Impfpflicht scheitert im Bundestag: Ein Armutszeugnis für die Abgeordneten
Der Bundestag hat keine Entscheidung getroffen. Der Antrag für eine Impfpflicht für Menschen über 60 scheiterte. Jetzt fehlt ein Plan für die Bekämpfung der Pandemie. Gute Politik sieht anders aus. Ein Kommentar
Der Umgang des Bundestags mit der Impfpflicht ist ein Armutszeugnis für die Abgeordneten. Monatelang hatte das Parlament Zeit, Mehrheiten für ein solides Konzept zu finden. Der Bundestag hat diese Zeit nicht genutzt. Vielmehr konnte der Antrag über die Einführung einer Impfpflicht und den weiteren Umgang mit der Pandemie erst wenige Stunden vor der entscheidenden Debatte formuliert werden. Ein Kompromiss in letzter Minute, um eine Blamage zu vermeiden.
Selbst das ist nicht gelungen. Der Gesetzentwurf scheiterte mit 296 gegen 378 Stimmen. Der Kompromiss zur Impfpflicht sollte für alle Menschen ab 60 Jahren gelten und zum 15. Oktober 2022 kommen. Im Sommer wollte der Bundestag diese Entscheidung auf der Grundlage aktueller Daten zur Impfquote und zum Infektionsgeschehen im Herbst noch einmal überprüfen. Zudem beinhaltet der Entwurf eine Beratungspflicht für alle Ungeimpften im Alter zwischen 18 und 60 Jahren, die ebenfalls bis Mitte Oktober zu erfüllen ist. Die Umsetzung des Beschlusses läuft auf ein Impfregister für alle Erwachsenen hinaus. Vermutlich werden die Krankenkassen beauftragt, zu kontrollieren, wer geimpft ist und wer nicht. Mit diesen Daten können dann Beratungstermine für Ungeimpfte auf den Weg gebracht werden.
Bundestag sendet Signal der Unsicherheit
Doch diese Idee ist gescheitert. Das Signal, dass der Bundestag bei der Bekämpfung der Pandemie aussendet, ist ein Signal der Unsicherheit. Vielleicht ja, vielleicht nein. Am Tag vor der Abstimmung war noch nicht einmal sicher, ob der Minimalkompromiss Zustimmung finden wird. Am Donnerstag kam dann das totale Chaos: Kein einziger der vier Anträge zum Umgang mit dem sensiblen Thema Impfung hat eine Mehrheit gefunden. Das Parlament muss mit dem Makel leben, dass es sich weder für noch gegen eine Impfpflicht positioniert hat. Das ist schlecht, denn ein deutliches Votum des Bundestags hätte sicher die Akzeptanz jeder Entscheidung verbessert, wie auch immer diese ausfällt.
Entscheidung fördert Impfmüdigkeit
Viele ExpertInnen der Pandemie beobachten, dass die geringe Impfquote und die Impfmüdigkeit in Deutschland mit fehlendem Vertrauen in die Regierung einhergeht. WissenschaftlerInnen machen seit Monaten Vorschläge, wie die Impfquote gesteigert werden könnte. Als vertrauensbildende Maßnahme im Kampf gegen die Pandemie kann man das Trauerspiel im Bundestag sicher nicht bewerten. Das Hin und her um die Isolationspflicht für Infizierte passt in das Bild. Die Regierung von Kanzler Olaf Scholz zeigt keine klare Linie.
Zwar war die eingeschränkte Impfpflicht auch nur eine Lösung, die man akzeptieren muss, wenn sich für keine anderen Vorschläge eine Mehrheit finden lässt. Omikron hat die Diskussion seit Dezember verändert. Für einen Teil der Abgeordneten scheint die Pandemie angesichts der überwiegend milden Verläufe der neuen Virus-Variante beendet zu sein. Die hohe Zahl der Infizierten wird von ihnen als vertretbar akzeptiert. Corona scheint für sie auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit. Diese Vorstellung darf man durchaus als naiv bezeichnen, solange keine Sicherheit besteht, dass wir im Herbst nicht doch von einer neuen Variante überrascht werden. Solange das Virus weltweit verbreitet ist, sind neue Mutationen nicht unwahrscheinlich.
Corona ist für viele noch präsent
Für viele Menschen ist Corona im übrigen weiter sehr präsent, beispielsweise durch Long Covid, durch Todesfälle in der Familie und im Bekanntenkreis oder durch die bestehende Sorge von einer Ansteckung. Viele Menschen fragen sich, ob im Herbst wieder Beschränkungen kommen werden, ob Schulen schließen müssen, ob fast alle Veranstaltungen ausfallen, ob sie es noch einmal aushalten, wenn der Alltag so stark eingeschränkt wird, weil Krankenhäuser sich füllen.
All diese Menschen haben das Recht auf eine Antwort des Bundestags, was passieren wird, wenn eine neue Coronawelle absehbar ist. Mit dem Abstimmungsverhalten hat das Parlament gezeigt, dass es keine Lösung hat. Das hat Gründe: Mehr als ein Drittel des Bundestags, nämlich die Unionsfraktion und die AfD, will sich bei fraktionsübergreifenden Anträgen gar nicht engagieren. Dabei geht es um ein wichtiges Thema: Deutschland könnte in eine neue Welle vom Lockdowns und Kontaktbeschränkungen strudeln, wenn das Coronavirus in veränderter Form zurückkehrt.
