Die Erfindung des aufrechten Gangs

Als Affen sich auf zwei Beine erhoben, begannen sie sich in Richtung Mensch zu entwickeln

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Das Foto zeigt zwei männliche Schimpansen, die vor gelbem Hintergrund auf einem dicken grauen Baumstamm laufen und dabei ihre Vorderbeine mit abgewinkelten Fingern – dem sogenannten Knöchelgang – aufsetzen. Schimpansen können nur kurze Strecken auf zwei Beinen zurücklegen. Einige der gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Menschen aber entwickelten den aufrechten Gang – und wurden zu Urahnen des Homo sapiens.

Der Homo sapiens und seine engeren Verwandten sind die einzigen Säugetiere, die permanent auf zwei Beinen laufen. Die ungewöhnliche Fortbewegungsweise steht am Anfang der menschlichen Linie und war Voraussetzung für die Evolution der Gattung Homo. Doch wann, wie und wo entwickelte sich diese körperliche Anpassung? Vor allem: Welchen Grund gab es dafür? Forschungen der letzten Jahrzehnte haben dazu verblüffende Erkenntnisse geliefert und lassen die Anfänge der Menschheitsgeschichte in neuem Licht erscheinen

Dies ist der zweite Text einer achtteiligen Serie zur Geschichte des Menschen. Die Beiträge folgen im Abstand von je einigen Monaten als nächstes: „Das Zeitalter der Affenmenschen“.

Im Herbst 1973 wird für den jungen Anthropologen Donald Johanson ein Traum wahr. Der US-Amerikaner hat gerade seine 450-seitige Doktorarbeit über das Gebiss der Schimpansen fertig geschrieben und nun zusammen mit französischen Kollegen eine erste Expedition zur Suche nach menschlichen Vorfahren organisiert. Sie führt ihn in die Afar-Region in Äthiopien, einer heißen Wüstengegend, an deren Oberfläche bereits zahlreiche Fossilien von Tieren aufgetaucht sind. Johanson weiß, dass die hier von tektonischen Kräften hochgedrückten Sedimentschichten mindestens drei Millionen Jahre alt sind und hofft versteinerte Relikte von uralten Ahnen des Homo sapiens zu finden.

Eines Tages – der Paläoanthropologe ist schon fast verzweifelt, weil sich die Expedition dem Ende nähert und er bislang nichts Spektakuläres gefunden hat – sieht Johanson bei einem seiner Suchgänge einen kleinen spitzen Knochen aus dem Sand ragen. Er hält ihn zunächst für die Rippe eines Nilpferdes. Doch dann erkennt sein geschultes Auge: Es ist das obere Ende eines Schienbeins und muss zu einem Primaten gehört haben, also einem Vertreter aus der Verwandtschaft der Affen und Halbaffen. Noch während Johanson den Fossilfund – so wie es üblich ist – mit Ort und Nummer in sein Notizbuch einträgt, entdeckt er in wenigen Metern Entfernung einen weiteren, vom Wind freigeblasenen versteinerten Knochen. Er ist in zwei Teile zerbrochen; zusammen ergeben sie ein Stück Oberschenkelknochen mit den beiden Höckern des Kniegelenks. Und dann wird dem jungen Forscher klar: Der Oberschenkelknochen und das Schienbein gehören zusammen. Sie formen ein Kniegelenk, das einst einem Wesen gehört hat, das vor mehr als drei Millionen Jahre lebte. Ein sehr seltener Fund.

Ein Knie verändert ein Forscherleben

Doch das ist nicht alles. Johanson kennt sich bestens mit der Anatomie von Schimpansen und dem Homo sapiens aus und hält die Knochenteile so übereinander, wie sie einst im Knie eines Lebewesens angeordnet waren. Dabei fällt ihm auf, dass der Oberschenkelknochen etwas abgewinkelt auf dem Schienbeinknochen sitzt. Bei Menschenaffen bilden die Knochen eine gerade Linie, weiß der Paläoanthropologe. Beim Menschen dagegen formen sie einen leichten Winkel. Das liegt daran, dass beim Homo sapiens das Becken breiter ist als zum Beispiel beim Schimpansen. Das Hüftgelenk liegt also weiter außen und deshalb führen die Oberschenkelknochen ein wenig schräg zum Kniegelenk. Es ist eine Anpassung an den aufrechten Gang. Und da wird dem jungen Forscher die Sensation klar: Er hält das Kniegelenk eines Wesens in den Händen, das bereits vor mehr als drei Millionen Jahren auf zwei Beinen durch die afrikanischen Savannen gelaufen ist!

