„Der Wolf ist zwischen die Fronten eines Glaubenskriegs geraten“
Der Wolfsforscher und Experte für Mensch-Wildtierkonflikte John Linnell über gefühlte und tatsächliche Gefahren durch Wölfe, die Bürde alter und neuer Mythen und den neuen Vorschlag der EU-Kommission, das Raubtier leichter zum Abschuss freizugeben.
Seit gut 20 Jahren sind Wölfe wieder heimisch in Deutschland – 100 Jahre nach ihrer Ausrottung. Mit der Rückkehr der Beutegreifer begann die Debatte darüber, ob sie noch einen Platz haben in einer vom Menschen geprägten Kulturlandschaft. Immer mehr Bundesländer erleichtern die Tötung von Wölfen, die Weidetiere erbeuten. Auch Bundesumweltministerin Steffi Lemke tritt dafür ein, Wölfe leichter töten zu können. Nun hat auch die EU-Kommission eine Initiative mit dem Ziel gestartet, Wölfe europaweit leichter legal bejagen zu können. Über das schwierige Verhältnis zwischen Mensch und Wolf sprachen wir mit John Linnell. Linnell ist leitender Wissenschaftler am Norwegischen Institut für Naturforschung in Trondheim und Professor für Wildtiermanagement an der Inland Norway University of Applied Science. Er ist einer der international führenden Experten in Fragen von Mensch-Wildtierkonflikten und analysiert weltweit Fälle von Wolfsangriffen auf Menschen.
Die Debatte über den Wolf wird in vielen Ländern der EU hitzig geführt. Meist geht es um den Schutz von Weidetieren, aber auch um die Furcht vor Attacken auf Menschen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die Konzentration von Wolfsrudeln in manchen europäischen Regionenals eine potenziellen Gefahrfür Menschen bezeichnet und dafür viel Kritik geerntet. Wie groß ist die Gefahr für Menschen durch Wölfe wirklich?
Wolfsangriffe auf Menschen sind in Europa extrem unwahrscheinlich. Das Risiko durch einen Zeckenbiss, einen Wespenstich oder als Folge eines Autounfalls getötet zu werden, der durch ein Reh oder einem Wildschwein verursacht wird, ist astronomisch höher als durch einen Wolf. Sogar in Deutschland dürfte das Risiko, an einem Schlangenbiss zu sterben, größer sein.
Beitreibt von der Leyen also nur Panikmache?
Festzustellen, dass die Gefahr für Menschen äußerst gering ist, bedeutet nicht, dass sie gleich Null wäre. Es gibt einen gut belegten Fall einer Frau in Alaska, die 2010 beim Joggen nahe eines sehr entlegenen Dorfs bei Tageslicht Opfer eines Wolfes wurde. Keine der gängigen Erklärungen trifft hier zu: Der Wolf hatte keine Tollwut, es gab ausreichend Wildtiere als Nahrung, es lag weder eine Gewöhnung an Menschen vor, noch wurde zuvor ein auffällig zutraulicher Wolf in der Gegend gesehen: Das war offenbar ein reiner Angriff eines Raubtiers zum Beutemachen auf einen Menschen. Das zeigt: Man kann nie nie sagen.
Steigt denn mit der Zahl der Wölfe in Europa auch die Gefahr von Angriffen auf Menschen?
In gewisser Weise ja. Aber es geht von sehr, sehr, sehr, sehr gering zu sehr, sehr, sehr gering. Die Zahl der Fälle ist so klein, dass sich die Wahrscheinlichkeit statistisch nicht sinnvoll berechnen lassen. Aber theoretisch ist das Risiko größer geworden. Wenn es keine Wölfe gibt, gibt es kein Risiko. Das Risiko geht also von Null zu etwas winzigem. Aber es ist größer als das vorherige.
Wenn das Risiko so minimal ist – warum verfängt dann immer noch die Angst vor dem Wolf?
Wenn die Debatte um die Gefahr durch den Wolf für die Menschen quasi mit einem leeren Blatt Papier beginnen und ausschließlich faktenbasiert führen würden, wäre sie rasch am Ende: Wir müssen uns – zumindest was uns Menschen angeht – in Europa keine ernsthaften Sorge machen. Die Sache ist aber die: Wir starten nicht mit einem unbeschriebenen Blatt. Mensch und Wolf verbindet eine lange Kulturgeschichte miteinander. Wohl kein Tier hat so viele Geschichten, Märchen, Legenden und Sagen hervorgebracht, wie der Wolf.
