„In der Kieferorthopädie läuft leider so ziemlich alles falsch“
Der Greifswalder Kieferorthopäde Alexander Spassov hat sich im Streit um eine bessere Versorgung mit seinem Berufsstand angelegt. Gegenüber RiffReporter spricht er über strukturelle Überversorgung, mangelndes Berufsethos und das Recht auf Nichtbehandlung
Für die Patientinnen und Patienten von Alexander Spassov, die seine Praxen in Wolgast oder Greifswald aufsuchen, sollte eigentlich alles gut laufen. Auf seiner Website verspricht der Kieferorthopäde ihnen kurze Behandlungszeiten, eine patientenorientierte Beratung und geringe Belastungen durch die Zahnregulierung.
Doch gut besucht sind seine Praxen zurzeit nicht. Der Grund: Spassov hat sich mit seinem Berufsstand angelegt und wird seither von Zahnärzten boykottiert. Seiner Ansicht nach gibt es eine strukturell, also politisch bedingte Überversorgung. Zu diesem Problem äußert sich der Kieferorthopäde in der Öffentlichkeit schon seit vielen Jahren.
Eine aktuelle Studie, an der Spassov zusammen mit dem Bremer Forscher Bernard Braun vom Institut für Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung Bremen im Auftrag der hkk Krankenkasse mitwirkte, unterstreicht die Sorge, in Deutschland würde zu viel und zu lange behandelt: Bei knapp 40 Prozent der rund 2600 hkk-versicherten Kindern und Jugendlichen dauerte die kieferorthopädische Behandlung mindestens viereinhalb Jahre – zu lange, so die Fachleute.
Was läuft falsch in der Kieferorthopädie hierzulande?
In der Kieferorthopädie läuft leider so ziemlich alles falsch, ähnlich wie in unserem gesamten Gesundheitssystem. Aus meiner Sicht sind die Hauptprobleme die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen, unter denen Kassen und Kieferorthopäden arbeiten müssen. Das führt vor allem zu einer ungerechten Versorgung.
Was meinen Sie damit?
Da sind zum Beispiel die nahezu perversen Fehlanreize in den komplizierten Vergütungsregelungen zu nennen oder der nutzlose Wettbewerb unter Krankenkassen. Zusätzlich zu steigenden Kassenbeiträgen für Versicherte werden von den Ärzten nutzlose Zuzahlungen gefordert und die Kassenleistung schlecht geredet. Die privaten Zuzahlungen höhlen das Sozialsystem quasi aus.
Wo liegen die Probleme in ihrem Fachgebiet?
Es fehlt an Diagnostik und Behandlungsstandards. Selbst Zahnärzte ohne Facharztausbildung dürfen kieferorthopädisch behandeln, weil die berufsständischen Organe hier nicht eingreifen! Auf der anderen Seite werden wir niedergelassenen Ärzte mit nutzloser Bürokratie überfrachtet.
Da die Zuweisung von Patienten zum Kieferorthopäden nicht reguliert ist, tobt ein Kampf um Patienten, der laut Berufsordnung gar nicht erlaubt ist. Zum Beispiel werden Seminare zur Gewinnung von Patienten angeboten, oder Zahnärzte und Kieferorthopäden bilden dubiöse Netzwerke, um Patienten zu akquirieren. Und nicht zuletzt wird den Menschen mittels Werbung eingeredet, ihre verschiedenen Zahnstellungen seien anormal. Das grenzt an Stigmatisierung und Diskriminierung.
Das alles führt zu allgemeinem Misstrauen gegen uns. Behandlungen werden ausgeweitet, mehr Menschen bekommen mehr Maßnahmen, ohne dass dabei der Nutzen stets den Schaden deutlich übersteigt. Die Kosten steigen. Nutzlose Maßnahmen sind Verschwendung, das Geld fehlt an anderer Stelle im Gesundheitssystem. Das ist ungerecht.
Wer ist für diese Situation verantwortlich?
Es wäre unfair, die Zahnärzte oder Kieferorthopäden für diesen Zustand allein verantwortlich zu machen. Es sind vor allem die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger im Gemeinsamen Bundesausschuss sowie privat organisierte Standesvertretungen, die hier die Verantwortung tragen. Es gibt also eine Überversorgung, die politisch bedingt ist und nur politisch zu lösen ist.
Der Hallenser Professor Robert Fuhrmann sagte: „Kieferorthopäden sind Unternehmer. Ein Unternehmer geht dahin, wo Gewinne zu erwarten sind.“ Was hat Sie an dieser Aussage (RiffReporter HIER) so geschockt?
Die Aussage ist unglaublich und empörend. Wenn das zuträfe, müssten Zahnärzte umgehend alle Privilegien verlieren, nämlich die Freiberuflichkeit, steuerliche Vergünstigungen und vor allem das Monopol, allein zahnärztlich tätig sein zu dürfen.