Das schwarzweiße Röntgenbild zeigt die beiden massiven Kniegelenke eines heutigen Menschen und jeweils ein Stück der Oberschenkelknochen sowie der Unterschenkel. Die Knochen im Gelenk stehen etwas schräg aufeinander, weil das Becken beim aufrecht gehenden Menschen breiter ist als bei Affen. So lässt sich auch an fossilen Knochen erkennen, ob sich ein Lebewesen einst zweibeinig fortbewegt hat.
Im menschlichen Kniegelenk – hier in der Röntgenaufnahme – sitzt der Kopf des Oberschenkelknochens etwas schräg auf dem des Unterschenkels. Es ist eine Anpassung an die aufrechte Körperhaltung. Sie lässt auch an fossilen Knochen erkennen, ob ein Wesen einst auf zwei Beinen gelaufen ist

Ein Jahr später ist Donald Johanson auf seiner zweiten Expedition zurück in der Afar-Region und hat erneut unglaubliches Glück: Er findet ein in großen Teilen erhaltenes Skelett, das zu derselben Art gehört wie jenes Wesen, dessen Kniegelenk er zuvor entdeckt hatte. Johanson und seine Kollegen kommen auf die Idee, das Skelett „Lucy“ zu nennen – in Anlehnung an einen Beatles-Song, den sie an jenem Abend hören. Der Fund macht den 31-jährigen US-Forscher weltberühmt und zu einer Koryphäe seines Fachs. Erst mehrere Jahre später allerdings erhält die neue Art in einer wissenschaftlichen Publikation ihren offiziellen Namen: Australopithecus afarensis. Sie gehört in die Gruppe der Vormenschen; das sind Wesen, die bereits routiniert auf zwei Beinen laufen, deren Gehirne und geistigen Fähigkeiten jedoch noch recht bescheiden sind.

Das Ende der „Savannen-Hypothese“

Lucy und ihre Artgenossen werfen das bis dato vorherrschende Szenario der Menschwerdung über den Haufen. Das ist als sogenannte Savannen-Hypothese bekannt. Ihr zufolge sollen sich einst Menschenaffen aus dem Urwald heraus in die Savanne gewagt und sich dort auf zwei Beinen aufgerichtet haben, um besser über die hohen Gräser schauen zu können. Da ihre Hände nunmehr frei waren, hätten sie damit neue Dinge tun können, zum Beispiel Werkzeuge herstellen. Das wiederum soll die Hirnentwicklung gefördert und die Initialzündung zur Entwicklung der menschlichen Gattung – Homo – gegeben haben.

