Schlaflose Jugend in Deutschland
„Erbe&Umwelt“-Umfrage liefert erschreckende Ergebnisse.
Die Schule beginnt hierzulande fast überall zu früh. Viele Kinder und Jugendliche müssen mitten in der Nacht aufstehen. Aber es gibt Lösungen.
Es ist morgens früh, viertel nach sieben, in irgendeiner x-beliebigen deutschen Kleinstadt. Noch ist es stockdunkel.
Zunächst wirkt alles menschenleer. Völlig ausgestorben. Das ändert sich aber, sobald ich mich dem Bahnhof nähere. Immer mehr Kinder und Jugendliche drängeln sich auf der Straße. Doch irgendetwas stimmt nicht. Ganz allmählich wird mir klar: Diese Kinder sind so still. Kaum eines lacht oder redet. Den Gesichtern fehlt vor lauter Schlaftrunkenheit die Mimik. Es sind Schüler*innen, die aus der Umgebung mit der Bahn angereist sind und nun flugs zur Schule müssen. Es werden immer mehr. Die Szenerie wird immer gruseliger. Wie seltsam „untot“ oder „seelenlos“ wirkt diese Jugend. Aber es sind definitiv keine Zombies.
Die meisten gehen in kleinen Grüppchen, manche auch alleine. Sie latschen schlurfenden und langsamen Schrittes, oft auch gesenkten Hauptes vor sich hin, mittlerweile fast schon massenhaft. Wie ferngesteuert zieht es sie voran. Je später es wird, desto hastiger und freudloser werden sie. Die Stille ist unerträglich. Sie ist beklemmend.
Erwachsene sehe ich auf dem gesamten zwanzigminütigen Weg vom Hotel zum Bahnhof nicht. (Die nehmen ja meist das Auto, wenn sie früh zur Arbeit müssen.) Lachen höre ich so gut wie keines. Laute Stimmen schon gar nicht. Mir begegnen nur diese völlig verschlafenen und verhuschten „Würmchen“, die teilweise wohl schon zwei Stunden zuvor von ihren Eltern aus den Träumen gerissen worden sind. Sie mussten rechtzeitig den Vorortzug zur Schule erwischen. Grauenhaft. Und so überflüssig.
Der Name der Kleinstadt tut nichts zur Sache. Solche Städte gibt es in Deutschland überall. Die logische Konsequenz: Die meisten Schüler werden hierzulande niemals richtig wach. Fast alle schlafen viel zu wenig. Der durchschnittliche Grundschüler sollte zehn bis elf Stunden schlafen. Selbst Zwölfjährige brauchen im Mittel neuneinhalb Stunden Schlaf, Teenager neun Stunden. Wie soll das gehen, wenn die Schule schon um acht Uhr oder früher beginnt?
Am schlimmsten ist die Lage in den fortgeschrittenen Jahrgängen. „Nur acht Prozent der Jugendlichen schlafen werktags so viel, wie es gängigen Empfehlungen entspricht“, fand der Priener Schlafmediziner Ulrich Voderholzer schon vor Jahren heraus. Die Situation hat sich nicht gebessert. Im Gegenteil: Neunt- und Zehntklässler schlafen unter der Woche in Deutschland fast zwei Stunden weniger als sie sollten. Nicht etwa in der ganzen Woche – nein, in jeder Nacht, immer wieder, von Montag bis Freitag. Das können die Jugendlichen auch dann nicht am Wochenende aufholen, wenn ihre Eltern sie „bis in die Puppen“ schlafen lassen.
Dieses Resultat einer repräsentativen Befragung veröffentlichte die Krankenkasse DAK-Gesundheit gerade erst im „Präventionsradar 2018“. Fast gleichzeitig publizierten Schlafforscher aus Seattle, USA, eine Studie, die zeigt, was zumindest für Teenager eine der simpelsten und effektivsten Lösungen wäre: den morgendlichen Schulbeginn nach hinten zu verlegen.