Machtpolitiker Merz verhindert Gewissensentscheid
Nicht nur die Ampelkoalition hat in der Vorbereitung des Gesetzes Fehler gemacht, auch Oppositionsführer Friedrich Merz von der CDU. Er hat die Debattenkultur im Bundestag beschädigt, indem er als Machtpolitiker ein Angebot der anderen Fraktionen für eine offene Debatte ausgeschlagen hat. Das Angebot, ohne Fraktionszwang abstimmen zu wollen, war ein Eingeständnis, dass eine Impfpflicht in sehr persönliche Entscheidungen eingreift und deshalb nicht in das grobe Raster der Parteipolitik gehört. Das Parlament hätte als Abbild der Gesellschaft wahrgenommen werden können. Unterschiedliche Meinungen zu einem wichtigen Thema treffen selbst bei Abgeordneten der gleichen Partei aufeinander. Ebendas erleben viele Menschen nämlich derzeit, anstrengende Diskussionen im Freundeskreis, als Eltern von schulpflichtigen Kindern oder Studierenden, als Betreuende älterer Menschen, als Risikogruppe oder als Bürgerinnen und Bürger, die Beschränkungen hinnehmen mussten. Deutschland hätte eine gute Debatte über die Impfpflicht so dringend benötigt.
Stattdessen hat Merz die eigene Fraktion entmündigt. Er tat dies mit dem vordergründigen Argument, die Ampel-Koalition müsse eine eigene Mehrheit organisieren. Dabei gab es auch unter einer unionsgeführten Regierung mehrfach Abstimmungen, bei denen der Fraktionszwang aufgehoben wurde. Im Bundestag hat dieses Vorgehen eine gute Tradition etwa bei der Ehe für alle, beim Schwangerschaftsabbruch, dem Embryonenschutzgesetz oder der Organspende. Weil der Bundestag es zugelassen hat, dass Grenzen zwischen den Fraktionen und Lagern verschwinden, fanden die Entscheidungen in der Öffentlichkeit eine breite Akzeptanz. Merz hat dieses Verfahren zertrümmert.
Schaden für künftige Ethikdebatten
Man muss fragen, ob die Ampel und Bundeskanzler Scholz dieses Vorgehen noch einmal vorschlagen werden. Sie werden nicht noch einmal Schiffbruch erleiden wollen. Wenn im Bundestag die Mitglieder der AfD und der Unionsfraktion ihre eigenen Süppchen kochen, stehen 280 Abgeordnete, mehr als ein Drittel des Parlaments, nicht mehr für eine kompromissorientierte Debatte zur Verfügung. Damit wird es schwer für fraktionsübergreifende Gruppen, Mehrheiten für ihre Anträge zu finden. Spitzenpolitiker der SPD, der Grünen und der FDP haben sich zwar für die allgemeine Impfpflicht ausgesprochen, aber sie stehen nun mit leeren Händen da.
Kompromiss war akzeptabel
Rein fachlich war der neue Gesetzentwurf zur Impfpflicht keine große Überraschung. Schon Im Dezember gab es eine Diskussion, unter welchen Bedingungen eine Impfpflicht gerechtfertigt sein könnte und ob die Regelung alle Erwachsenen betreffen oder nur für bestimmte Risiko- und Altersgruppen gelten soll. Die Debatte im deutschen Ethikrat hat damals vorweggenommen, was nun auch der Bundestag erlebt hat. Die Mehrheit im Expertengremium befürwortete zwar die Impfpflicht, konnte sich aber auf keine einheitliche Linie bei der Umsetzung einigen. Schon damals wurde ein mögliches Ziel benannt, das nun auch der neue Antrag im Bundestag verfolgt. Die Impfpflicht soll vor allem das Gesundheitssystems vor Überlastung schützen und damit weitere Lockdowns überflüssig machen.
„Bei Infizierten höheren Alters und/oder mit bestimmten Vorerkrankungen sind schwere Krankheitsverläufe wesentlich häufiger und ist die Hospitalisierungsrate deutlich erhöht“, argumentierte der Ethikrat. Das gilt auch aktuell: Der Anteil der hospitalisierten Corona-Infizierten über 60 Jahre liegt derzeit bei 15,04 Fällen pro 100.000 Einwohner, bezogen auf die Gesamtbevölkerung sind es nur 6,62 Fälle. Eine Impfpflicht ab 60 Jahren hätte eine Ansteckungswelle ohnehin nicht verhindern können. Immerhin hatte der Bundestag ein Hintertürchen vorgesehen: Er könnte im Sommer beschließen, die Impfpflicht doch noch auszuweiten. Um einer Herbstwelle zuvorzukommen, müsste dann aber alles sehr schnell gehen. Ob das gelingt, ist fraglich. Dieses Notfallszenario ist nun hinfällig.
Die Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht gegen Corona für alle Menschen ab 18 Jahren hatten am Montag das Handtuch geworfen. Sie müssen eingestehen, dass sie keine Mehrheit für ihren Vorschlag organisieren können.
Zu viel war unklar
Wenn die Impfpflicht nur für Menschen kommt, die älter als 60 Jahre sind, wird eine Lücke gefüllt, die nicht so sehr groß ist. Nach aktuellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts sind 89 Prozent in dieser Altersgruppe bereits zweimal geimpft, 79 Prozent haben auch die dritte Spritze erhalten. Weil die Zahl der Betroffenen nicht so groß ist, könnte es gelingen, mehr Menschen dieser Altersgruppe zu impfen, denn sie lassen sich gezielt ansprechen.
Am Ende wird jeder Beschluss des Bundestags wohl vor den Gerichten landen. Wenn die Abgeordneten kein sorgfältig vorbereitetes Gesetz vorlegen, sondern in Hektik einen kurzfristigen Kompromiss vereinbaren, wird das Bundesverfassungsgericht über die Umsetzung der Impfpflicht entscheiden. Gutes Management einer Pandemie sieht anders aus.
Anmerkung: Dieser Text wurde nach der Abstimmung aktualisiert.