Das Foto wurde von einem bräunlichen Felsmassiv aus aufgenommen, vor dem links in der Tiefe eine Savannenlandschaft aus Gras und Bäumen liegt, durch die sich ein kleiner Fluss schlängelt. In einer solchen Landschaft lebten einst Vormenschen, die schon auf zwei Beinen liefen. Forscher glauben heute allerdings nicht, dass der aufrechte Gang sich in der offenen Landschaft entwickelt hat.
In einer Savannenlandschaft ähnlich wie dieser am Rand des Bandiagara-Felsmassivs in Mali lebten einst Vormenschen, die bereits aufrecht laufen konnten. Entstanden ist die zweibeinige Fortbewegung aber offenbar nicht in der offenen Landschaft
Dargestellt sind die rekonstruierten Umrisse von drei Skeletten, in die die fossilen Knochen von Vormenschen projiziert sind. In der Mitte wird der etwas kleinere Umriss von Lucy (Australopithecus afarensis) gezeigt, links und rechts daneben jeweils ein Exemplar der Art Australopithecus sediba aus Südafrika. Die breiten Becken, „X-Beine“ und nach vorne schauenden Schädel zeigen eindeutig, dass diese Wesen eine aufrechte Körperhaltung hatten.
Die anhand der Fossilfunde rekonstruierten Skelette von Lucy (Australopithecus afarensis, Mitte) und zweier Exemplare der südafrikanischen Art Australopithecus sediba zeigen eindeutige Anpassungen an den aufrechten Gang: Etwa breite Becken, „X-Beine“ und einen nach vorne schauenden Schädel
Die künstlerische Darstellung zeigt den Menschenaffen „Udo“ (Danuvius guggenmosi), wie er aufrecht auf einem Ast steht. Er konnte aber auch in den Bäumen klettern. Der in Bayern entdeckte Ur-Europäer lebte vor zwölf Millionen Jahren.
Künstlerische Darstellung von „Udo“ (Danuvius guggenmosi), einem aufrecht gehenden Menschenaffen, der vor zwölf Millionen Jahren lebte und in Bayern entdeckt wurde
Zu sehen sind eingedrückte Fußspuren auf einem braunen Untergrund. Es handelt sich um die 3,6 Millionen Jahre alten versteinerten Fußabdrücke von Vormenschen der Art Australopithecus afarensis – hier als Nachbildung des nationalen Museums für Natur und Wissenschaft in Tokio. Die in vulkanischer Asche hinterlassenen Spuren beweisen, dass die Vormenschen bereits auf zwei Beinen liefen.
Diese rund 3,6 Millionen Jahre alten, in vulkanischer Asche hinterlassenen Fußspuren – hier eine Nachbildung des nationalen Museums für Natur und Wissenschaft in Tokio – beweisen: Vormenschen der Art Australopithecus afarensis beherrschten den aufrechten Gang
Zu sehen ist eine wissenschaftliche Darstellung von Fußabdrücken, die den Druck der Fußsohlen links in Form von Konturen zeigt (geringer Druck ist blau, hoher Druck rot eingefärbt) und rechts die Fußsohle seitlich mit ihrer Eindringtiefe in den Boden. Oben ist der Abdruck eines heutigen Menschen, unten der eines Australopithecus aus Laetoli zu sehen. Fazit: Die Vormenschen belasteten vor allem Ferse und Zehen – ähnlich wie wir.
Konturen der Fußabdrücke eines heutigen Menschen (oben) und der versteinerten Fußspuren von Laetoli (blau = geringer Druck, rot = hoher Druck). Der Vergleich zeigt, dass bei Australopithecus vor allem Fersen und Zehen belastet wurden – ähnlich wie beim Homo sapiens
Auf dem Bild ist in gelblicher Farbe die Rekonstruktion eines Beckens von Australopithecus afarensis zu sehen. Die Breite und die ausladende Form des Darmbeins ähnelt stark denen beim Menschen – und belegt, dass die Vormenschen vor 3,2 Millionen Jahren aufrecht liefen.
Das Becken eines Australopithecus afarensis (Rekonstruktion) zeigt große Ähnlichkeiten mit dem eines Menschen und belegt die Anpassung an den aufrechten Gang
Auf dem Bild zu sehen ist eine Gruppe Bonobos in halb aufrechter Haltung, aufgenommen im Dschungel in der Republik Kongo. Ein Weibchen trägt ein Jungtier auf dem Rücken und hält Futter in der Hand. Möglicherweise, so eine These, entstand der aufrechte Gang einst, weil Menschenaffen so besser Kinder transportieren oder Nahrung für andere herbeischaffen konnten.
Eine These lautet, die aufrechte Körperhaltung habe sich vor Jahrmillionen entwickelt, weil Menschenaffen – hier Bonobos, aufgenommen in der Republik Kongo – so besser Nahrung für Gruppenmitglieder herbeischaffen oder ihre Kinder transportieren konnten
Das Foto zeigt ein Gorillaweibchen, das aufgerichtet in einem Tümpel steht und in der rechten Hand einen Stock hält, der nach unten ins Wasser reicht. Offenbar versucht das Weichen, mit dem Stock die Wassertiefe zu ermitteln. Die Aufnahme wurde im Nouabalé-Ndoki National Park in der Republik Kongo gemacht. Manche Forschende glauben, der aufrechte Gang sei einst entstanden, weil Menschenaffen in Gewässern nach Nahrung – etwa Schnecken oder Muscheln – gesucht haben.
Das durchs Wasser watende Gorillaweibchen im Nouabalé-Ndoki National Park in der Republik Kongo nutzt einen Stock, um die Wassertiefe zu messen. Manche Forschende vermuten, dass der aufrechte Gang einst entstand, weil Menschenaffen in Flüssen nach Nahrung suchten.

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Die Texte dieser Serie folgen im Abstand von je einigen Monaten: Bereits erschienen: „Die Wurzeln des Menschseins – wie das Erbe der Affen den Grundstein für die Entstehung des Homo sapiens legte“. Es folgen: „Das Zeitalter der Affenmenschen“, „Der erste Mensch und seine Welt“, „Die Eroberung des Planeten“, „Die Neandertaler und ihre Zeitgenossen“, „Der Siegeszug des Homo sapiens“ und „Was den Menschen so erfolgreich machte“.

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