Was die Jugend in der ersten Stunde lernt, vergisst sie sowieso wieder
Viele Lehrer sind überzeugt: Die erste Stunde könnte man in der Regel ersatzlos streichen. Was die Jugend zwischen acht und neun Uhr morgens lernt, vergisst sie sowieso wieder. Schlafforscher, die sich mit den Folgen von Schlafmangel auskennen, oder Chronobiologen, die erkunden, welchen individuellen Schlaf-Wach-Rhythmus unsere Biologie vorgibt, wundern solche Behauptungen nicht. Als zuständige Experten weisen sie schon seit Jahren darauf hin, dass zumindest Jugendliche ab einem Alter von zehn bis zwölf Jahren, die um acht Uhr oder früher in der Schule sein müssen, „biologisch gesehen mitten in der Nacht unterrichtet werden“, so nahezu wortgleich der Münchner Chronobiologe Till Roenneberg und der Regensburger Schlafforscher Jürgen Zulley.
Neben dem erhöhten Schlafbedarf haben die Jugendlichen nämlich ein zweites Problem: Ihre biologische Uhr tickt verzögert. Forscher haben inzwischen in vielen Studien gezeigt, dass Teenager nahezu komplett in Richtung „später Chronotyp“ oder Eule tendieren – meist sogar extreme Eulen sind. Anders als bei Klein- und Grundschulkindern sowie Erwachsenen ab etwa 25 Jahren, fehlen in dieser Altersgruppe die so genannten Lerchen oder Frühaufsteher. Selbst wer chronobiologisch aufgrund bestimmter von den Eltern geerbter Genvarianten eine Lerche ist, wird zwischen 12 und 25 Jahren zur moderaten Eule, wer ohnehin zur Eule tendiert, wird zu einer Art „Monster-Eule“.
Es nützt in der Regel nichts, Jugendliche früher ins Bett zu schicken
Dadurch werden im Grunde alle Jugendlichen abends relativ spät müde und wachen morgens sehr spät auf – zumindest, wenn man sie lässt. Es nutzt ihnen auch nichts, wenn die Eltern sie früher zu Bett schicken. Im Gegenteil: Dann können sie oft nicht einschlafen, vertreiben sich die Zeit gerne mit ihren Smartphones, was zusätzlich Schlaf raubt oder entwickeln schlimmstenfalls eine Schlafstörung.
Weil es jedoch auch bei Jugendlichen manche gibt, deren innere Uhr im Vergleich mit Altersgenossen extra stark verzögert tickt, hat das Problem noch eine zweite Dimension: Einer niederländischen Studie aus dem Jahr 2015 zufolge, sind Klausuren erst dann gerecht, wenn sie um die Mittagszeit geschrieben werden. Zuvor haben die besonders ausgeprägt zur späten Rhythmik neigenden Schüler*innen einen klaren Nachteil.
Über diese und viele weitere wissenschaftliche Resultate zum Thema habe ich unlängst bereits RiffReporter Online-Magazin Erbe&Umwelt berichtet.
Der Artikel löste viele Reaktionen und auch einige Diskussionen aus. Ich beschloss deshalb, der Sache genauer auf den Grund zu gehen: Fängt die Schule in Deutschland wirklich so früh an, wie immer behauptet wird? Wen trifft es besonders hart? Wo sollte man ansetzen, um das Problem für alle Seiten halbwegs befriedigend zu lösen? Und wer entscheidet letztlich über den morgendlichen Schulbeginn?
Deshalb habe ich alle Bundesländer angeschrieben. Und ich habe eine Umfrage in sozialen Netzwerken und hier bei RiffReporter gestartet. Daran beteiligten sich erstaunlich viele Schüler*innen und Eltern. Die Resultate sind zwar nicht repräsentativ, aber immerhin sind die Schul- und Aufstehzeiten von fast 400 Kindern und Jugendlichen zusammengekommen. Ich bin dankbar für die große Beteiligung. Sie bringt etwas mehr Licht ins Dunkel um den Schulbeginn in Deutschland. Und das ist bitter nötig.
Wir werden nicht darum herumkommen, den Schulbeginn nach hinten zu verlegen
Im Folgenden möchte ich die Ergebnisse und Antworten präsentieren. Ich will erklären, warum wir nicht darum herumkommen werden, zu allererst den Schulbeginn nach hinten zu verlegen. Und ich werde zeigen, dass es noch eine Reihe weiterer begleitender Maßnahmen geben sollte. Es geht um einen umfassenden Vorschlag für eine neue Lern- und Zeitkultur an Deutschlands Schulen – für gleichsam ausgeschlafenere und aufgewecktere Kinder und Jugendliche.
