Hendrik Streeck: Von Einsicht keine Spur
Wie kann es sein, dass ein Wissenschaftler, der so oft danebenliegt, ständig in Talkshows eingeladen wird? Zwölf Irrtümer des Virologen
Seit Beginn der Corona-Pandemie gibt es in den deutschen Talkshows eine neue Kategorie von Gast: Virologinnen und Virologen sind zur Dauerpräsenz bei Maischberger, Lanz, Illner, Will und Plasberg geworden. Nie zuvor haben die Menschen in Deutschland und auf der ganzen Welt Wissenschaftlerïnnen so an den Lippen gehangen. Kein Wunder: Es geht um Leben und Tod, um Einschränkungen im Alltag, um reale und vermeintliche Gefahren, um harte politische Entscheidungen.
Einer dieser Experten hat sich von Anfang an immer wieder bei seinen Aussagen über das Virus extrem weit aus dem Fenster gelehnt: Hendrik Streeck, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn. Sein Renomée, die Selbstgewissheit, mit der er sich äußert, und seine telegene Ausstrahlung machen ihn aus Sicht der Redaktionen zu einer Idealbesetzung.
Erst am 3. Februar war er wieder bei Markus Lanz zu Gast, zuvor am 27. Januar bei Sandra Maischberger. Der Forscher, der zuerst mit der umstrittenen Medienagentur Storymachine kooperierte und inzwischen vom Medienberater Wolfram Winter betreut wird, verbringt viel Zeit in Fernsehstudios und erreicht so ein Millionenpublikum. Im ZDF gibt es am 16. März eine ganze „ZDFzeit“-Doku mit Hendrik Streeck. Laut Sender soll er „die Zuschauerinnen und Zuschauer mit auf eine Reise in die geheimnisvolle und gefährliche Welt der Viren“ nehmen.
Bis zur Corona-Pandemie war Streeck als HIV-Forscher und als Kuratoriumsmitglied der Deutschen AIDS-Stiftung eher selten in den Medien gewesen. Das änderte sich schlagartig, als er begann, sich zur Corona-Krise zu äußern.
Allerdings gab bereits eine der ersten dieser Äußerungen einen Vorgeschmack auf das, was kommen würde. Am 30. Januar 2020, also an dem Tag, an dem die Weltgesundheitsorganisation WHO für das neue Sars-Coronavirus die Gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausrief, schrieb Streeck auf Twitter:
„Ich finde die Entscheidung ist falsch. Nach den bisherigen Daten ist die #influenza dieses Jahr eine größere Gefahr als das neue #coronavirus. Die meisten Menschen scheinen nur milde Symptome zu haben.“
Von da an hat der HIV-Spezialist konsequent der vorherrschenden Meinung über das Virus und seine Bekämpfung widersprochen. Das ist grundsätzlich nicht verkehrt. Die Wissenschaft lebt davon, dass Menschen miteinander diskutieren, Fehler benennen, Irrwege verlassen, neue Thesen aufstellen. Und nicht nur Streecks erster Corona-Tweet, sondern auch einiges anderes, was Wissenschaftlerïnnen und Politikerïnnen vor allem in den ersten Wochen der Pandemie gesagt haben, hat sich inzwischen als Fehleinschätzung herausgestellt: über die Wirkung von Alltagsmasken zum Beispiel oder die Rolle feinster Wassertröpfchen – der Aerosole – bei der Übertragung der Erreger. Bis heute kommt es immer wieder zu Patzern.
Fehler einzugestehen und zu korrigieren ist ein wesentliches Merkmal von seriöser Wissenschaft. Doch Hendrik Streeck hat etwas anderes gemacht: Er hat seinen verharmlosenden Kurs trotz neuer Erkenntnisse durchgezogen. Er hat sich ausgerechnet von denen einspannen lassen, die jeweils zu früh Restriktionen aufheben oder zu spät auf gefährliche Entwicklungen reagieren wollten. Bewusst oder unbewusst hat er zudem ein Bedürfnis vieler Medien nach Polarisierung bedient, deren Frage nicht war: Wer weiß es besser als Drosten? Sondern: Wer bringt die härteste Gegenposition ein?
Sender, Zeitungen und Magazine haben Streeck dafür mit Aufmerksamkeit und Reichweite belohnt. Das wäre in Ordnung, wenn es nicht ein entscheidendes Problem gäbe: Dass Streeck mit den allermeisten Einschätzungen daneben lag – so sehr, dass er mehrfach eigenen Aussagen später widersprechen musste. Was dabei unterblieb: Das seriöse Eingeständnis, sich geirrt und dazugelernt zu haben.