Laut Zahnheilkundegesetz sind wir kein Gewerbe, und laut Berufsordnung sind wir Freiberufler mit besonderen ethischen Pflichten. Wir sind also alles, nur keine Unternehmer! Und wir sollten uns auch nicht wie Unternehmer verhalten. Wir dürfen nicht einerseits Privilegien genießen und andererseits unser Versprechen nicht einhalten, dort zu sein, wo uns die Patienten am meisten benötigen. Wir müssen daher auch Teile unserer Freiheiten aufgeben und zum Beispiel die Niederlassungsbeschränkung wiedereinführen.
Sich wie Unternehmer zu verhalten, ist unfair gegenüber der Bevölkerung und Versichertengemeinschaft. Diese zahlt hohe monatliche Beiträge, findet aber in einigen Gegenden keinen Kieferorthopäden vor, weil diese sich anderenorts niederlassen, wo sie höhere Gewinne erwarten.
Leider drängen die aktuellen politischen Rahmenbedingungen den Kieferorthopäden geradezu, als Unternehmer zu handeln. Hohe ethische Standards, die Einrichtung so genannter ethischer Komitees und auch eine Strukturreform des Gesundheitswesens können Abhilfe schaffen.
Warum boykottieren Zahnärzte Sie persönlich?
Jeder Kieferorthopäde ist existentiell auf Überweisungen durch den Zahnarzt angewiesen. Der Zahnarzt ist so etwas wie der Arbeitgeber des Kieferorthopäden, das zeigen sowohl unsere Befragungen mit der Handelskrankenkasse (hkk) als auch frühere Studien, zum Beispiel die Arbeit von Wolfgang Micheelis vom Institut der Deutschen Zahnärzte in Köln.
Dadurch sind bei uns in Vorpommern-Greifswald Netzwerke zur Zuweisung von Patienten entstanden, die dazu führen, dass Kieferorthopäden ohne Netzwerke nahezu keine Überweisungen erhalten. Ich sehe viele Überweisungen, auf denen der Name des Kieferorthopäden fein säuberlich aufgeschrieben wurde, obwohl Vertragszahnärzte die Wahl des Fachzahnarztes nicht beeinflussen dürfen.
Die Patienten haben ein nahezu blindes Vertrauen in den Zahnarzt: Sie gehen inder Regel nur zu den Kieferorthopäden, die der Zahnarzt „empfiehlt“. Die Zahl der Zahnärzte nimmt bei uns ab. Die Patienten sind quasi von ihnen abhängig. Das trägt ungut zur Gesamtsituation bei.
Es kommt so zu der paradoxen Situation, dass es in meiner Praxis keine Wartezeiten gibt, während meine Kollegen in Greifswald und Umgebung – dazu zählen auch Zahnärzte ohne Facharztausbildung – Wartezeiten bis zu einem Jahr haben. Gleichzeitig expandieren ihre Praxen ständig. Es gibt also quasi eine gleichzeitige Über- und Unterversorgung.
Was schlagen Sie vor?
Die politischen Rahmenbedingungen müssen dringend verbessert werden, damit es keinen Kampf, keinen Wettbewerb um Patienten gibt. Der Patient muss im Mittelpunkt stehen, nicht das Interesse des Zahnarztes oder des Kieferorthopäden, finanziell zu überleben oder Gewinne auf Kosten der Solidargemeinschaft zu erzielen.
Die Kollegen haben zum Teil hohe Kredite aufgenommen und brauchen die Patienten zum Überleben. Da kann sehr schnell das eigene, legitime Interesse das Patienteninteresse übertrumpfen. Wir brauchen also gerechtere Vergütungsstrukturen. Dazu zählen Festgehälter nach Tarif oder Pauschalbeträge oder Vorhaltepauschalen für niedergelassene Praxen, damit der Existenzdruck genommen wird. Die Finanzierung der Praxen könnten zum Beispiel der Staat oder andere Institutionen übernehmen.
Was regen Sie noch an?
Im Zahnmedizinstudium benötigen wir dringend Ethikunterricht, damit das Gerechtigkeitsempfinden im Berufsstand wieder geweckt wird. Weitere Maßnahmen wären evidenzbasierte Standards zur Diagnostik und Behandlung, welchegesetzlich seit Jahren vorgesehen sind, aber nie eingelöst wurden.
Die Lösung sehe ich also in einer Reform der Selbstverwaltung insbesondere des Gemeinsamen Bundesausschusses. Dort sollte die gegenwärtige kieferorthopädische Versorgung re-evaluiert werden. So wäre eine gerechtere kieferorthopädische Grundversorgung möglich, und eine saubere Trennung zwischen nutzloser und nutzvoller Kieferorthopädie.