Die Bundesländer habe ich gefragt, ob eine Übersicht existiert, wann die einzelnen Schulen morgens beginnen. Das ernüchternde Resultat: Von allen 14 Ländern, die geantwortet haben, konnte keines diese Frage präzise beantworten. Auch ein Blick auf die jeweiligen Vorschriften hilft nur begrenzt weiter: Im Saarland sollen die Schulen nach Auskunft der Behörde zwischen 7:30 Uhr und 8:15 Uhr beginnen, in Mecklenburg Vorpommern und Nordrhein-Westfalen zwischen 7:30 Uhr und 8:30 Uhr und in Rheinland-Pfalz nicht vor 7:45 Uhr. Grundschulen dürfen dort allerdings „aufgrund örtlicher Gegebenheiten“ in einem Korridor zwischen 7:30 Uhr und 8:30 Uhr wählen. In Berlin darf nicht vor 7:30 Uhr begonnen werden, in Brandenburg „ausnahmsweise“ schon ab 7:00 Uhr. In Sachsen gilt für Grund- und Förderschulen ein Korridor zwischen 7:30 Uhr und 9:00 Uhr, für Oberschulen und Gymnasien zwischen 7:00 Uhr und 9:00 Uhr. In Bremen empfiehlt man einen Schulbeginn um 8:00 Uhr, schreibt aber nichts vor. Und in Bayern, Schleswig-Holstein, Thüringen, Hessen, Baden-Württemberg und Hamburg gibt es überhaupt keine zeitlichen Vorgaben.
Die Entscheidung, wann jede einzelne Schule konkret morgens startet, fällt in allen Bundesländern unisono die Schulkonferenz. Letztlich sind es also die Schulleitungen, die gemeinsam mit Vertretern aus Lehrer-, Eltern- und Schülerschaft den Schulbeginn festlegen. In einigen Bundesländern werden ihnen dabei zeitliche Grenzen gesetzt, in anderen nicht. Die Betroffenen haben es also ein Stück weit selbst in der Hand, ob sie den behördlich mehr oder weniger eng abgesteckten Rahmen voll ausschöpfen und die Schule später beginnen lassen als heute.
Schon eine kleine Zeitverschiebung hat große Effekte
Dabei haben übrigens bereits vergleichsweise geringe Verschiebungen um 15 bis 30 Minuten eine positive Wirkung auf die Gesundheit sowie auf Leistung und Wohlbefinden von Schüler*innen und Lehrer*innen. Insgesamt gilt: Je später die Schule beginnt, desto größer der Effekt. Dafür sprechen nicht nur die Erfahrungen einzelner Schulen, die diesen Schritt bereits gewagt haben, sondern auch mehrere wissenschaftliche Studien aus aller Welt. Offenbar schlafen Kinder und Jugendliche nämlich nicht noch später ein, wenn sie morgens länger schlafen dürfen – ein in Diskussionsforen von Gegnern des späten Schulbeginns oft angeführtes Argument. Es ist vor allem ihre innere Uhr, die das Müdewerden am Abend regelt, und so gehen sie unabhängig vom Schulbeginn weitgehend zur gleichen Zeit zu Bett. Das bedeutet aber auch, dass sie zwangsläufig mehr schlafen, wenn der Wecker morgens später klingelt.
Angesichts solcher Daten, die seit etwa zehn Jahren vorliegen und seitdem immer wieder bestätigt und erweitert werden, wundert es schon, dass die Gesetzgeber in Deutschland keinen Handlungsbedarf sehen. Die Vereinigung der US-Amerikanischen Kinderärzte forderte schon im Jahr 2014, die Schule dürfe aus gesundheitlichen Gründen für Kinder ab einem Alter von zehn Jahren nicht vor 8:30 Uhr beginnen. In Kalifornien gab es sogar eine gleichlautende Gesetzesinitiative.