Ein genauerer Blick auf das, was Hendrik Streeck seit Februar 2020 gesagt hat, führt zu zwölf Beispielen für bemerkenswerte Irrtümer und überraschende Kehrtwenden:
1. Auf Herdenimmunität gesetzt, dies geleugnet, wieder auf Herdenimmunität gesetzt
Hendrik Streeck hat früh einen in der Fachwelt inzwischen diskreditierten Kurs für die Pandemiebekämpfung vorgeschlagen: die „Herdenimmunität“ auch ohne Impfstoff. Das Konzept zielt darauf ab, dass sich ein Großteil der Bevölkerung mit dem Erreger ansteckt, auf diese Weise körpereigene Abwehrkräfte aufbaut, bis irgendwann so ein großer Teil der Menschen gegen den Erreger immun ist, dass das Virus nicht mehr auf genügend empfängliche Menschen trifft. Die Übertragung wäre, so die Annahme, unterbrochen.
Auf dem Weg zu diesem Ziel wird nur versucht, die Zahl der schwersten Verläufe und Todesfälle durch gute medizinische Behandlung zu begrenzen, während der Rest der Bevölkerung möglichst ohne Beschränkungen leben soll, bei entsprechend hohen Fallzahlen.
Bereits in Streecks erstem Bericht zur sogenannten Heinsberg-Studie Anfang April wird dieser Kurs deutlich: Dass im Untersuchungsgebiet 15 Prozent der Bevölkerung eine Corona-Infektion durchlaufen hätten, lobt er als wichtigen Schritt im „Prozess bis zum Erreichen einer Herdenimmunität“. Schon vorher, Ende März 2020, sagt er in der Sendung „Hart aber fair” (ab Minute 00:59) über das Ziel, Infektionsraten abzusenken: „Wenn wir zu gut darin sind, die Kurve zu drücken, werden wir das Problem haben, dass es sehr lange dauert, bis wir eine sogenannte Herdenimmunität erreicht haben.“
Es ist ein Kurs, den zu dieser Zeit so ähnlich auch Donald Trump, Boris Johnson und Jair Bolsonaro einschlagen – mit dem Makel, dass er grundfalsch ist, wie Wissenschaftlerïnnen im Lauf des Jahres zum Beispiel im John Snow Memorandum klar und deutlich formulieren. Denn nicht nur geht diese Strategie mit einem sehr langen Zeitraum einher, in dem ein erheblicher Teil der Bevölkerung krank ist und mit ständiger Gefahr, dass Krankenhäuser überlastet sind. Sondern diese Strategie lässt zudem außer Acht, dass auch Menschen mit anfangs milden Symptomen erhebliche Spätfolgen von Covid-Erkrankungen zurückbehalten können (siehe Punkt 11).
Trotz der umfassenden Kritik der Herden-Strategie von seinen Fachkollegen fordert Streeck Anfang Juni in einem Interview mit der dpa, während der Sommermonate 2020 gezielt mehr Infektionen zuzulassen: „Dann bauen wir eine schleichende Immunität in der Gesellschaft auf, die dann am Ende diejenigen schützt, die auch einen schwereren Verlauf haben können.“
Im Herbst dann leugnet er allerdings alles – ein Muster, das sich auch bei anderen Themen zeigt. Während der Autorisierung eines Interviews des Magazins Cicero fügt er den Satz ein: „Tut mir leid. Ich habe nie auf Herden-Immunität gesetzt.“ Was nachweislich nicht stimmt.
Wenig später eine erneute Kehrtwende, Streeck setzt seine alte Argumentation wieder fort. Am 5. Januar 2021 fordert er auf Twitter, Altenheimbewohner besser zu schützen, aber „ohne die Bevölkerung weiter zu beschränken“.
Es zeigt sich: Streeck hat die ganze Zeit auf das falsche Konzept gesetzt und sich nicht selbst korrigiert, wie es sich für einen seriösen Wissenschaftler gehören würde.
2. Legitimation für falsche vorschnelle Öffnung im April – ohne wissenschaftliche Basis
Streecks zweiter früher Fehler waren die Empfehlungen, mit denen er Mitte April 2020 maßgeblich dazu beitrug, dass die seit März geltenden Restriktionen vorschnell beendet wurden. Diese frühe Lockerung gilt inzwischen als falsch, denn es blieben zu viele Infektionsketten bestehen.
Am 9. April 2020, nachdem in Deutschland 18 Tage lang Einschränkungen des öffentlichen Lebens ihre positive Wirkung gezeigt hatten, setzt Streeck ungeprüfte Forschungsergebnisse ein, um die politische Debatte pro Lockerung zu beeinflussen. Er stellt an diesem Gründonnerstag als Gesicht eines Forscherïnnenteams von der Universität Bonn in der Düsseldorfer Staatskanzlei einen „Zwischenbericht“ zu seiner „Heinsberg-Studie“ vor. Forschung in Lichtgeschwindigkeit: Erst am 6. April hatten die Wissenschaftlerïnnen die letzten Daten in Gangelt erhoben. Botschaft: Der Landkreis Heinsberg sei auf dem Weg zur Herdenimmunität, wobei die Zahl der Toten deutlich niedriger liege als befürchtet.