Und die sind fast immer – siehe Rotkäppchen – wenig vorteilhaft für das wilde Tier …
Das ist die Ausgangslage, wie wir den Wolf betrachten. Als blutdurstige und gefährliche Kreaturen, die Kinder fressen und Leichen ausgraben. Der Wolf ist sicher die Tierart, die am wenigsten einfach wie ein Wildtier betrachtet wird. Das ist einzigartig: Es gibt keine Mythologie um Zecken herum. Es gibt einfach keine Debatte. Jeder weiss, sie sind unangenehm, manchmal sehr gefährlich. Das historische Verhältnis zwischen Mensch und Wolf dagegen ist eine ziemlich schwere Bürde für einen sachlichen Umgang. Der Wolf ist zu einem Symbol für alles mögliche geworden. Er kann nicht mehr nur ein wildes Tier sein.
Die alten Schauermärchen wirken bis heute?
Ja, aber wir sollten dabei aber auch nicht vergessen, dass in den blutigen Erzählungen einen Kern aus Wahrheit gibt, der allerdings über Generationen und Jahrhunderte hinweg durch Märchen, Legenden und Geschichten aufgeblasen wurde – und natürlich auch durch die politische Instrumentalisierung. Der Wolf kehrt hundert Jahre nach seiner Ausrottung zum Beispiel in Deutschland mit einer schweren Bürde kultureller und sozialer Geschichte zurück. Darin spielt das Wort 'Gefahr' eine Schlüsselrolle und das Tier wird dadurch jenseits jedes wahren Kerns zur Metapher für Gefahr schlechthin. Darauf zu reagieren, indem wir den Wolf in einer Art Überkompensation völlig verharmlosen, ist aber sicher das falsche Mittel.
Sehen Sie eine Tendenz zur Verharmlosung?
Wir erleben seit einiger Zeit das Aufeinanderprallen zweier Mythen. Es gibt eine kulturhistorische Erzählung, die wirklich blutig ist und es gibt eine Art Disney-Version, die in die andere Richtung übertreibt. Dem Mythos der Bestie wird ein neuer Mythos des guten Wesens entgegengestellt, nach dem Wölfe niemals gefährlich und völlig „unschuldig“ seien und nur die alten und kranken Tiere fräßen. Beide Erzählungen helfen uns nicht weiter und führen nur zu weiterer Polarisierung.
Wie kann dieser Mystifizierung begegnet werden?
Wir sollten versuchen, eine Einschätzung der Wirklichkeit zu bekommen, die so objektiv wie möglich ist. Beide Seiten haben einen Punkt. Die historische Konstruktion des Wolfsbildes war nicht nur symbolisch. Sie beruhte im Kern auf realen Ereignissen, die natürlich über die Zeit überhöht wurden. Aber es gab in früheren Zeiten sicher eine Menge Menschen, die Wölfen zum Opfer fielen. Wenn wir uns aber Europa in der neueren Zeit ansehen, sind die Risiken ganz klar extrem gering. Aber sie sind eben nicht Null. Der Wolf ist weder eine zuckersüße Disney-Figur noch ist er eine blutrünstige Bestie.
Wann können Wölfe nach Ihrer Einschätzung auch hier für Menschen zu einer Gefahr werden?
Die absolute Überzahl an Attacken von Wölfen auf Menschen geht von tollwütigen Wölfen aus. Die Ausrottung der Tollwut in Europa st aus vielen Gründen wichtig – für das Zusammenleben mit dem Wolf ist sie entscheidend. Im westeuropäischen Kontext ist die Situation damit sehr entspannt. Hier wäre ich am vorsichtigsten, wenn einzelne Wölfe anfangen, ein problematisches Gewöhnungsverhalten an Menschen an den Tag zu legen. Fütterungen durch den Menschen müssen deshalb tabu sein. Wölfe sind neugierig, sie testen. Und dann wird es kompliziert. Eine übermäßige Gewöhnung hängt meistens mit Nahrungskonditionierung zusammen. Es gibt diesen berühmten Spruch in amerikanischen Nationalparks: „a fed bear is a dead bear“ (Ein gefütterter Bär ist ein toter Bär). Wir sollten ähnlich über den Wolf denken.
Halten Sie es auch für ein Problem, wenn Wölfe in der Nähe von Dörfern oder auf Wanderwegen gesehen werden?
Dass Wölfe immer mehr auch im Agrarland leben und nicht nur in tiefen Wäldern und dass man sie in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland auch sieht, wenn sie Straßen überqueren oder Häuser passieren: darin sehe ich kein Problem. Das zeigt nur, dass Wölfe ihr Leben in der von uns geprägten Umgebung leben können. Es ist beeindruckend zu sehen, wie gut sie sich anpassen können. Das Problem beginnt, wenn ein Wolf bei einer direkten Begegnung mit einem Menschen keine Scheu mehr zeigt. Dann ist Aufmerksamkeit und notfalls Eingreifen nötig.
Gibt es eine goldene Regel zum Umgang mit dem Wolf?
Der beste Umgang ist, den gesunden Menschenverstand zu nutzen. Man sollte sich einem Wolf gegenüber so verhalten, wie man sich einem streunenden Rottweiler oder Schäferhund gegenüber verhalten sollte. Ohne Panik und Angst, aber mit der gleichen Vorsicht und Respekt wie vor einem großen Hund, der herumstreunt. Der Wolf ist eben ein großes Tier mit Zähnen. Wenn wir das als Grundregel nehmen, kommen wir sehr, sehr weit im zusammenleben.