Hierzulande passiert hingegen fast nichts: Einige wenige Schulen beginnen inzwischen später (und machen damit sehr gute Erfahrungen). Aber in keinem Bundesland existieren derzeit Bemühungen der Regierung, an der jetzigen Regelung etwas zu ändern. Lediglich die Grünen in Hamburg und Schleswig Holstein starteten bereits eine Initiative, die jedoch wenig beachtet wurde.
Im Osten scheint die Lage besonders schlimm
Diese Zurückhaltung scheint ein großer Fehler zu sein. Denn die Rückmeldungen und Berichte der Betroffenen auf meine Umfragen zeichnen ein erschreckendes Bild. Mir wurde beim Lesen der endlos langen Liste von Einträgen bei Twitter oder Facebook und auch bei der Auswertung des RiffReporter-Fragebogens Angst und Bange: Sehr viele deutsche Schulen beginnen bereits vor 8:00 Uhr. Anfangszeiten von 7:20 Uhr oder 7:15 Uhr sind keine Seltenheit. Manchmal gibt es sogar ein oder zwei Mal pro Woche eine nullte Stunde. Die beginnt dann gerne um 7:00 Uhr oder 7:10 Uhr.
Je ländlicher der Raum und je weiter im Osten die Schule, desto früher müssen die Kinder und Jugendlichen im Mittel zur ersten Stunde antreten. Das ist aus zwei Gründen fatal: Gerade auf dem Land ist der Schulweg in der Regel weit und kompliziert. Und im Osten gibt es immer weniger Schulen im ländlichen Raum, da zuletzt viele Familien in Großstädte gezogen sind. Das macht die Wege für die Zurückgebliebenen noch weiter. Und es verlegt das Klingeln der Wecker noch ein Stückchen weiter vor – teilweise bis tief in die Nacht.
Logische Konsequenz: Es gibt tatsächlich Schüler*innen in Deutschland, die um fünf Uhr morgens aufstehen müssen. Ihr Schulbus fährt schon deutlich vor sechs, und ihre Schule startet zwischen sieben und halb acht. Ist das noch eine Ausnahme, so sind Aufstehzeiten von 5:30 Uhr oder 5:45 Uhr keine Seltenheit mehr. Die früheste Aufstehzeit in meiner Umfrage war sogar 4:55 Uhr. „YoungSora“ muss bereits um 5:18 Uhr im Bus sitzen, um den Zug zu bekommen und schließlich pünktlich um 7:40 Uhr in der Berufsschule einzutreffen.
68 Prozent der Schüler*innen stehen vor 6:30 Uhr auf
Jedes 25. Kind steht der Umfrage zufolge um 5:30 Uhr oder früher auf. Die riesengroße Mehrheit, nämlich 64 Prozent oder knapp zwei Drittel wird zwischen 5:31 Uhr und 6:30 Uhr geweckt. Drei von zehn Kindern dürfen immerhin bis ins Zeitfenster zwischen 6:31 Uhr und 7:30 Uhr schlafen. Und nur ganze sieben von insgesamt 384 Schüler*innen aus der Umfrage schlafen morgens noch länger.
Vor allem bei Jugendlichen sind fast immer der frühe Schulbeginn, ein weiter Schulweg oder schlimmstenfalls beides gemeinsam für das Frühaufstehen verantwortlich. Grundschulkinder, die biologisch ja noch mehr in Richtung Lerche tendieren, stehen häufig freiwillig früh auf. Sie können offenbar abends noch früh einschlafen und sind deshalb rechtzeitig ausgeschlafen. Viele jüngere Schüler*innen, aber auch schon manche Kita-Kinder, müssen indes aus einem weiteren Grund unausgeschlafen aufstehen: Ihre Eltern haben frühe Arbeitszeiten. Sie müssen die Kinder wecken, damit sie sich rechtzeitig um sie kümmern können.
Zu den sieben Jugendlichen aus der Umfrage, die jeden Morgen ausschlafen dürfen, gehören alleine vier Geschwister, die zumindest aus chronobiologischer Sicht ein paradiesisches Leben haben: Sie besuchen der Mutter zufolge „eine demokratische Schule mit selbst gewählten Schulbeginn.“ Diese Kinder schlafen bis neun, verlassen das Haus erst um zehn, und ihre Schule beginnt für sie um elf.
