Auch Wildnis ist eine kulturelle Leistung
Weltweit verschwindet die Wildnis. In der Schweiz versucht man nun, die Bevölkerung vom Wert freier Naturentwicklung zu überzeugen.
Die Menschen lassen kaum einen Landstrich mehr unberührt. Ihre Spuren sind auf über 70 Prozent der eisfreien Landoberfläche deutlich zu sehen, wie der soeben erschienene Bericht zu Klimawandel und Landnutzung des Weltklimarates IPCC festhält. Ungestörte Ökosysteme sind nicht nur selten geworden, sie verlieren auch ständig an Fläche. Die Wildnis schrumpft und schrumpft. Zwischen 1993 und 2009 sind 10 Prozent der unberührten Natur verloren gegangen, was 3,3 Millionen Quadratkilometern und damit mehr als der Fläche Indiens entspricht: Die Gebiete wurden überbaut, für die Landwirtschaft genutzt oder für die Ausbeutung von Ressourcen vernichtet. Vor allem im Amazonas und in Afrika sind starke Abnahmen zu verzeichnen.
Dabei hat Wildnis wichtige ökologische Funktionen. Sie spielt insbesondere für die Biodiversität eine bedeutende Rolle, ist sie doch ein Rückzugsort für Arten, die durch den Menschen unter Druck gekommen sind. In der wilden Natur können sich Tiere und Pflanzen ungestört vom Menschen entwickeln. Wildnis wird damit zu einem wertvollen Reservoir genetischer Informationen; Informationen, die später als Referenz genutzt werden können, um degradierte Landstriche in wildere Gebiete zurück zu verwandeln. So wird etwa der äussert selten gewordene Pardelluchs in Spanien und Portugal in einem Wiederansiedlungsprojekt gezüchtet – durchaus mit Erfolg. In den letzten Jahren hat sich zudem gezeigt, dass Wildnis nicht nur viel Kohlendioxid zu speichern vermag, sondern auch als Puffer gegen den Klimawandel dient: Je wilder ein Gebiet ist, desto besser ist es gegen negative Auswirkungen der Klimaerwärmung geschützt.
Doch derzeit verteilen sich 70 Prozent der verbleibenden Wildnisgebiete auf gerade einmal fünf Staaten: Russland, China, Australien, die USA sowie Brasilien. Dass dort die Wildnis weiterhin in akuter Bedrängnis ist, demonstriert gerade der neue brasilianische Staatspräsident Jair Bolsonaro, unter dem die Abholzung des Amazonasregenwaldes wieder stark voranschreitet.
Doch wie sieht es eigentlich bei uns aus? Gibt es in den hochindustrialisierten und dichtbesiedelten Ländern Europas überhaupt noch Wildnis?
Vollkommen vom Menschen unberührte Gebiete gibt es in Europa fast keine mehr. Doch es finden sich noch Regionen, die nahe ans Ideal einer Wildnis herankommen, die also naturnah und kaum erschlossen sind, da sie weit ab von menschlichen Siedlungen liegen. Vor allem Nordeuropa mit seinen borealen Wäldern zeichnet sich durch solche wilden Räume aus (eine Karte zu europäischen Wildnis findet sich in „Europe’s ecological backbone: recognising the true value of our mountains“, EEA Report No 6/2010, Seite 197).
Weniger wild sind hingegen Deutschland, Österreich und die Schweiz. Diese drei Länder haben in den vergangenen Jahren den Zustand ihrer Wildnis untersuchen lassen. Die Resultate lassen sich allerdings nicht so ohne weiteres miteinander vergleichen, denn eine einheitliche Definition von Wildnis existiert genauso wenig wie eine standardisierte Methode zu deren Quantifizierung.
Was genau unter Wildnis verstanden wird, unterscheidet sich meistens von Studie zu Studie. Oft werden aber die Kriterien „Natürlichkeit“, „Grad menschlicher Einflüsse“, „Abgeschiedenheit“ sowie „Rauheit der Topographie“ (ein raues Terrain verfügt über eine vergleichsweise hohe Vielfalt an Lebensräumen) beigezogen, um die Wildnisqualität eines Gebietes zu bestimmen. Zudem sollten diese Räume nicht oder nur wenig fragmentiert sein sowie eine gewisse Mindestgrösse aufweisen, damit natürliche Prozesse möglichst ungestört ablaufen können: Tiere wie der Bär oder der Wolf benötigen eine gewisse Reviergrösse, um sich auszubreiten.
