkenntnisse aus ihrem Gebiet im Jahr 2017 sogar den Medizin-Nobelpreis gab, spricht für sich: Das Wissen darüber, wie biologische Uhren gebaut sind, wie sie genau funktionieren und wie sie sich korrigieren, ist geradezu explodiert.

1998 war es die Aufklärung wichtiger Moleküle des körpereigenen Zeitmessers, ihrer Gene und ihres biochemischen Zusammenspiels, die zu einem der Durchbrüche des Jahres gekürt wurde. 2002 war es die Entdeckung einer bislang unbekannten Art von Sehzellen in der Netzhaut von Säugetieren. „Die Entdeckung einer neuen Klasse lichtsensitiver Zellen, die helfen, die täglichen Rhythmen des Körpers auf Kurs zu halten, könnten eines Tages dabei nützen, die Effekte von Jetlags oder Winterdepressionen zu bekämpfen“, lautete die Begründung. Sie unterstreicht, wie bedeutsam die neuesten Erkenntnisse der Chronobiologen sind.

Eines der wichtigsten Forschungsobjekte der jungen Wissenschaft war von Anfang an das Uhrwerk der Natur: Was sind die Zahnrädchen der inneren Uhren, haben sie ein Pendel, wie funktionieren ihre Zeiger? Das waren die entscheidenden Fragen. Doch es dauerte lange, bis die ersten beantwortet wurden.

Der Dirigent hinter den Augen

Kaum hatten die Menschen die Existenz biologischer Uhren akzeptiert, fahndeten sie nach ihrem Sitz. Eine Menge Tiere mussten in teils grausamen Experimenten ihr Leben lassen. Doch ohne ihr Opfer läge das Uhrwerk der Natur nach wie vor im tiefen Dunkel. Die Biologen trennten Organe von Säugetieren aus dem Körper, ernährten sie künstlich und untersuchten, ob sie rhythmisch aktiv sind. Sie zerstörten gezielt mehr oder weniger große Teile des Nervensystems und beobachteten, ob die Versuchstiere danach ihr Zeitgefühl verloren.

Doch der große Wurf wollte lange nicht gelingen: Der deutsche Chronobiologie-Pionier Erwin Bünning entdeckte zwar eine „physiologische Uhr im Säugerdarm ohne zentrale Steuerung“, so der Titel einer 1958 erschienenen Publikation. Und Kollegen spürten in Hormon-Drüsen und anderen Organen tagesrhythmische Aktivitäten auf. Doch niemand glaubte, dass an einem dieser Orte tatsächlich das übergeordnete Zentrum biologischer Zeitmessung beheimatet ist. Es handelte sich wohl eher um untergeordnete Rhythmus-Generatoren, die zum Timing einzelner Prozesse, nicht aber des gesamten Körpers beisteuerten.

Doch wie werden diese so genannten peripheren Uhren koordiniert? Sie schwingen allein gelassen weder dauerhaft noch im gleichen Takt. Gesucht wurde nach wie vor der Dirigent, der das rhythmische Geschehen des gesamten Organismus überwacht und mit periodischen Signalen lenkt.

Erst 1972 wendete sich das Blatt: Gleich zwei Forscherteams studierten die Anatomie des Gehirns der Ratte und entdeckten rätselhafte, ungewöhnlich feine Nervenfasern, die von der Netzhaut des Auges nicht wie gewöhnlich zum Sehzentrum in der hinteren Großhirnrinde führen, sondern bereits in einem kleinen Areal des Zwischenhirns enden, das dicht über der Chiasma opticum genannten Stelle liegt, wo sich die Sehnerven kreuzen. Noch im selben Jahr zerstörten Kolleg*innen bei einigen Ratten den winzigen Kern oder Nukleus, wie Hirnforscher*innen derartige Nervenanhäufungen im Gehirn nennen, und registrierten erstaunt, dass die so veränderten Tiere äußerlich zwar völlig gesund waren, aber jeglichen Tagesrhythmus verloren hatten – vom Ruhe-Aktivitäts-Zyklus über die Hormonschwankungen bis zur Periodik der Körpertemperatur.

Die zentrale Uhr war gefunden. Und die feinen Fasern, die vom Auge zu dem rätselhaften Nervenhaufen führen, bringen vermutlich die Lichtsignale zur inneren Uhr, die ihr helfen, mit der Außenwelt im Gleichklang zu schlagen.

Wegen seiner Lage über dem Chiasma wurde das Areal „Suprachiasmatischer Nukleus“ genannt, kurz SCN. Könnte man seinen Zeigefinger von der Nasenwurzel in Richtung Kopfmitte stecken, würde man ihn ungefähr dann berühren, wenn der Finger fast im Kopf verschwunden ist. Der SCN, der eigentlich aus zwei dicht beieinander liegenden ovalen Bündeln besteht, ist doppelt außergewöhnlich: Seine Nerven sind auffallend klein und sie sind extrem dicht gepackt. Bei der Ratte messen die symmetrisch auf beide Hirnhälften verteilten Kerne weniger als einen Millimeter und enthalten rund 16.000 Zellen. Beim Menschen sind sie etwas größer und enthalten rund 50.000 Zellen. Die hervorstechende Struktur war zwar schon 1927 aufgefallen, niemand wusste jedoch, wozu sie gut ist.