Solche Modellschulen mit gleitendem Schulbeginn beispielsweise zwischen zehn und zwölf Uhr existieren derzeit vor allem in den Niederlanden und den skandinavischen Ländern. Sie eignen sich vor allem für Jugendliche. Und es stimmt optimistisch, dass diese Idee nun offenbar auch in Deutschland aufgegriffen wird. Den Resultaten der Chronobiologen zufolge wäre es für durchschnittliche Teenager nämlich äußerst sinnvoll, ließe man sie im Alltag bis um neun oder zehn Uhr morgens schlafen. Und das, was bislang aus den Gleitzeit-Schulen an die Öffentlichkeit dringt, scheint diese Annahme zu bestätigen. Die Jugendlichen sind wacher, konzentrierter, ausgeglichener und einfach besser drauf, berichtet zum Beispiel der Chronobiologe Thomas Kantermann von einem Projekt in der Stadt Groningen.
„Wecken um 6:00 Uhr, um 6:05,6:10,6:15,6:20… Aufstehen um 6:30 Uhr.“
Das andere Extrem beschreibt trocken nüchtern dieser Twitter-Eintrag von Heidenkind: „Brandenburg: Schulbeginn 7:30h, Überlandbusse ab 5:xxh, Aufstehen 5h, Alter: 6 Jahre. Im Osten fängt alles leider nochmal früher an.“ Typisch auch dieser Tweet eines genervten Vaters aus Sachsen-Anhalt: „11 Jahre, 6 Uhr aufstehen. Schulbeginn 07:20… Von Montag bis Freitag und keiner weiß, wieso so früh eigentlich????!!“ Man mag sich gar nicht vorstellen, wie es in diesen Familien am Frühstückstisch zugeht, und wie schwierig oft auch die Abende mit völlig übermüdeten Kindern sind – unfähig zur Konzentration, miesgelaunt, aber dennoch nicht richtig schläfrig, weil die innere Uhr noch auf Aktivität getaktet ist.
Nachdenklich stimmt auch dieser Eintrag einer Lehrerin aus Sachsen: „Meine Schüler: 5.30 Uhr aufstehen, 6.15 Busabfahrt, 7.20 Schulbeginn“. Typisch für das, was in vielen deutschen Familien frühmorgens passiert, dürfte auch die Schilderung von Anna Lenk sein: „13 und 15 Jahre, Wecken um 6:00 Uhr, um 6:05,6:10,6:15,6:20… Aufstehen um 6:30 Uhr. Bus fährt um 7:15 Uhr, Schulbeginn um 7:40 Uhr.“
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Die Daten der repräsentativen DAK-Erhebung passen perfekt ins Bild: Danach stehen 70 Prozent der Fünft- bis Zehntklässler zwischen sechs und sieben auf, 18 Prozent sogar noch früher. Dass das zumindest für Kinder ab zehn bis zwölf Jahren viel zu früh ist, um ausreichend Schlaf zu bekommen, wissen Chronobiologen schon lange. Denn – ich erwähnte es bereits – je älter die Teenager werden, desto später werden sie abends schläfrig. Auch das bestätigt die DAK-Studie übrigens. Die Neunt- und Zehntklässler gehen oft erst nach 23 Uhr zu Bett. Die durchschnittlichen Schüler*innen dieser Jahrgänge bekommen deshalb nur etwas über sieben Stunden Schlaf pro Nacht, fast zwei Stunden weniger, als sie nach den Erkenntnissen der Schlafforschung benötigen.
Auch ein weiteres Resultat der Umfrage passt gut zu den Erkenntnissen der Chronobiologie. Je jünger die Kinder sind, desto weniger Probleme haben sie mit dem frühen Aufstehen. Manchmal beklagen sich die Eltern sogar, dass ihre Kleinen schon lange vor ihnen wach sind. Zumindest in Städten mit kurzen Schulwegen würde ein späterer morgendlicher Grundschulbeginn deshalb vor allem den oft noch jungen Lehrer*innen und Eltern helfen, mehr Schlaf zu bekommen. Selbstverständlich gelänge das nur, wenn parallel die Arbeitszeiten vieler Eltern flexibler würden.