Kaum mehr Wildnis in Deutschland
In Deutschland können nur noch etwa 0,7 Prozent der Landesfläche als Wildnis bezeichnet werden. Das Bild hellt sich auf, wenn man Gebiete berücksichtigt, die eine sehr naturnahe Qualität bewahrt haben und sich wieder zu Wildnis zurückentwickeln können, falls man die Extensivierung zulässt oder Nutzungen aufgibt (zum Beispiel auf ehemaligen Truppenübungsplätzen). So gerechnet, verfügen 3,5 Prozent der Landesfläche Deutschlands über Wildnispotenzial. Dieses Potenzial will man zumindest teilweise ausschöpfen: Gemäss der Nationalen Strategie für biologische Vielfalt strebt Deutschland bis 2020 einen Wildnis-Anteil von zwei Prozent der Landesfläche an. Die Initiative „Wildnis in Deutschland“, die von vielen Naturschutzorganisationen unterstützt wird, setzt sich dafür ein, dass dieses Ziel erreicht wird. Im Ammergebirge (Bayern) soll zum Beispiel eine Nationalpark errichtet werden.
Besser als Deutschland schneidet Österreich im Wildnis-Rating ab. Dort schätzt der WWF die Gebiete mit Wildnispotenzial auf immerhin sieben Prozent der Staatsfläche. Die Naturschutzorganisation Österreich kämpft dafür, dass diese Gebiete in den kommenden Jahren vor einer Erschliessung und vor Infrastrukturbauten geschützt werden. Auch versucht man, Waldreservate durch Korridore, die Wildtiere nutzen können, miteinander zu verbinden.
Die neuste Wildnis-Studie stammt aus der Schweiz. Im mitteleuropäischen Vergleich verfügt das kleine Land mit rund 17 Prozent der Landesfläche über einen grossen Anteil an Räumen, die naturnah und einer unberührten Natur sehr nahe kommen.
Dieses gute Abschneiden verdankt die Schweiz ihrer geographischen Lage, denn die wilden Gegenden liegen in den Alpen und Voralpen. Und ganz wild wird es dort, wo kaum jemand hinkommt: im Hochgebirge rund um die Gletscher. Das Prädikat „wildestes Gebiet der Schweiz“ trägt denn auch das Aletschgebiet, wo der grösste Gletscher der Alpen seine noch gewaltigen Eismassen an die Bergflanken drückt.
Wie in Deutschland und Österreich sind die wilden Räume in der Schweiz bei weitem nicht umfassend geschützt. Und umgekehrt schaffen es bestehende Schutzgebiete, die mit dem Prädikat „Wildnis“ für sich werben, nicht auf die obersten Plätze der Wildnis-Rangliste. So wird der Schweizerische Nationalpark – gemäss den Kategorien der Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) ein „strenges Naturreservat“ – von einer stark befahrenden Passstrasse durchschnitten, was seiner Wildheit abträglich ist. Und der „Wildnispark Zürich“, ein Waldstück vor den Toren Zürichs, das seit ein paar Jahren sich selbst überlassen wird, ist (noch) zu wenig verwildert sowie flächenmässig zu klein, um gemäss den in den Studien angewandten Kriterien als Wildnis gelten zu können.
Die Resultate der Schweizer Studie sollen nun als Grundlage dienen, um die letzten wilden Gebiete zu bewahren. Die Nichtregierungsorganisation „Mountain Wilderness Schweiz“, die federführend an der Studie beteiligt war, fordert, dass die Räume mit der höchsten Wildnisqualität, wie zum Beispiel das Aletschgebiet, weder genutzt noch erschlossen werden. „Solche ikonische Wildnis darf nicht verschwinden“, sagt Sebastian Moos, Projektleiter bei Mountain Wilderness Schweiz und Mitautor der Wildnis-Studie: „Dort erträgt es schlicht keine Eingriffe.“ Zu denken ist dabei an touristische Erschliessungen oder Infrastrukturbauten der Energiewirtschaft.
Auch die etwas weniger wilden Gebiete sollen erhalten und im besten Fall erweitert werden. Neubauten, die den wilden Charakter einer solchen Gegend schmälern, müssten verhindert werden, Infrastrukturen, die nicht mehr benötigt werden, sollten zurückgebaut werden, sagt Sebastian Moos.
Dies könne aber nur mit dem Willen der betroffenen lokalen Bevölkerung geschehen, betont er. Denn oft zeige sich: Während Städterinnen und Städter gegenüber der Wildnis eine positive Haltung einnehmen, stehe man ihr dort, wo es sie noch gibt, kritisch bis ablehnend gegenüber. In den vergangenen Jahren sind in der Schweiz Projekte für die Errichtung neuer Nationalparks jeweils von den betroffenen Gemeinden in Volksbefragungen abgelehnt worden.