Bei dieser Pressekonferenz des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet stellt Streeck es so dar, als wären die Ergebnisse seiner regionalen Studie „repräsentativ“, wie der Virologe sagt, und für die bevorstehende Entscheidung von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidentïnnen am Osterdienstag relevant – obwohl sie es nicht sind, wie seine Forscherkollegïnnen gleich darauf betonen. Laschet sagt unumwunden, er habe Streecks Studie in Auftrag gegeben, um „zu Erkenntnissen zu kommen, die dann wieder für die Politik von Bedeutung sind“ mit dem Ziel, „Freiheit und Gesundheit der Bürger besser in Einklang zu bringen als bisher“ – womit er meint, „so schnell wie möglich“ erste Teile des öffentlichen Lebens wieder zu öffnen.
Laschets Kurs war erfolgreich und führte dazu, dass die Bundesländer sich beim Tempo der Öffnung überboten. (Eine detaillierte und umfassende Chronologie der Ereignisse haben wir bei riffreporter.de aufgeschrieben.)
Im Interview vonZeit Online gibt Streeck sogar zu, seine Studie sei „mit heißer Nadel gestrickt“. Man habe sie noch vor Ostern präsentieren wollen, weil danach entschieden werden solle, wie es mit den strengen Maßnahmen weitergehe. Der Virologe hat als wissenschaftlicher Kronzeuge Laschets seine Regionalstudie dazu missbraucht, eine bundesweite Debatte zu drehen – mit weitreichenden Folgen.
3. Falsche Angaben zur Zahl der Toten in Heinsberg
Als im November 2020 die Ergebnisse der Heinsberg-Studie endlich nach den Regeln der Wissenschaft im Fachmagazin Nature Communications erscheinen, findet das Medizinjournalismusprojekt MedWatch heraus, dass Leitautor Hendrik Streeck die Zahl der Toten zu niedrig angegeben hat: Als die Forscherïnnen die Studie am 6. April 2020 abschließen, haben sie sieben Corona-Todesfälle gezählt. Aus ihren Zahlen berechnen sie eine sogenannte Fallsterblichkeit – also den Anteil der an Covid-19 Vestorbenen an allen Infizierten – von 0,35 Prozent.
Streeck hebt hervor, dass der Anteil der Toten deutlich unter anderen Schätzungen liege. Botschaft: Covid-19 ist weniger tödlich als angenommen.
Doch hinter der niedrigen Zahl steckt eine problematische Methode: Während Streeck und Kollegïnnen sämtliche Infizierte bis zum Ende der Datenerhebung in ihre Statistik aufnahmen – was dazu führte, dass die Gesamtzahl der Erkrankten in der Studie maximal hoch ist – hörten sie am 6. April auf, die Toten zu zählen. Deren Anteil erscheint also niedrig und das Sars-CoV-2 harmloser als befürchtet.
Es kann aber mehrere Wochen dauern, bevor Covid-Patientïnnen schwere Verläufe entwickeln oder an der Krankheit sterben. Deshalb mahnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer Empfehlung für die Durchführung solcher Studien: Um die Sterblichkeit zu berechnen, könne eine ausgedehnte Nachverfolgung nötig sein.
MedWatch hat ermittelt, dass die Zahl der Todesfälle unter den Menschen, die sich bis zum 6. April in Gangelt angesteckt haben, rund doppelt so hoch ist, wie in der Studie angegeben. Damit wäre auch die Fallsterblichkeit doppelt so hoch wie in der Studie angegeben – ein kapitaler Fehler. Die zusätzlichen Todesfälle seien Streeck spätestens seit September durch eine Anfrage bekannt gewesen, schreiben die MedWatch-Journalisten, dennoch seien sie nicht in die Studie aufgenommen worden. Streeck erklärt dies damit, die Angaben zu den neuen Toten seien nicht zuverlässig genug gewesen. Dabei stammen sie laut MedWatch aus derselben Quelle wie die Zahlen, die Streeck in seiner Studie verwendet hat.
4. „Keine Zweite Welle“ – und dann doch
Ende Mai 2020 sagt Hendrik Streeck in der Talkshow von Markus Lanz: „Ich gehe nicht davon aus, dass wir eine zweite Welle haben werden.” Das ist zu diesem Zeitpunkt eine Spekulation mit einem klaren Ziel: Weiteren Restriktionen die Grundlage zu entziehen. Ende August revidiert Streeck diese Aussage in der Talkshow von Sandra Maischberger (Min 4:45) komplett. Er sagt zum Infektionsgeschehen: „Es kann gut sein, dass das um das Zehnfache hochgehen wird“, also auf bis zu 20.000 registrierte Infektionsfälle pro Tag.
Jetzt weiß der Virologe plötzlich auch genau, woran das liegen wird: „Wir sind nicht mehr draußen, wir hocken alle beieinander.“ Im Mai war dies offenbar noch nicht absehbar. Doch eine solche Verzehnfachung, fügt er hinzu, sei „keine Apokalypse“, denn die meisten Infizierten hätten keine Symptome. Das „objektivierbare Risiko für den einzelnen Menschen“ sei gering. Eigentlich sei das Problem in der Pandemie die Angst.
Streecks Mantra: Das Virus „in unseren Alltag integrieren“, „mit ihm leben lernen“. Die mehr als 60.000 Verstorbenen haben das demnach einfach nicht geschafft. Hendrik Streeck ist als Wissenschaftler in die Talkshows eingeladen, er argumentiert vor der Kamera aber oft politisch oder mit Anekdoten aus seinem persönlichen Bekanntenkreis.
