Ursache für Long Covid? Spike-Protein des Coronavirus sammelt sich im Schädel-Hirn-Bereich an
Covid-19 kann akute und langfristige neurologische Schäden auslösen. Sie werden womöglich durch die Hüll-Proteine von Sars-CoV-2 verursacht, die monatelang im Kopf überdauern.
Eine Infektion mit dem Coronavirus kann die Leistung des Gehirns kurz- und langfristig beeinträchtigen. Ali Ertürk und andere Forschende von der Ludwig-Maximilians-Universität in München und dem Helmholtz Zentrum München haben jetzt neue Details aufgedeckt, wie es zu neurologischen Komplikationen kommen könnte: Teile des Virus hinterlassen Spuren im Körper. Auch lange nach einer überstandenen Corona-Infektion lassen sich die äußeren „Stacheln“ der Virenoberfläche, die Spike-Proteine, im Organismus finden. Spike-Moleküle sammeln sich in besonders großen Mengen in einer sehr sensiblen Körperregion an: im Bereich zwischen dem Schädelknochen, den Hirnhäuten und dem Gehirngewebe, der so genannten Schädel-Hirnhaut-Gehirn-Achse. Das Team aus München veröffentlichte die Studie im April 2023 auf dem Preprint Server bioRxiv.
Warum die Studie wichtig ist
Recht schnell nach Beginn der Corona-Pandemie war klar: Das Coronavirus befällt nicht nur die Atemwege und kann sie schwer schädigen. Betroffen sind beispielsweise auch die Nieren, die Leber, der Darm, das Herz, die Blutgefäße und das Gehirn. Ob Sars-CoV-2 das Gehirn infizieren kann, ist nach wie vor ungeklärt. Manche Forschende fanden Hinweise für eine Virusvermehrung im Hirngewebe, anderen gelang der Nachweis nicht. Doch unabhängig davon steht fest, dass die Immunabwehr im Gehirn während Covid-19 aktiviert ist und es häufig auch noch nach der überstandenen Covid-19-Erkrankung bleibt. Höchstwahrscheinlich ist diese Immunaktivierung mitverantwortlich für die neurologischen Beschwerden sowohl in der akuten Erkrankungsphase als auch bei Long Covid.
Selbst Personen, die nur mild an Covid-19 erkranken, können unter neurologischen Langzeitfolgen leiden. Nicht nur der Nebel im Gehirn ist dabei erschreckend, sondern auch die Tatsache, dass Nervenzellen absterben und die Gehirnmasse nach einer Corona-Infektion zurückgehen kann. Damit Mediziner und Medizinerinnen therapeutisch besser eingreifen können, müssen sie die Prozesse verstehen, die die Nervenschädigungen auslösen.
Was die Forschenden gemacht haben
Es gibt Hinweise dafür, dass das äußere Spike-Protein lange nach einem akuten Infekt, bis mindestens 15 Monate, im Körper zirkuliert beziehungsweise sich in verschiedenen Organen ablagert – auch ohne, dass das Virus sich noch aktiv vermehrt. Der Neurowissenschaftler Ali Ertürk und sein Münchner Team haben nun Mäuse und menschliches Gewebe von Personen, die an Covid-19 erkrankt waren, auf die Anwesenheit des Corona-Spike-Protein hin untersucht. Sie wiesen die Virusstacheln nicht nur in verschiedenen Geweben nach, sondern schauten sich auch an, wie sie sich auf die molekularen Prozesse in den betroffenen Zellen auswirken.
Die Forschenden nutzten dabei unter anderem das „Optical Tissue Clearing“. Das ist eine moderne Methode, mit deren Hilfe fixierte Organe und sogar komplette Organismen, in diesem Fall Mäuse, optisch transparent werden und damit die gesuchten Zielmoleküle sichtbar gemacht werden können.
Wie das Ergebnis der Studie aussieht
30 Minuten nachdem die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit einem Leuchtfarbstoff markierte Spike-Moleküle in die Blutbahn der Mäuse gegeben hatten, tauchten diese in den meisten Organen auf: im Herz der Tiere, in der Lunge, der Leber, den Nieren, dem Darm, der Thymusdrüse, Milz, Bauchspeicheldrüse, im Hoden, den Eierstöcken und im Gehirn.
Besonders viel Spike-Protein sammelte sich im Kopf der Tiere und zwar im Grenzbereich zwischen dem Schädelknochen, dem schützenden Bindegewebe, das das Gehirn umgibt – die Hirnhäute – und dem Gehirn an. Die Forschenden entdeckten die Virusstacheln vor allem in den winzigen Kanälchen, die das Knochenmark des Schädelknochens mit den Hirnhäuten verbinden. Diese Nischen des Knochenmarks sind generell ein Reservoir für Immunzellen. Im Bereich des Schädels können Abwehrzellen aus dem Knochenmark über die Kanälchen in die Hirnhäute einwandern.
Auch im Schädel von Männern und Frauen, die nachweislich an Covid-19 verstorben waren, fand das Team aus München das Spike-Protein in allen untersuchten Gewebeproben des Schädels und der Hirnhäute. Das Virusprotein tauchte aber auch dort auf, wo die Forschenden keine Hinweise für eine aktive Virusvermehrung mehr fanden. Ein positives PCR-Ergebnis gab nur die Hälfte des Probenmaterials her.
Spike im Gehirn von Personen, die nicht an Covid-19 gestorben sind
Bei 60 Prozent der untersuchten Personen, die sich zwar während der Pandemie mit dem Coronavirus angesteckt hatten, aber aus anderen Gründen gestorben waren, wies das Münchner Team ebenfalls Spike-Protein nach – zusammen mit entzündlichen Veränderungen im Gehirn, die die Nervenzellen geschädigt hatten.