Naturschutz ja, mehr Wildnis nein
Eine skeptische Haltung nehmen auch die paar Hundert Einwohner des Maderanertals ein, einem engen, von hohen Bergen umgebenen, urwüchsigen und noch naturnahen Tal im Kanton Uri. Im Zusammenhang mit der Schweizer Wildnis-Studie wurden die dort Ansässigen zu ihrem Verhältnis zur Natur, zur freien Naturentwicklung und zur Wildnis befragt. Die Einwohnerinnen und Einwohner bekunden zwar eine sehr nahe Beziehung zur Natur in ihrem Tal, sie schätzen sowohl die Schönheit wie auch den ökonomischen Wert naturnaher Gebiete für den Tourismus. Auch sehen sie sich in der Verantwortung, diese Natur zu bewahren. Doch gleichzeitig lehnen sie es ab, bisher genutzte Gebiete der freien Naturentwicklung zu überlassen und so mehr Wildnis zu schaffen.
Einen Grund dafür sehen die Studienautoren in einem traditionellen Mensch-Natur-Verhältnis, das den Menschen über die Natur stellt. Lässt man nun der Natur ihren freien Lauf, wird dieses hierarchische Verhältnis demontiert: Die Natur wird dem Menschen nicht mehr als untergeordnet begriffen, sondern als ebenbürtig.
Die Bewohner des Maderanertals verstehen sich als Verwalter und Gestalter der Natur. Seit Jahrhunderten betreiben sie Landwirtschaft und versuchen, die Naturgefahren (Lawinen, Bergstürze) zu bändigen. Wenn sie die Natur jetzt ihren eigenen Gesetzen überliessen, befürchten sie, die Kontrolle zu verlieren. Dieser Kontrollverlust wiegt schwer und begründet die eher negative Haltung gegenüber dem Ruf nach mehr Wildnis.
Interessant ist zudem, dass selbst Fachleute kritisch auf mehr Wildnis reagieren, wenn davon ihre eigene Umgebung betroffen ist. So wurden in der Schweizer Studie auch Fachpersonen aus kantonalen Verwaltungen zum Wildnis-Schutz befragt. Die meisten von ihnen sind zwar der Ansicht, dass es diesen braucht, im eigenen Kanton lehnt jedoch fast die Hälfte einen solchen Schutz ab.
Für Sebastian Moos und seine Mitstreiter von „Mountain Wilderness Schweiz“ ist daher klar: Ein positiveres Verhältnis der Bevölkerung gegenüber Wildnis ist notwendig. „Solange Wildnis nur mit Verlusten in Verbindung gebracht wird, wird es schwierig sein, diese zu bewahren oder gar zu erweitern“, sagt Sebastian Moos.
Wildnis neu deuten
Dass Wildnis mehr Wohlwollen entgegengebracht wird, daran arbeitet Sebastian Moos derzeit mit seinen Kollegen im Val Müstair, einem abgelegenen, zwischen dem Schweizerischen Nationalpark, der Lombardei und Südtirol eingeklemmten Tal im Kanton Graubünden. Das „Mountain Wilderness“-Büro haben sie für drei Wochen von der Bundesstadt Bern hierher verlegt, um sich mit den Einheimischen über über nachhaltigen Bergsport, das Verständnis von Wildnis sowie die wirtschaftlichen Herausforderungen eines strukturschwachen Tals auszutauschen. „Wir versuchen herauszufinden, wie die Menschen über ihr Tal denken und wie wir zusammen mit ihnen ein positives Beispiel schaffen können, bei dem die freie Naturentwicklung als Gewinn und nicht als Verlust erfahren wird“, sagt Sebastian Moos.
Dies könnte gemäss der Schweizer Wildnis-Studie auch mit einer Umdeutung des Begriffs „Wildnis“ gelingen. Statt wie meist üblich die Wildnis als „stark“, „eigenständig“ und vom Menschen „unabhängig“, sollte sie vielmehr als eine vom Menschen kontrollierte Entwicklung verstanden werden.
„Wenn es uns gelingt, Wildnis als eine kulturelle Leistung des Menschen zu sehen, braucht sie gar nicht unbedingt einen eigenen rechtlichen Schutzstatus“, sagt Sebastian Moos: „Die Menschen würden eine solche Wildnis als ihre eigene Landschaft verstehen und ihren Bestand garantieren wollen, denn sie selber haben ja entschieden, der Natur ihren freien Lauf zu lassen.“
Literatur: Sebastian Moos u.a., Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz. Haupt Verlag, Bern 2019.