In den Jahrzehnten nach seiner Entdeckung gab der SCN immer mehr Geheimnisse preis, aber auch neue Rätsel auf. Forscher ließen einzelne seiner Nerven in Zellkulturen wachsen und beobachteten auch drei Wochen später noch regelmäßige Aktivitätsschwankungen: Tagsüber sind die Nerven elektrisch aktiv, nachts nicht, wobei es egal ist, ob sie von nacht- oder tagaktiven Tieren stammen. Scheinbar ist jede Zelle des Kerns eine eigene Uhr, die signalisiert, es ist Tag. Bei manchen Tieren bewirkt das Signal Ruhe, bei anderen Aktivität.

Dass das Uhrwerk der Natur klein genug ist, um in eine einzelne Zelle zu passen, es also zum Schwingen nicht die Wechselwirkung mehrerer Nervenzellen benötigt, überraschte zu diesem Zeitpunkt kaum noch; wurden innere Uhren doch auch bei Einzellern und Bakterien gefunden. Auch dass der Rhythmus wie bei Organismen, die ohne äußere Einflüsse leben, nicht exakt auf 24 Stunden getaktet ist, schien logisch. Waren die kultivierten Zellen letztlich doch ähnlich von der Außenwelt abgeschnitten wie die Menschen in den Andechser Bunkerexperimenten (mehr dazu im ersten Teil des Chronobiologie-Schwerpunkts: „Erkenntnis aus der Isolation“).

Der entscheidende Beweis, wie wichtig das Nervenbündel im Zwischenhirn ist, gelang 1990. Michael Menaker von der University of Virginia, USA, operierte mit Kollegen einigen Hamstern den SCN heraus, um ihn bei anderen Hamstern einzupflanzen. Vor der Operation hatten die Spender einen angeborenen, zu schnellen Rhythmus und die Empfänger waren normal. Nach der Operation war es umgekehrt. Deutlicher lässt sich die taktgebende Aufgabe des SCN wohl kaum belegen.

Doch solche Transplantate sind nach wie vor physiologisch isoliert. Keine Nerven verbinden sie mit dem Rest des Körpers. Ihre Zellen verhalten sich, als wüchsen sie in Zellkultur. Sie behalten ihre Rhythmik bei, wählen aber einen etwas falschen Takt. Offenbar kann der Körper die Uhr ohne direkten Kontakt nicht mehr korrigieren. Da ist es schon besonders interessant, dass trotzdem der Ruhe-Aktivitäts-Zyklus der Tiere den Signalen des Taktgebers folgt. Es scheint, als empfange das Tier seine Signale nicht auf elektrischem Weg über Nervenverbindungen sondern als chemische Post per Botenmolekül.

Sind also alle Nervenverbindungen zwischen dem Dirigenten hinter den Augen und dem Rest des Körpers nur Eingänge, die ihn mit Informationen über die äußere Zeit versorgen? Nein, im Gegenteil: Als Biolog*innen genauer hinsahen, merkten sie, dass nur das zeitlich Aktivitätsprogramm und der Schlaf-Wach-Rhythmus ohne Nervenverbindungen zum Chronozentrum auskommen. Alle anderen Rhythmen, sei es die pendelnde Hormonausschüttung oder die Schwankung der Körpertemperatur, gehen verloren, wenn man die Nerven zwischen der zentralen biologischen Uhr und dem Rest des Gehirns durchtrennt.

Allmählich wurde klar: Die Nerven des SCN übermitteln ihren Rhythmus nur zum Teil mit chemischen Botenstoffen, vor allem aber mit unzähligen langen Auswüchsen, die in viele verschiedene Zentren des Gehirns führen. Sie enden in Knoten, die wiederum eine Reihe unbewusster physiologischer Prozesse – wie den Blutdruck, die Hormonausschüttung, die Körpertemperatur oder die Arbeit einzelner Organe – kontrollieren. Schließlich reagiert der SCN auch noch auf die vielen rhythmischen Signale des Körpers, die er selbst kontrolliert. Wie der Dirigent eines Orchesters, der mit ernster Miene einen falsch spielenden Geiger zurechtweist, ist auch das Handeln der zentralen Uhr des Lebens ständig vom Feedback geprägt.

Eines der letzten Rätsel des Chronozentrums löste ein Forscherteam um Shun Yamaguchi von der Universität in Kobe, Japan, erst 2003: Wenn jede SCN-Zelle eine eigene kleine Uhr ist, wieso schlagen dennoch alle im gleichen Takt? Zunächst pflanzten die Forscher ein Leucht-Gen in die SCN-Zellen von Mäusen ein, das nur dann einen Leuchtstoff erzeugt, wenn auch ein bestimmtes Uhren-Gen abgelesen wird. Danach beobachteten sie bei mehreren Hundert Zellen zugleich, wann sie aufflackerten. Es wurde klar, dass die Zellen sich automatisch synchronisieren, wenn sie elektrisch aktiv sind. Das Signal einer Zelle scheint die innere Uhr der nächsten anzutreiben und so weiter. Wie beim Herzen, dessen Muskelzellen ebenfalls gekoppelt sind, wandert letztlich eine Erregungswelle von oben nach unten durch den Zellhaufen.