Wie bekommen die Jugendlichen wieder mehr Schlaf?
Die alles entscheidende Frage ist also: Wie bekommen die Jugendlichen in Deutschland wieder mehr Schlaf? Anders als offenbar von den Bundesländern und von den allermeisten Schulkonferenzen eingeschätzt, handelt es sich hierbei um kein nachrangiges Problem. Würden Jugendliche wieder mehr Schlaf bekommen, stieg automatisch ihre Konzentrations- und Lernfähigkeit. Sie wären seltener krank, bekämen bessere Noten, gewännen Zeit, da sie mehr Stoff im Unterricht durcharbeiten würden und folglich weniger Hausaufgaben machen müssten sowie diese auch schneller erledigen würden. Zudem hätten die Schüler*innen ein geringeres Risiko für psychische Leiden aller Art, bis hin zur Depression und zum Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS. Für alle diese Aussagen gibt es wissenschaftliche Belege. Es wird also höchste Zeit zu handeln.
Ich erlaube mir deshalb, an dieser Stelle ein paar Vorschläge aus meinem Buch „Wake up! Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft“ (Hanser 2014, dtv 2016) zu zitieren. Viele der Vorschläge sind vor allem für den Unterricht von Jugendlichen gedacht, die von ihren Eltern nicht mehr so umfassend beaufsichtigt werden müssen:
- Die Schule muss unbedingt später beginnen. Jede Minute zählt. Kurzfristig sollten die Schulkonferenzen deshalb den jeweiligen gesetzlichen Rahmen voll ausschöpfen und den Beginn zunächst auf halb neun oder sogar neun Uhr verschieben.
- Gleichzeitig sollten für Eltern flexiblere Arbeitszeiten gelten, so dass diese frühmorgens kein Betreuungsproblem mehr haben. Zumindest für eine Übergangszeit sollten Schulen vor Schulbeginn ein Betreuungsangebot für Härtefälle schaffen.
- Langfristig sollten Bildungspolitiker in allen Bundesländern die Gesetze so ändern, dass auch ein Schulbeginn um zwölf Uhr möglich ist. Als ersten Kompromiss schlage ich vor, die Schule in den Klassen eins bis sechs gegen 8:30 Uhr oder neun Uhr beginnen zu lassen. In der Mittelstufe hat der Beginn nicht vor neun Uhr zu liegen und in der Oberstufe nicht vor zehn Uhr.
- Schulen sollten über gleitende Schulbeginn- und -schlusszeiten nachdenken. In diesen Zeiten könnten sie Projektunterricht anbieten, in dem die Schüler zwar betreut werden, sich aber selbstständig um die Lösung zuvor gestellter Aufgaben kümmern, etwa Referate vorbereiten oder Experimente durchführen. Denkbar sind auch ein oder zwei Tage pro Woche mit völlig freien Präsenzzeiten, an denen nur Projektarbeit ansteht.
- Der Unterricht muss noch stärker als heute rhythmisiert werden: Unterricht kann in verdichteten Blöcken stattfinden, auf die allerdings eine längere Pause folgen sollte, die die Schüler möglichst im Freien verbringen. Die Mittagspause sollte besonders lang sein. Schulen täten gut daran, in ein attraktives Angebot zum Spielen oder „Chillen“ auf dem Pausenhof zu investieren. (Das Tageslicht am Vormittag und Mittag stellt die inneren Uhren nach vorne.)
- Für viele besonders utopisch: Unter Umständen ergibt es sogar Sinn, nur vier Tage die Woche zu unterrichten, damit die Kinder und Jugendlichen mehr Spielraum für eine freie und eigenständige Entwicklung haben und einen dritten Tag pro Woche ausschlafen können. Das schafft Potenzial für zusätzliche Aktivitäten. Und es werden Freiräume geschaffen, in denen die Familien etwas gemeinsam unternehmen können.
- Ein vormittägliches Freizeit- und privates Bildungsangebot für Kinder und Jugendliche wäre äußerst sinnvoll. Sportvereine, Musikschulen und ähnliche Institutionen sollten sich entsprechend umstellen.
