Europa wird Raketenstartplatz
Raketenflugzeuge aus Süditalien, neue Billigraketen aus Schottland oder Schweden: In Europa sollen in den nächsten Jahren mehrere neue Weltraumbahnhöfe entstehen. Aber wie seriös sind diese Pläne?
Was ist geplant?
An mindestens vier Orten in Europa werden derzeit neue Startplätze für Flüge ins All vorbereitet. Aus Sutherland im schottischen Hochland wollen ein britisches und ein US-Unternehmen ab 2020 Kleinraketen starten. Auch nahe Schwedens nördlichster Stadt Kiruna gibt es vergleichbare Pläne: Derzeit laufen dort Verhandlungen mit gleich drei Raketenbauern für Satellitenstarts ab 2021. Zwei dieser Hersteller stammen aus den USA, einer aus Neuseeland. Ein US-Investor verfolgt das Ziel, Touristen aus Süditalien an den Rand des Weltraums zu bringen. Zudem würde die portugiesische Regierung gerne einen Weltraumbahnhof auf den Azoren etablieren.
Wären Raketenstarts aus einem EU-Staat neu?
Bislang waren Raketenstarts in Europa fernab der russischen Kosmodrome einigen Tüftlern und Forschern vorbehalten: Dazu gehört der dänische Verein Copenhagen Suborbitals, dessen Mitglieder alle paar Jahre Raketen von einer Plattform in der Ostsee starten. Sie haben aber bislang noch nicht einmal eine Höhe von 100 Kilometern erreicht, die als Grenze zum Weltraums gilt. Vom schwedischen Kiruna hingegen starten immer wieder Höhenforschungsraketen auch über diese Grenze hinweg, und das schon seit 1964. Auch diese sind jedoch zu schubschwach, um Satelliten in eine Umlaufbahn zu bringen – die wissenschaftlichen Nutzlasten bleiben auf einer ballistischen Bahn und fallen direkt zur Erde zurück.
Warum gibt es nicht genug Weltraumbahnhöfe?
Bis vor wenigen Jahren kamen weltweit kaum neue Startplätze hinzu, denn die Zahl der ins All zu entsendenden Satelliten stieg nur vergleichsweise langsam an. Seit fünf Jahren aber schnellt das Interesse speziell an kleinen Nutzlasten in die Höhe, denn da kamen CubeSats in Mode: Diese Satelliten wiegen nicht mehr als eine Milchpackung und umschwärmen die Erde mittlerweile in großer Anzahl, um beispielsweise jeden Flecken der Oberfläche in stündlichem Abstand zu fotografieren. Mehrere Anbieter wollen in wenigen Jahren global Breitbandinternet anbieten und dafür sogar weit über tausend Kleinsatelliten starten, die mit einer Einzelmasse von einigen hundert Kilogramm immer noch vergleichsweise leicht sind. Hans Steininger vom Augsburger Raumfahrtzulieferer MT Aerospace schätzt, dass weltweit momentan 75 verschiedene neue Kleinraketen entwickelt werden. Auch wenn vermutlich nur ein Teil von ihnen erfolgreich fertiggestellt wird und sich wirtschaftlich behaupten kann: Jeder neue Raketentyp braucht einen Startplatz.
Hat Europa nicht schon einen Raketenbahnhof?
Die europäischen Raketen starten seit 50 Jahren aus Kourou in Französisch-Guayana in Südamerika. Von hier fliegt die bewährte Ariane 5, die ab 2020 von ihrer Nachfolgerin Ariane 6 abgelöst werden soll. Für dieses neue Modell wird derzeit eine eigene Rampe gebaut. Dazu starten aus Kourou die Kleinrakete Vega sowie die in Russland gebaute Sojus-Rakete. Aber allesamt können die sich im harten Wettbewerb um kleine Satelliten nur schwer durchsetzen – und sie werden die schiere Anzahl der schon bald nachgefragten Startgelegenheiten ins All auch gar nicht erfüllen können.
Auch aus Großbritannien sollen Raketen starten – wegen des Brexits?
Vermutlich nicht: Die Pläne für den schottischen Startplatz existierten schon lange vor der Brexit-Abstimmung. Auf der Luft- und Raumfahrtmesse im englischen Farnborough im Juli 2018 kündigte die britische Regierung an, diesen bislang kaum finanzierten Plan mit rund 30 Millionen Pfund (33 Millionen Euro) zu unterstützen; erste Raketen könnten ab 2020 abheben. Ein britischer Staatssekretär schätzte im August, dass dort in den nächsten 12 Jahren bis zu 2000 Kleinsatelliten starten könnten. Doch dürften Raketen aus Sutherland Großbritannien kaum von größeren Trägern wie der Ariane unabhängig machen. Denn die anvisierten Kleinraketen werden kaum tonnenschwere Nutzlasten stemmen können.
Gibt es auch Pläne, Menschen ins All zu schicken?
Der US-Unternehmer Richard Branson würde gern von Süditalien aus Kurztrips an den Rand des Alls durchzuführen: Sein Flugzeug WhiteKnightTwo mit seiner raketengetriebenen Zweitstufe ist laut Bransons Firma Virgin Galactic ausreichend getestet, um nach 14 Jahren der Entwicklung nun endlich Touristen einen Flug in eine Höhe von gut hundert Kilometern anzubieten. Der Startplatz liegt nahe des kleinen Flughafens Taranto-Grottaglie in Apulien. Mit zwei italienischen Technikfirmen hat Virgin Galactic bereits erste Verträge abgeschlossen. Dennoch sind derartige Ankündigungen mit Vorsicht zu genießen: Schon vor über sechs Jahren wollte Branson solche Flüge von Europa aus anbieten – damals allerdings noch aus Nordschweden, von wo bis heute kein einziges Virgin-Flugzeug abhob.
Darf man aus Europa überhaupt Raketen starten?
Raketen sind gefährlich: Sie können in geringer Höhe explodieren; manche verwenden giftige Treibstoffe. Dazu bestehen sie fast immer aus mehreren Stufen, die schrittweise zurück zur Erde fallen. Daher liegen Raketenbahnhöfe weltweit in entlegenen Gebieten, wo sie wenige Menschen gefährden können. In Deutschland und in anderen dicht besiedelten Teilen Mittel- oder Westeuropas dürften neue Weltraumbahnhöfe sicher kaum genehmigt werden. Der Standort müsste wie in Nordschweden in einer unbesiedelten Einöde liegen – oder wie in Italien oder Dänemark am Meer. Dazu kommt die nationale Gesetzeslage: Die schwedische Regierung etwa arbeitet derzeit noch an einem Gesetz, das Flüge in die Umlaufbahn zuließe.
Wie gut ist Europa als Startplatz für Raketen geeignet?
Der Standort der Startrampe ist entscheidend: Je näher am Äquator eine Rakete abhebt, umso schneller wird sie auf dem Weg nach oben. Das ist allerdings vor allem für Satelliten relevant, die etwa in geostationäre Bahnen fliegen müssen. Der Boom der neuen Trägerraketen richtet sich dagegen auf Kleinsatelliten, von denen viele auf sogenannte polare Umlaufbahnen geschossen werden: Diese Orbits kreuzen bei jedem Umlauf einen Punkt oberhalb von Süd- und Nordpol. Sie könnten daher ausgezeichnet von einem arktischen Weltraumhafen wie Kiruna abheben.
Eine frühere Fassung dieses Textes erschien am 7. August 2018 in der Stuttgarter Zeitung.