5. Erst für Lockerungen im Sommer 2020 plädiert – dann kritisiert, dass es keinen harten Lockdown gab
Im bereits zitierten dpa-Interview fordert Streeck Anfang Juni 2020, während der Sommermonate „gezielt mehr Infektionen zuzulassen“ und ein „bisschen mehr Mut“ zu Lockerungen im Sommer zu zeigen. Am 20. September sagt er in der Talkshow von Anne Will, er persönlich hätte Anfang September ein Konzert mit geplanten 13.000 Teilnehmern in Düsseldorf zugelassen. Offenbar auch als Test, ob das Hygienekonzept der Veranstalter, das Streeck als vorbildlich lobt, funktioniert.
Ende Dezember 2020 dagegen sagt er dem Merkur: „Ein harter Lockdown im Sommer bei niedrigen Fallzahlen wäre zum Beispiel sehr effizient gewesen. Dadurch hätten wir es geschafft, die Infektionszahlen auf ein Minimum zu drücken und wieder jede Kontaktperson nachverfolgen zu können. Das haben einige Länder wie Finnland oder Dänemark erreicht.“ Eine interessante Erkenntnis samt 180-Grad-Wende – ohne jeden Hinweis auf die eigene Rolle und seine Fehleinschätzung.
6. Etikettenschwindel: Sich fälschlicherweise als „die Wissenschaft“ ausgegeben
Ende Oktober tut Hendrik Streeck am Tag einer wichtigen Entscheidung von Bund und Ländern über den weiteren Kurs in der Pandemiebekämpfung fälschlicherweise so, als spreche er im Namen der Wissenschaft. Mit dem Virologieprofessor Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg und dem Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, veröffentlicht er am 28. Oktober 2020 ein Positionspapier (überarbeitete Fassung vom 4. November 2020), auf dessen Titelseite steht: „Positionspapier von Wissenschaft und Ärzteschaft zur Strategieanpassung im Umgang mit der Pandemie“.
Doch die Autoren sprechen, wie sich schnell herausstellen wird, weder im Namen der Wissenschaft noch im Namen der Ärzteschaft.
Streeck und seine Mitautoren machen in dem Papier und auch bei ihrer gemeinsamen Pressekonferenz Front gegen harte staatliche Maßnahmen. Sie werben für einen „Strategiewechsel“ im Umgang mit der Pandemie. Die Behörden sollten die Nachverfolgung von Infektionsketten aufgeben und stattdessen den Fokus auf den Schutz von Risikogruppen legen.
Gleichzeitig fordern die Autoren einen Schwenk von Verboten hin zu Geboten. Die Menschen in Deutschland sollen die Pandemiemaßnahmen also freiwillig einhalten und sich selbst und andere in eigener Verantwortung schützen. Die Botschaft an die Politik: kein Lockdown.
Zahlreiche Wissenschaftlerïnnen widersprechen im Anschluss der Behauptung Streecks, im Namen der Wissenschaft zu sprechen. Gerd Fätkenheuer, Leiter der Infektionsbiologie am Universitätsklinikum Köln, wirft den Autoren in einem Gastbeitrag in der FAZ vor, diesen Anschein bewusst geweckt zu haben. Auch die Behauptung, das Papier sei im Namen „der Ärzteschaft” verfasst, ist falsch. Medizinische Fachgesellschaften, deren Namen bei den Unterstützern standen, wussten gar nichts von der Stellungnahme oder gar ihrer Unterschrift.
Mehrere, darunter die Berufsverbände der Anästhesisten und Intensivmediziner, verlangten, entfernt zu werden, was dann auch geschah. Auch die Gesellschaft für Virologie, eine Fachgesellschaft deutschsprachiger Virologïnnen, kritisierte das Papier.
Streecks Etikettenschwindel war ein Affront gegen Institutionen wie die Nationalakademie Leopoldina oder die Allianz der Wissenschaftsorganisationen, die am ehesten beanspruchen können, im Namen „der“ Wissenschaft zu sprechen. Deutlich mehr qualifizierte Unterstützerinnen als das KBV-Papier hat ein Appell, den 330 Wissenschaftlerïnnen im Dezember 2020 im Fachmagazin Lancet veröffentlichten. Seine Mitinitiatorin Viola Priesemann, Expertin für Pandemiemodellierung am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, fordert in der ÄrzteZeitung das exakte Gegenteil von Streecks Strategie: „Es lohnt sich, die Fallzahlen konsequent runter zu bringen und dann auch wirklich konsequent dort unten zu halten. Wir haben bei niedrigen Fallzahlen mehr Freiheiten.“
7. Den Lockdown im Herbst erst abgelehnt, dann als alternativlos bezeichnet
In der Einschätzung staatlicher Maßnahmen hat sich Streeck mehrfach widersprüchlich geäußert.