Der Wolf ist längst auch zu einem Politikum geworden. Populistische Parteien und Politiker versuchen, mit einer besonders harten Linie Unterstützung zu finden. Macht das die Sache noch komplizierter?
Wölfe und Fremde: beide sind als Symbole für alles mögliche zu einem festen Bestandteil der populistischen Bewegungen geworden. Der Wolf wird zum Sündenbock gestempelt und ein möglich hartes Vorgehen gegen ihn wird als Beruhigungspille für ganz andere Probleme verkauft. Die wirkt aber nicht, denn eine noch so aggressive Wolfspolitik baut keine Schulen auf dem Lande und sie hält die jungen Leute nicht davon ab, in die Städte zu gehen, weil es keine Arbeitsplätze gibt. Der Kampf gegen den Wolf eröffnet keine neuen Bäckereien, er bringt keine neue Buslinie, keinen Zahnarzt oder Pfarrer in ein kleines Dorf zurück.
Warum wird er dennoch so erbittert geführt?
Wir übersehen, dass es beim Mensch-Wolf-Konflikt häufig weniger um fachliche Fragen des Herdenschutzes oder der Gefährdung von Menschen geht. Deshalb können wir argumentieren, wie wir wollen: Es hilft wenig, weil der erbitterte Streit Pro oder Contra Wolf im Kern ein Konflikt zwischen unterschiedlichen Glaubenssystemen ist – zwischen Gruppen mit grundlegend unterschiedlichen Ansichten darüber, ob wir Tiere töten dürfen oder es sogar müssen, wie unsere Natur aussehen sollte und wie der Mensch mit der Natur interagieren sollte. Der Kampf um den Wolf ist eine weitere Frontlinie in den vielen Kulturkriegen, die die europäische Politik und Gesellschaft polarisieren.Der Wolf ist zwischen die Fronten eines Glaubenskriegs geraten.
Die EU-Kommission möchte den Schutzstatus für den Wolf absenken. Sie kommt damit den Wünschen großer Interessensgruppen nach – denen von Jägern und Landwirten mit Weidetieren. Was halten Sie von diesem Vorstoß?
Wenn man die Sache aus einer reinen Artenschutzperspektive betrachtet, macht es durchaus Sinn. Die Wolfspopulationen nehmen zu, ihre Erhaltung war ein Erfolg, so dass ein strenger Schutz für viele Populationen nicht mehr notwendig ist. So werden ja beispielsweise auch die Roten Listen der Internationalen Naturschutzunion IUCN alle paar Jahre aktualisiert – neue Erkenntnisse werden genutzt, um den Bedrohungsstatus einer Art entweder zu erhöhen oder zu verringern. Und das Gesamtbild für Wölfe ist klar – sie breiten sich aus.
Sie unterstützen das Vorhaben also?
Ich glaube, dass die Änderung des Schutzstatus jeder Art im Lichte neuer Erkenntnisse wichtig sein kann. Die Höherstufung seltener Arten motiviert dazu, mehr für ihren Erhalt der Art zu tun. Und eine Anpassung des Status an gestiegene Bestände durch Herabstufung kann auch helfen sicherzustellen, dass die Menschen die Logik solcher Rechtsvorschriften zum Artenschutz akzeptieren.
Das Ziel hinter der Abschwächung des Schutzstatus ist erklärtermaßen, darüber den Weg für die legale Bejagung von Wölfen in der ganzen EU zu erleichtern. Wird es soweit kommen?
Die Änderung des Schutzstatus sollte nicht einem bestimmten Interesse verbunden werden, sondern sich ausschließlich auf die Frage beziehen, ob die Art dieses strenge Schutzniveau zum Überleben benötigt. Für Änderungen sowohl in der Berner Konvention als auch anschließend in der entsprechenden EU-Richtlinie gibt es erhebliche Vorbedingungen. Im Endeffekt bedeutet dies, dass die EU intern eine vollständige Einigung erzielen muss – alle 27 Mitglieder müssen zustimmen.
Dann wäre der Wolf jagdbar wie ein Reh?
Nein. Sollte es dazu kommen, hätte der Wolf immer noch den Status eines geschützten Tieres. Die einzelnen Länder wären weiterhin in derselben Pflicht wie heute, für die Art einen günstigen Erhaltungszustand zu erreichen oder ihn beizubehalten. Insgesamt dürften die Änderungen keine wirklichen Auswirkungen auf den Erhaltungsstatus des Wolfes haben. Sie würde es den Mitgliedstaaten aber ermöglichen, eine sorgfältig regulierte Form der Jagd zuzulassen, ohne dass sie dies gegenüber der Europäischen Kommission in der gleichen Weise wie heute rechtfertigen müssten.