- Der Inhalt der Lehrpläne muss reduziert werden. Dadurch gewinnen Lehrer und Schulen kostbare Zeit, die für die Entwicklung der Kinder und eine Verkürzung und Umgestaltung des Unterrichts genutzt werden kann. Der Schulschluss könnte daraufhin trotz einer Verschiebung des Schulbeginns beibehalten werden.
- Noch mehr Zeit wäre gewonnen, wenn alle Gymnasien Deutschlands zusätzlich zum neunjährigen Curriculum (G9) zurückkehrten.
Aus Sicht der Chronobiologie und Schlafforschung sollten ein paar weitere sinnvolle Maßnahmen diese Veränderungen flankieren:
- Zuallererst müsste die so genannte Sommerzeit abgeschafft werden. Während der sieben Monate von Ende März bis Ende Oktober müssen die Kinder und Jugendlichen nämlich in Wahrheit noch eine Stunde früher in der Schule sein. Verstellt wird anders als der Begriff „Zeitumstellung“ suggeriert ja nicht die Zeit (das geht gar nicht), sondern die Uhr. Dadurch werden die Schüler*innen de Facto sieben Monate lang eine Stunde früher zu Bett gesteckt, obwohl sie meist noch gar nicht müde sind. Die Wirkung des Tageslichts auf die innere Uhr ist dann nämlich noch nicht abgeklungen, und sie können nicht einschlafen.
- Jugendliche sollten zudem aufgeklärt werden, dass das helle, kaltweiße Licht aus Smartphone- oder Computer-Monitoren ähnlich aufputschend wirkt, wie koffeinhaltige Getränke und noch dazu die ohnehin in diesem Alter verzögert tickende innere Uhr weiter verlangsamt. Sie sollten die elektronischen Geräte deshalb am Abend rechtzeitig aus der Hand legen oder zumindest Programme (Apps) aktivieren, die die Helligkeit und Farbtemperatur der Monitore an die späte Uhrzeit anpassen. Dann ist die biologische Wirkung des Lichts geringer.
- Die Beleuchtungssituation in den Klassenzimmern sollte verbessert werden: Hellere Leuchten mit einer kälteren Farbtemperatur (Kelvin-Werte von 5.500 oder mehr) verbessern die Konzentrationsfähigkeit der Schüler*innen und beschleunigen am Vormittag das chronobiologische innerer Tempo der Kinder und Jugendlichen. Es sorgt deshalb dafür, dass die Lernenden abends früher schläfrig und am kommenden Morgen früher wach werden. Ähnlich wirkt es, wenn sich die Jugendlichen am Vormittag und Mittag möglichst viel im Freien aufhalten. Man sollte deshalb auch vermehrt über Unterricht im Freien nachdenken.
Wer weiß, vielleicht würde sich auf diesem Weg sogar unser aller Zeitkultur verändern. Vielleicht würde eine neue Generation heranwachsen, der es nicht mehr so wichtig ist, zunächst die Arbeit zu erledigen und dann die Freizeit zu genießen. Zumindest der chronobiologisch gesehen durchschnittliche bis eulenhafte Teil dieser neuen Generation würde vermutlich häufiger seine Vormittage mit Freizeit an der frischen Luft verbringen und dafür abends manchmal länger arbeiten. Lerchen und lerchenhafte Menschen, die etwa ein Sechstel der Bevölkerung ausmachen, werden natürlich auch in Zukunft vormittags und morgens am wachsten sein und bevorzugt zu dieser Zeit arbeiten.
Fest steht: Dass derzeit rund 85 Prozent der Deutschen werktags einen Wecker zum Aufstehen benötigen, ist ein viel zu hoher Wert. Gelänge es, diese Zahl zu senken, wäre die Gesellschaft als Ganze mit Sicherheit ein ganzes Stück gesünder und leistungsfähiger.
Eigentlich sollte schon dieser Umstand Antrieb genug sein, endlich mit den ersten Veränderungen zu beginnen. Und warum sollten diese Veränderungen nicht gerade bei jenen starten, die sie am nötigsten haben: bei den Kindern und Jugendlichen? Es wäre ein wirklich schöner Start in die ausgeschlafene Gesellschaft, gehörte die frühmorgendliche Zombie-Parade in den ansonsten menschenleeren Gassen unserer Städte endlich der Vergangenheit an.