Mittlerweile hat sich das Chronozentrum im Zwischenhirn zu einem neurobiologischen Modellsystem gemausert, an dem auch Neurobiologen interessiert sind. Kaum ein anderer Teil des Gehirns von Säugetieren ist räumlich so gut eingrenzbar und besitzt gleichzeitig eine so klar umrissene, einheitliche Funktion mit gut definierbaren Ein- und Ausgängen wie der Dirigent hinter dem Auge.

Über die vergleichbaren Organe bei anderen Tiergruppen weiß man deshalb weniger. Zwar scheint es nirgends eine derart eindeutige Rollenzuweisung wie bei den Säugern zu geben. Doch tauchen immer wieder enge Verbindungen zwischen biologischer Uhr und Lichtsinn auf, was unterstreicht, wie wichtig der äußere Hell-Dunkel-Rhythmus für die physiologische Zeitmessung ist: Bei Vögeln und Reptilien teilen sich meist die Augen, der SCN und das so genannte Pinealorgan, die Aufgaben. Ins Bild passt, dass das dicht unter der Haut am Hinterkopf sitzende Pinealorgan bei diesen Tieren anders als bei Säugetieren sogar noch lichtempfindlich ist und deshalb auch „drittes Auge“ genannt wird. Unter anderem mit Hilfe des Hormons Melatonin meldet es die Helligkeit an die innere Uhr und korrigiert sie im Zweifelsfall. Auch bei Schnecken und Amphibien sitzt ein zentraler Rhythmusgenerator in den Augen, während er bei den meisten Insekten in den Teilen des Gehirns sitzt, die die Augen steuern.

Bei Schmetterlingen haben Forscher*innen übrigens das Konzept der Transplantationsexperimente auf die Spitze getrieben: Sie tauschten die gesamten Gehirne von Tieren verschiedener Arten aus, die zu unterschiedlichen Tageszeiten schlüpfen. Danach bestimmte das Gehirn des Spenders die Schlüpfzeit. Und das offenbar per Botenstoff-Signal, denn die Hirne wurden der Einfachheit halber einfach in den Bauch der Empfänger gelegt.

Maus und Fliege haben clock

Die Fruchtfliege Drosophila ist das Lieblingstier der Genetiker*innen. In mühsamer Kleinarbeit päppeln sie Generationen von Abertausenden der winzigen Insekten auf, beobachten und testen sie, um so genannte Mutanten herauszufischen, die aufgrund einer genetischen Veränderung anders als die anderen sind. Mit molekularbiologischen Tricks und biochemischem Fleiß sowie über eine gezielte Weiterzüchtung und Manipulation der Tiere versuchen die Wissenschaftler*innen nun das Gen zu finden, das verändert ist. Haben sie es eingekreist, vermehren sie es, bestimmen seine chemische Struktur und erkunden Bau und Funktion des Proteins, dessen Bau es kodiert.

Der wichtigste Hinweis auf die Funktion ist natürlich jene Auffälligkeit, die ursprünglich zur Auswahl der Mutante führte. Sie gibt dem Gen oft auch seinen Namen, der dann auch mehr oder weniger direkt die Funktion beschreibt: hairy macht haarig, hunchback macht einen Buckel – und period bestimmt periodisches Verhalten. Die Entdeckung des letzten Gens in dieser Reihe war 1984 eine chronobiologische Sensation und markierte gleichzeitig die Geburtsstunde der Chronogenetik, der Suche nach den genetischen Grundlagen der biologischen Zeitmessung. Das von ihm kodierte Protein ist nämlich eines der Rädchen im Uhrwerk der Fliegen und damit ist period das erste Gen der biologischen Uhr, das überhaupt dingfest gemacht wurde.

Eine rotäugige Fruchtfliege Drosophila melanogaster vor weißem Hintergrund
Die Frucht- oder Taufliege Drosophila melanogaster ist eines der Lieblingstiere der Genetiker. Kein Wunder, dass bei ihr das erste Uhren-Gen namens period entdeckt wurde.
Sonnenaufgang hinter einer sehr dunklen Wolke, betrachtet aus einem Auto, das auf einer Landstraße fährt.
Licht am frühen Morgen stellt die innere Uhr vor.

Mit dieser Folge endet der vierteilige Schwerpunkt zur Chronobiologie. Als Inhaber*in einer RiffReporter-Flatrate oder Abonnent*in von Erbe&Umwelt konnten Sie alle Teile lesen. Wenn Sie noch nicht dazugehören, beginnen Sie am besten mit dem kostenfreien ersten Teil:

Der Erbe&Umwelt Schwerpunkt Chronobiologie im Überblick

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