Am 28. Oktober 2020 stehen Bund und Länder erneut vor der Frage, wie sie auf den starken Anstieg der Infektionszahlen im Verlauf des Monats reagieren sollen. Aus anfangs rund 3000 Fällen pro Tag waren Mitte des Monats rund 6000 und täglich 11.000 gegen Ende des Monats geworden. Im Positionspapier von Streeck, dem Hamburger Virologen Jonas Schmidt-Chansit und Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) heißt es: „Wir setzen auf Gebote anstelle von Verboten, auf Eigenverantwortung anstelle von Bevormundung. Verbote oder Bevormundung haben eine kurze Halbwertszeit und entsprechen nicht unserem Verständnis einer freiheitlich demokratischen Grundordnung.“
Während der Pressekonferenz zur Vorstellung des Papiers sagt Streeck auf eine Journalistenfrage hin (ab 1h19min): Ein Lockdown wäre zwar das Mittel der Wahl, wenn man die Infektionszahlen senken wolle, aber „die Position“ der Gruppe sei „eine andere“. Der Fokus solle stattdessen darauf liegen, Risikogruppen wie die Bewohner von Altenheimen zu schützen. Bund und Länder beschließen wenig später dennoch den Einstieg in neue staatliche Restriktionen.
Weil die Maßnahmen nicht sofort greifen können, steigen die Infektionszahlen erstmals weiter auf über 20.000 pro Tag, und erstmals seit Anfang Mai sterben wieder mehr als 100 Menschen täglich an oder mit Covid-19. Unter diesem Eindruck folgt in der Talkshow von Markus Lanz vom 10. November 2020 (ab Minute 44) Streecks Kehrtwende: „Der Lockdown war jetzt gut und richtig, er war das einzige Mittel, das wir noch hatten, gerade wenn man über […] Krankenhausbelegung redet“, sagt Streeck jetzt.
Zuerst falsch, dann richtig – Hendrik Streeck geriert sich so lange als besonnener Verteidiger der bürgerlichen Freiheit vor Coronaauflagen, als aufgeklärter Mahner aus der Wissenschaft vor Eingriffen des Staates, bis er die Position wirklich nicht mehr halten kann.
8. Tödlichkeit von Covid-19 massiv unterschätzt
Nicht nur in seiner Heinsberg-Studie hat Streeck die Tödlichkeit von SARS-CoV-2 unterschätzt. Am 1. März 2020 schrieb er auf Twitter: „Es sollte Mut machen, dass trotz der bisher fast 100 #SARSCoV2 Infektionen in Deutschland, wir nur selten schwere Verläufe sehen und keine Todesfälle zu beklagen haben. Unsere Einschätzung des Virus ist richtig gewesen.“
Schon einen Monat später sind 732 Menschen tot.
Im Oktober 2020 sagt Streeck in der Talkshow von Sandra Maischberger (Min 03:50): „200 Tote pro Tag bei 20.000 Infektionen empfinde ich als sehr hoch gerechnet. Da gibt es andere Rechnungen, die eine sehr viel niedrigere Sterblichkeitsrate sehen.“
Zwischen dem 1. Dezember 2020 und dem 29. Januar 2021 wurden in Deutschland im Durchschnitt täglich rund 19.300 Infektionsfälle gemeldet, also etwas weniger als 20.000. Die durchschnittliche Zahl der Covid-Toten pro Tag lag im selben Zeitraum bei 670, also mehr als drei Mal höher als der Wert, den Streeck als „sehr hoch gerechnet“ eingestuft hat. Seine Einschätzung hat sich als weiterer massiver Fehler herausgestellt.
9. Gefahr durch Virusmutationen klein geredet
Als in Großbritannien, Brasilien und Südafrika Anfang 2021 mutierte Versionen von SARS-CoV-2 auftauchen, die sich deutlich schneller ausbreiten als die bisherigen Varianten des Virus, wiegelt Streeck vorschnell ab. Die Einschätzungen, wie gefährlich diese Entwicklung genau ist, gehen zu dem Zeitpunkt in der Fachwelt durchaus auseinander. Doch die Sorge ist – etwa beim US-amerikanischen Virologen Anthony Fauci – groß, dass nicht nur die Infektionszahlen stark steigen, sondern wegen der Mutationen eventuell auch die Impfstoffe weniger gut vor einer Ansteckung schützen könnten.
Fauci spricht von einem „Weckruf“. Streeck reagiert dagegen mit einem Vergleich, der irreführt: Man müsse die Mutationen ernstnehmen, aber sie seien nicht so ansteckend wie die Masern, sagt er Mitte Januar der Rheinischen Post. Diesen Vergleich hat sonst niemand gemacht, denn die Masern gehören zu den ansteckendsten Krankheiten überhaupt. Gegen sie muss jede andere Ansteckungsrate harmlos wirken. Streecks Botschaft ist einmal mehr: „Kein Grund, in Panik zu geraten.“ Wie die weitere Entwicklung etwa in Großbritannien und Irland zeigt, wäre Vorsicht deutlich angebrachter gewesen.
