Experten empfehlen sofortige Booster-Offensive, um vierte Corona-Welle zu brechen
Bekannte Wissenschaftler*innen vergleichen Szenarien für möglichen Verlauf der Pandemie im Winter und identifizieren Auffrischungs-Impfungen als beste Strategie gegen Covid-19.
Die vierte Corona-Welle ist die bislang höchste in Deutschland. Inzidenzen steigen, alleine in den vergangenen zwei Wochen sind fast 2000 Menschen an Covid-19 gestorben. Das Gesundheitssystem nähert sich erneut seiner Belastungsgrenze, an der Berliner Charité und anderen Kliniken werden wieder Operationen verschoben.
Das fatale Gesetz der Pandemie kommt weiter zum Tragen: Je mehr Menschen neu erkranken, desto mehr Patient*innen werden wegen der Schwere ihrer Erkrankung in Kliniken oder gar auf Intensivstationen eingewiesen. Etwa jeder hundertste Mensch in Deutschland, der an Covid-19 erkrankt, stirbt unverändert an dem Leiden.
Die Zahlen sind besorgniserregend und spiegeln schlichte Wahrheiten wider. Die aktuellen Corona-Statistiken „sprechen eine deutliche Sprache“, sagt Klaus Überla, Virologe am Universitätsklinikum Erlangen. Die aktuelle Lage habe „sich seit September abgezeichnet“.
Das Mitglied der Ständigen Impfkommission, STIKO, sieht zwei Hauptursachen dafür, dass dieser Herbst nicht besser, von den absoluten Zahlen her sogar dramatischer verläuft als der vergangene: Die Delta-Variante des SARS-CoV-2-Virus sei leichter übertragbar als die damaligen Virusvarianten. Vor diesem Hintergrund reiche die aktuelle Impfquote in der Bevölkerung von rund 67 Prozent vollständig Geimpften nicht aus. Es haben sich bisher schlicht zu wenige Menschen impfen lassen.
Die große, möglichst rasch zu beantwortende Frage lautet nun: Wie kommen wir als Gesellschaft am besten durch den kommenden Winter?
Drei Szenarien für den Winter
Diese alles entscheidende Frage hat nun ein Gremium aus 21 Expert*innen aufgegriffen, darunter bekannte Virolog*innen wie Überla oder Sandra Ciesek von der Uniklinik Frankfurt, Modellierer*innen wie Viola Priesemann aus Göttingen oder der Berliner Klaus Nagel, die Politologin Barbara Prainsack aus Wien, Epidemiolog*innen wie Eva Grill aus München oder Hajo Zeeb aus Bremen und Mediziner*innen wie der Kölner Christian Karagiannidis oder der Berliner Leif Erik Sander.
Unter Federführung von Priesemann legten sie ein gemeinsames Strategie-Papier mit dem Titel „Nachhaltige Strategien gegen die Covid-19-Pandemie in Deutschland im Winter 2021/22“ vor.
Das Team rechnet darin drei Szenarien durch:
- Die Gesellschaft verhält sich den Winter hindurch weiter wie bisher.
- Sie versucht mit den bewährten Maßnahmen der Infektionsvermeidung und Verringerung von Kontakten zu verhindern, dass die Situation eskaliert.
- Oder sie investiert in eine „Impf- und Booster-Offensive“, mit dem Ziel, den Immunschutz in der Gesamtgesellschaft möglichst zu erhöhen.
„Boostern ist eine sehr wirksame Maßnahme zum Brechen der aktuellen Welle“ (Priesemann et al.)
Das Resultat der Modellierung ist eindeutig: Bei den ersten beiden Szenarien würde das Gesundheitssystem wahrscheinlich überlastet oder über einen langen Zeitraum nahe an der Grenze arbeiten. Allenfalls in Landkreisen, in denen schon heute 80 Prozent der Bevölkerung geimpft seien, könnte ein „Weiter so“ ausreichen. Würden hingegen ähnlich viele Menschen die dritte Impfspritze erhalten – die so genannte Booster-Impfung – wie im Frühsommer 2021 geimpft wurden, wäre viel erreicht: „Simulationen zeigen, dass eine Booster-Kampagne mit dieser Impfgeschwindigkeit bereits nach einem Monat erste Wirkung zeigen wird“, schreibt das Gremium.
Kein Wunder, dass Viola Priesemann in einer Online-Pressekonferenz des Science Media Center Germany das dritte Szenario empfiehlt: „Boostern ist eine sehr wirksame Maßnahme zum Brechen der aktuellen Welle“, sagt die Physikerin und Systembiologin. „Unser Vorschlag ist, jetzt ganz genau zu schauen, wie man die Impfgeschwindigkeit erhöhen kann.“ Dabei helfe sowohl das Boostern bereits Geimpfter Personen, als auch das vermehrte Impfen bislang Ungeimpfter.
Aufforderung an die Politik
Diese Aussage ist eine Aufforderung an die Politik, mehr für eine Impfkampagne zu tun. Anders als im Sommer sei ja die Menge des Impfstoffs nicht mehr begrenzt, hebt Priesemann hervor.
Der Virologe und STIKO-Experte Klaus Überla wird noch deutlicher: Gäbe es hingegen ausreichende Angebote zum Impfen, würde die STIKO die dritte Impfung auch für Jüngere empfehlen. Angesprochen darauf, warum die Impfkommission das Boostern bislang nur für Ältere empfiehlt, sagt er, diese bräuchten den Schutz am dringendsten und sollten deshalb zuerst an die Reihe kommen. Das entlaste auch das Gesundheitssystem am meisten, da es viel wahrscheinlicher sei, dass Menschen aus den Risikogruppen auf den Intensivstationen behandelt werden müssten.
„Zusätzliche Kapazitäten können nur durch die Politik geschaffen werden“, sagt Überla. Die Politik sei über die Position der STIKO „bereits informiert“.
„Maßnahmen aus dem letzten Jahrhundert“
Auch die Epidemiologin Eva Grill von der Ludwig-Maximilians-Universität München plädiert für mehr Impfungen: „Die Verbesserung des Impfschutzes ist nachhaltig“, weist sie auf die vergleichsweise lange Wirkung dieser Maßnahme hin. Maske tragen, testen, Abstand halten: All das helfe nur kurzfristig. Es seien im Grunde „Maßnahmen aus dem letzten Jahrhundert“. Vor allem aber schütze eine Impfung beide: die Menschen, die sich impfen lassen, und die Menschen, mit denen sie zusammenkommen. Geimpfte stecken sich nämlich nicht nur weniger stark an als Ungeimpfte: „Selbst wenn sie infektiös sind, sind sie weniger infektiös als andere.“
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