Sowohl bei den Mäusen als auch beim menschlichen Probenmaterial hatte die Anwesenheit des Spike-Proteins offenbar zelluläre Signalprozesse verändert: einige Immunkaskaden waren aktiviert, andere fehlreguliert, die Gerinnungsprozesse beeinträchtigt. Das Spike-Protein allein kann die Immunabwehr aktivieren, zum Beispiel eine Gruppe von Fresszellen, die so genannten Neutrophilen, übermäßig in Alarmstimmung versetzen.
Bei den Versuchsmäusen hatte der Aufruhr im Gehirn, den das Spike-Protein auslöste, unmittelbare Folgen: Vier Wochen nachdem die Forscherinnen und Forscher den Tieren das Spike-Protein über die Blutbahn verabreicht hatten, fanden sie Hinweise auf geschädigte und abgestorbene Nervenzellen im Gehirn der Tiere.
Was das Ergebnis bedeutet
Die aktuelle Studie sei sehr wichtig für das bessere Verständnis von Long Covid, kommentiert der US-Mediziner Eric Topol auf Twitter. Sie belege die langanhaltende Anwesenheit des Spike-Proteins im Körper, besonders im Bereich der Schädel-Hirnhaut-Achse, bei Mensch und Maus. Möglicherweise gelangt das Spike-Protein aus dem Blut über das Knochenmark des Schädels in die Hirnhäute und weiter in das Gehirn. Das könnte akute und langwierige Schäden im Nervensystem verursachen.
Worüber die Studie keine Aussagen macht
Unklar bleibt, woher die Spike-Proteine kommen. Stammen sie noch aus der Zeit der aktiven Virusvermehrung im Körper und haben sich so lange gehalten? Oder gibt es irgendwo im Organismus ein verstecktes Virusreservoir, das über eine längere Zeitspanne Virusproteine freisetzt? Dass ein solches Virusreservoir existiert, mutmaßten zum Beispiel Forschende der Harvard Medical School in Boston schon im September 2022: Bei 65 Prozent der von ihnen untersuchten Post-Covid-PatientInnen fanden sich noch monatelang nach der akuten Krankheitsphase Spike-Moleküle im Blut. Allerdings ist fragwürdig, warum dann nur das Spike-Protein des Virus nachweisbar ist und nicht die anderen Bauteile, aus denen das Virus auch noch besteht, wie das N-Protein (Nukleokapsid) aus dem Inneren des Virus.
Dazu, ob bei empfindlichen Personen auch eine Covid-19-Impfung, die ja das Spike-Protein nutzt, entzündliche Reaktionen im Nervensystem auslösen kann, machen die Forschenden aus München keine direkte Aussage. Sie erwähnen nur, dass das Spike-Protein, das auch in den Covid-Impfstoffen verwendet würde, hoch immunogen, also ein Molekül sei, das auch infektionsunabhängig eine Immunantwort auslösen könne.
Offen bleibt auch, warum das Spike-Protein bei manchen Personen nach der Corona-Infektion so lange nachweisbar ist und bei anderen nicht. Genauso wie die Tatsache, dass nicht alle Long-Covid-Betroffene das Spike-Protein so lange in sich tragen.
Gibt es eine genetische Veranlagung?
Möglicherweise gibt es eine genetische Ursache, warum die Immunabwehr von Menschen unterschiedlich sensibel auf das Spike-Protein reagiert. Hinweise hierfür liefert die aktuelle Forschungsarbeit einer Arbeitsgruppe der Federal University of Rio de Janeiro. Im März 2023 berichteten die Neurowissenschaftlerin Claudia P. Figueiredo und ihr Team im Fachmagazin „Cell Reports“ über ihre Untersuchungen an Mäusen: Das Spike-Protein verursachte im Gehirn der Tiere Entzündungen, beschädigte Nervenzellen und löste die Kontaktstellen, die Synapsen, der Neuronen untereinander, was Gedächtnisstörungen bei den Nagern auslöste.
Für diese Schäden ist offenbar eine Alarmglocke des Immunsystems verantwortlich, die heftig auf die Anwesenheit des Spike-Proteins im Gehirn reagiert: Nachdem diese Alarmglocke, das Molekül „TLR-4“, die Hüll-Proteine des Virus erkannt und als gefährlich eingestuft hat, bringt es Entzündungsprozesse im Gehirn in Gang. Blockierten die Forschenden aus Rio den TLR-4 im Gehirn der Mäuse mit einer pharmakologischen Substanz, gab es keinen Synapsenverlust und keine Gedächtnisstörungen, trotz Anwesenheit der Virusstacheln.
In einer Gruppe von 86 Patientinnen und Patienten, die sich von einer milden Covid-19-Erkrankung erholt hatten, war eine bestimmte genetische Ausprägung des TLR-4 (der Genotyp GG TLR4–2604 G>A) mit neurologischen Komplikationen, Gedächtnisstörungen verknüpft, berichtet das brasilianische Team. Das TLR-4 sei danach ein entscheidendes Zielmolekül, das näher untersucht werden müsse, um die neurologischen Langzeitfolgen besser zu verstehen und womöglich zu behandeln oder gar vorzubeugen.
Wie geht es jetzt weiter?
Auch die Forschenden aus München wollen sich jetzt auf die Suche nach einzelnen interessanten Zielmolekülen machen, die Im Krankheitsgeschehen von Covid-19 und Long Covid wichtig sind. Im Gehirn aktivieren die Virusstacheln verschiedene Signalwege, die die Forscher noch weiter analysieren wollen, um daraus im Idealfall Biomarker für eine verbesserte Diagnostik und Therapie neurologischer Komplikationen ableiten zu können.