10. Forderung nach Schutz von Risikogruppen ohne schlüssiges Konzept
Wiederholt hat Hendrik Streeck gefordert, die „Risikogruppen“ besser zu schützen, aber die restliche Bevölkerung weitgehend uneingeschränkt ihrem Alltag nachgehen zu lassen. Dieser Kurs, den auch die Autoren der „Great-Barrington-Erklärung“ einschlagen wollen, klingt überzeugend einfach: Denjenigen, „die ein minimales Sterberisiko haben, ein normales Leben zu ermöglichen, damit sie durch natürliche Infektion eine Immunität gegen das Virus aufbauen können, während diejenigen, die am stärksten gefährdet sind, besser geschützt werden“.
Doch das Konzept beruht auf falschen Annahmen. Bewohnerïnnen von Alten- und Pflegeheimen sowie Patientïnnen von Krankenhäusern kann man verhältnismäßig einfach isolieren, aber sie bilden gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung.
Die eigentliche Risikogruppe ist viel größer: Mehr als 20 Millionen Menschen in Deutschland sind älter als 65 Jahre. Sie gehören allein wegen ihres Alters zu den Risikopatienten. Hinzu kommen Jüngere, die unter Vorerkrankungen leiden, oder Schwangere. Insgesamt schätzen Expertïnnen den Anteil besonders Gefährdeter auf zwischen 30 und 40 Prozent der Bevölkerung.
Allein diese Zahlen zeigen, dass es praktisch unmöglich ist, so viele Risikopatienten von den vermeintlich weniger gefährdeten Menschen auseinanderzuhalten – zumal viele Leute vermutlich gar nicht wissen, dass oder ob sie einen Risikofaktor in sich tragen. Hinzu kommen die Risiken für Long Covid (siehe 11.), also monatelang anhaltende schwere Beeinträchtigungen von Patientïnnen, auch solchen mit milden Verläufen am Anfang.
Es gebe keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass es möglich sei, besonders gefährdete Gruppen zu schützen, schreibt ein internationales Team von Wissenschaftlerïnnen am 15. Oktober 2020 im Fachmagazin The Lancet. Risikogruppen über lange Zeit zu isolieren, sei so gut wie unmöglich und dazu unethisch. Daten aus einer ganzen Reihe von Ländern zeigten, dass unkontrollierte Ausbrüche sich nicht auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränken ließen. Sie stimmten zu, dass es besonderer Anstrengungen bedarf, gefährdete Menschen zu schützen. Diese Maßnahmen müssten aber Hand in Hand gehen mit vielfältigen Strategien in der gesamten Bevölkerung.
Mit anderen Worten: Die Risikogruppen zu schützen, funktioniert am effektivsten, wenn es insgesamt wenig Ansteckung gibt. Wider besseres Wissen wiederholt Streeck seine Forderung in der Süddeutschen Zeitung am 30. Oktober 2020:Es könne nicht darum gehen, „jede Infektion um jeden Preis“ zu verhindern. Stattdessen brauche es „zuallererst einen besseren Schutz der Risikogruppen“.
11. Erkenntnisse zu Long Covid konsequent ignoriert
Hendrik Streeck hat immer wieder gefordert, man solle nicht hauptsächlich auf die Infektionszahlen schauen, sondern die bekannten Risikogruppen besonders schützen und bei schweren Verläufen die Intensivbehandlung garantieren. Dabei blendet er eine wichtige Erkenntnis aus 12 Monaten Corona-Forschung konsequent aus: Die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Infizierten – auch und gerade solche mit milden Verläufen in der Anfangsphase – mit massiven Spätfolgen zu kämpfen hat.
Die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) haben im Herbst 2020 eine umfassende Liste mit Problemen des sogenannten „Long Covid“ vorgelegt. Zu häufigen Langzeitfolgen zählen Erschöpfungszustände, Kurzatmigkeit, Husten, Brustschmerzen und Gelenkschmerzen. Zudem könnten über lange Zeiträume kognitive Probleme („brain fog“ genannt), Depressionen, Kopf- und Muskelschmerzen, Fieberschübe und Herzrasen auftreten. Seltener komme es zu Herzmuskelentzündungen, Lungen- und Nierenproblemen, Hautausschlägen, andauernden Einschränkungen des Geruchs- und Geschmackssinns, Schlafproblemen und weiteren psychischen Probleme wie Angststörungen. Long Covid sei „ein reales und ziemlich verbreitetes Phänomen“, sagte der führende US-amerikanische Corona-Experte Anthony Fauci Anfang Dezember 2020 bei einer Tagung.
Streeck könnte es schon längst besser wissen: Bereits im Juli 2020 berichteten italienische Wissenschaftler im Fachmagazin Jama, dass von 147 Menschen mit einer Corona-Infektion auch 60 Tage nach Beginn der Symptome lediglich 18 gänzlich genesen waren. 32 Prozent litten nach diesem Zeitraum weiterhin unter ein oder zwei Symptomen, 55 Prozent unter drei oder mehr Symptomen. Berichtet wird in der wissenschaftlichen Literatur auch über eine nennenswerte Zahl von gefährlichen Thrombosen und Lungenembolien, die erst nach der ersten akuten Phase der Krankheit aufgetreten sind, ebenso von anhaltenden Schäden an Herz und Lunge, die zum Beispiel bei einer österreichischen Studie entdeckt wurden. Der britischen Statistikbehörde zufolge haben 10 Prozent der Betroffenen mehr als drei Monate nach Ende der Akutphase noch ernsthafte Gesundheitsprobleme. Eine Studie aus China beschreibt erhebliche Probleme.
Hendrik Streeck blendet das Leid dieser Menschen aus und nimmt in Kauf, dass allein in Deutschland viele Millionen Menschen zusätzlich unter Long Covid leiden würden, wenn die Politik seinen Kurs einschlagen würde.
Die Menschen, die heute schon leiden, müssen sich verhöhnt fühlen von dem, was Streeck am 28.10.2020 in der Pressekonferenz der KBV über sie sagte (ab 1h20min): Er forderte, Ressourcen weg vom Infektionsschutz hin zum Schutz der eng definierten Risikogruppen zu verlagern, also dem Virus deutlich freieren Lauf in der Bevölkerung zu lassen als mit den Restriktionen: „Ich weiß, da gibt es das Argument immer mit den Jüngeren, das ist etwas, worüber wir vielleicht mal in Ruhe reden müssen generell, weil virale Erkrankungen bei vielen Menschen immer auch Schäden anrichten, von der Grippe bis zur EBV-Infektion (Anm.: Epstein-Barr-Virus) oder so können alle mal Schäden anrichten, aber der Fokus, was wir versäumt haben und den Fokus, den wir nicht legen, ist wirklich auf die, die ein Risiko haben. Und wenn wir uns auf die konzentrieren, dann sind die Infektionszahlen nicht mehr das Hauptaugenmerk. Daher ist da, glaube ich, ein Missverständnis darin, um was es geht.”
Während Experten wie Anthony Fauci in den USA sagen, Long Covid sei „eine reale Sache und sehr weit verbreitet” und die US-Gesundheitsbehörde NIH im Dezember ein zweitägiges Symposium mit vielen warnenden Stimmen ausrichtete, zieht Streeck die verharmlosende Grippe-Karte und sagt, über das Leiden der Betroffenen müsse man „vielleicht mal” reden.
12. Das Grundproblem: Eine falsche Logik
Hinter den vielen Irrtümern von Hendrik Streeck steckt ein gemeinsames Problem: Der Virologe sieht Infektionen mit dem Corona-Virus nicht an sich als Problem an, weil er sich darauf versteift, dass der größte Teil von ihnen harmlos verläuft. „Wir dürfen uns bei der Bewertung der Situation nicht allein auf die reinen Infektionszahlen beschränken“, sagt Streeck zum Beispiel. Oder: „Alleine auf die Infektionszahlen zu schauen, ist in unseren Augen zu wenig.“
Was Streeck vergisst dazuzusagen: Niemand beschränkt sich allein auf die Infektionszahlen. Der Virologe konstruiert einen Gegensatz, der gar nicht da ist.
Davon abgesehen sind und bleiben die Infektionszahlen die beste Kennziffer für den Erfolg oder Misserfolg im Kampf gegen die Pandemie.
Je weniger Menschen sich infizieren, desto weniger bekommen Covid-19, desto weniger erkranken so schwer, dass sie ins Krankenhaus müssen, desto weniger geraten in Lebensgefahr und werden auf die Intensivstation verlegt, desto weniger sterben an ihrer Infektion. Die falsche Logik hat auch damit zu tun, dass Streeck es bis in den Herbst hinein für unwahrscheinlich gehalten hat, dass wirksame Impfstoffe entwickelt werden können. In diesem Fall wäre es wirklich unvermeidlich gewesen, dass das Virus nach und nach die gesamte Bevölkerung erfasst.
Die Belegung der Intensivstationen und die Sterblichkeit zum Beispiel – zwei andere Indikatoren für die Schwere der Pandemie – geraten erst in kritische Bereiche, wenn das Virus längst aus dem Ruder gelaufen ist, also um Wochen zu spät. Auch das hat sich im Herbst gezeigt.
Dank der Leistungen der Impfstoff-Entwickler wird es nun aber möglich sein, durch Restriktionen und den medizinischen Immunschutz weltweit Millionen Menschen das Leben zu retten und noch mehr Menschen schwere Nachwirkungen von Long Covid zu ersparen.
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Jeder kann sich irren – das wissen Journalistïnnen genausogut wie Wissenschaftlerïnnen. Aber wenn ein Forscher, der für sich in Anspruch nimmt, fundierte Aussagen zu treffen, um Menschen über eine laufende Pandemie zu informieren und damit politische Entscheidungen zu beeinflussen, mit seinen Einschätzungen so konsequent danebenliegt, sich so häufig selbst widerspricht, und zwar aus politischen Motiven statt auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse – wenn jemand das so oft tut wie Streeck, muss man als Redaktion in Frage stellen, ob man diesem Forscher ein Millionenpublikum bieten sollte.
Das Problem fängt allerdings nicht erst in den Medien an, sondern bereits in der Wissenschaft. Institute und Hochschulen erhalten Millionen für Wissenschaftskommunikation und geben sie aus, sind aber nicht in der Lage, die Fehlinterpretationen eines mediengewandten Wissenschaftlers bloßzustellen und die Öffentlichkeit vor irreführenden Aussagen aus ihren eigenen Reihen zu warnen.
Dafür sind offenbar die Hemmungen der Herren und Damen Professoren, sich gegenseitig öffentlich zu kritisieren, zu groß.
Von Verschwörungsmythen und Querdenkerïnnen hält Streeck sich entschieden fern, warnt vor ihnen als „brandgefährlich“. Aber gerade dass er kein Wolfgang Wodarg oder Sucharit Bhakdi ist sondern ein seriöser Wissenschaftler, macht die Wirkung auf das Publikum umso stärker – und problematischer.
Zwei Wissenschaftsredakteurinnen des „Spiegel“ brachten dies Ende Januar mit einer Frage an Christian Drosten auf den Punkt. „Einen größeren Schaden als Corona-Leugner haben im vergangenen Jahr wohl Experten angerichtet, die immer wieder gegen wissenschaftliche begründete Maßnahmen argumentiert haben, zum Beispiel Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck (…) Wann platzt ihnen der Kragen?“
Drostens bezeichnende Antwort: „Wollen Sie, dass ich jetzt Kollegen namentlich kritisiere? Ich halte nichts davon, ad personam zu gehen.“
Das mag ein vornehmer Zug sein – aber wenn sich neben den Fachkollegïnnen auch Vertretungen der Wissenschaft wie die Nationalakademie Leopoldina oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft zu fein dafür sind, Kritik an jemandem zu äußern, der als Vertreter der Wissenschaft auftritt, aber sehr oft falsch liegt und Irrtümer verbreitet, dann gibt es ein Problem.
Dieses Problem setzt sich dann in Fehlentscheidungen von Talkshow-Redaktionen fort.
Angesichts der Liste von Streecks Irrtümern muss man sich fragen: Wie konnte und kann jemand, der so konsequent daneben gelegen hat, so viele Einladungen vor ein Millionenpublikum bekommen?
Die Antwort könnte so banal wie erschreckend sein: Es geht bei diesen Formaten nicht darum, einen Wettstreit belegbarer Positionen auszutragen. Die Talkshow-Logik funktioniert anders – und ist sehr gefährlich in einer Phase, in der Mediendebatten Menschenleben retten oder kosten können, weil Menschen ernst nehmen, was da gesagt wird.
Volker Stollorz, Geschäftsführer des Science Media Centers, einer gemeinwohlorientierten Wissenschaftsredaktion, die Journalistïnnen kostenlos wissenschaftliche Expertise vermittelt, hat es bei seinem Rückblick auf das Jahr 2020 in der Zeit so beschrieben: Die Talkshows im Fernsehen, der Politikjournalismus im Allgemeinen interessieren sich mehr für starke Meinungen als für sorgfältige Recherche. Sie suchen Experten auch danach aus, dass die eine gute Figur machen.
In der Politik ist es durchaus wichtig, auch Meinungen von Minderheiten Gehör zu verschaffen. Der Gegenseite die Möglichkeit zur Reaktion zu geben, ist ein hohes Gut. Aber, so Stollorz: „Wissenschaft ist keine Demokratie. Die Öffentlichkeit muss dem Wissen, das sie generiert, ein Stück weit vertrauen.“
Es bringt die Öffentlichkeit nicht weiter, wenn Einzelstandpunkte von Wissenschaftlern, die längst widerlegt sind, in den Medien aufgeblasen werden.
Jeder darf natürlich seine Meinung zu Maßnahmen haben und äußern. Das ist vom Grundgesetz geschützt. Aber in der Wissenschaft geht es um Fakten. Stollorz: „Virologen wie der HIV-Experte Hendrik Streeck vertraten emotional für viele im Publikum attraktive Minderheitenpositionen und selbst ernannte Pseudoexperten in sozialen Netzwerken schafften es immerhin, sich – unter dem Siegel der Meinungsvielfalt – mit Verantwortlichen von öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern zu treffen. Im Ergebnis können sich durch solche Verstärkereffekte in bestimmten Publika absurde Thesen verselbstständigen.“
In letzter Zeit sagt Hendrik Streeck immer wieder Sätze wie: „Wir müssen mit dem Virus leben.“ Eine Binse. Wenn die Menschen aber so lebten, wie er das in diesem ersten Jahr der Pandemie immer wieder propagiert hat, wären noch viel mehr Menschen an dem Sars-Coronavirus gestorben und würden noch unzählige Menschen mehr unnötig sterben, bevor sie den Impfstoff bekommen können.
Streeck genießt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sichtlich. Er fordert sie inzwischen sogar ein. Zuletzt beschwerte er sich im Interview mit der Zeitung Welt, dass die Regierung ihn nicht bei ihren Beratungen über die neuen Schutzmaßnahmen eingeladen hatte.
Von Einsicht keine Spur.