Fischerei-Studie zu Klimarisiken: Marine Ökosysteme stehen vor dem Kollaps
Der Klimawandel gefährdet viele Meerestiere, die in den oberen 100 Metern der Meere leben. Eine internationale Fischerei-Studie warnt davor, dass die meisten marinen Ökosysteme auch bei einer 2-Grad-Erwärmung vor dem Zusammenbruch stehen. Für die Ernährungssicherheit im globalen Süden ist das eine Katastrophe.
Der Klimawandel bedroht marine Ökosysteme massiv, stellt die Studie „A climate risk index for marine life“ fest, die heute im Fachjournal Nature Climate Change erscheint. Deutlicher als bisherige Auswertungen schlüsselt ein multidisziplinäres Forschungsteam um Daniel G. Boyce von der kanadischen Meeresbehörde Fisheries and Oceans Canadaauf, wie riskant die Erderwärmung für bestimmte Meerestiere in bestimmten Regionen ist. Neben dem UNEP Weltüberwachungszentrum für Naturschutz ist auch das Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel an der Studie beteiligt.
Ein im Rahmen der Studie erstmals entwickelter Klimarisiko-Index misst, wie empfindlich Meerestiere in verschiedenen Regionen auf die globale Erwärmung reagieren. Für knapp 25.000 marine Arten – die meisten davon Tiere – bestimmten die Wissenschaftler deren spezifisches Klimarisiko. Dabei definieren sie das Risiko nach drei Kategorien: Wie stark ist eine Tierart Veränderungen durch den Klimawandel ausgesetzt? Wie sensibel reagiert sie auf diese Veränderungen? Und wie gut ist die Art darin, sich anzupassen?
Bei bis zu 2 Grad Erwärmung ist über die Hälfte der Meerestierarten gefährdet
Im Ergebnis sind bei einer Erderwärmung von bis zu zwei Grad über die Hälfte, nämlich 55 Prozent der betrachteten Arten im Jahr 2100 in etwa der Hälfte ihres Verbreitungsgebiets stark gefährdet.
Werden keine einschneidenden Klimaschutzmaßnahmen ergriffen und steigen die Emissionen wie bisher an, wird sich die Erde um vier bis sechs Grad bis 2100 erwärmen. In diesem Fall sind 87 Prozent der untersuchten marinen Arten stark vom Klimawandel gefährdet – und das auf 85 Prozent des Gebiets, in dem sie vorkommen. Auf weiteren neun Prozent der Meeresfläche sind noch über die Hälfte der Arten gefährdet.
Tropische Küstenregionen mit hoher Biodiversität wie die Karibik oder Indonesien gehören zu den am stärksten bedrohten Gegenden. Dort leben viele der Arten bereits an der Obergrenze ihrer Wärmetoleranz, die Bestände gelten als stark überfischt. Ebenfalls besonders stark gefährdet sind Arten in Küstenregionen, die durch Fischerei und Verschmutzung belastet sind. Damit trifft der Klimawandel besonders Menschen in ärmeren Ländern, die stark von Fischerei abhängig sind.
Am stärksten betreffen die wärmeren Temperaturen große Meerestiere wie Haie, Delphine und Wale. Arten, die höher in der Nahrungskette stehen, sind demnach stärker vom Klimawandel bedroht.
Die Wissenschaftler:innen nahmen für die Untersuchung die Erderwärmung entsprechend des optimistischsten und pessimistischsten Emissionsszenarios des Weltklimarats IPCC in den Blick. Damit schildern sie die minimal und maximal zu erwartenden Folgen. „Die Tatsache, dass auch beim optimistischsten Szenario immer noch über die Hälfte aller Arten am Ende des Jahrhunderts in ihrem gesamten jetzigen Verbreitungsgebiet stark bedroht sind, ist dramatisch, “ sagt Sebastian Ferse vom Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung(ZMT) in Bremen.
Tropische Arten können in kühlere Gewässer ausweichen
Weitere Faktoren wie den pH-Wert oder Sauerstoffgehalt des Wassers klammert die Studie aus. Da Änderungen im Sauerstoffgehalt und pH-Wert im Zuge des Klimawandels zu weiteren Risiken führen, gilt der jetzt vorgestellte Risikoindex eher als konservativ – das heißt, die Folgen der Erderwärmung könnten in der Realität noch schlimmer ausfallen.
Andererseits könnte das Risiko für einzelne Arten geringer sein als in der Studie berechnet, glaubt Sebastian Ferse. Denn im Zuge des Klimawandels würden sich Verbreitungsgebiete der Arten auch verschieben. Vor allem in den Tropen könnten einzelne Arten möglicherweise noch in kühlere Gewässer ausweichen. Das Klimarisiko sei hier nicht mit dem Aussterberisiko gleichzusetzen, betont Ferse. Arten in den Polargebieten hingegen hätten keine Ausweichmöglichkeit mehr, wenn es wärmer wird.
Studie für Fischerei relevant
Die Studie liefert damit für eine große Menge an Arten „eine erste einheitliche und relativ hoch aufgelöste Abschätzung des Risikos für den Weltozean“, sagt Christian Möllmann vom Institut für marine Ökosystem- und Fischereiwissenschaften der Universität Hamburg. Dabei stelle sie die räumlichen Unterschiede im Risiko zwischen Arten und Ökosystemen zuverlässig dar.
Angelika Brandt vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum macht jedoch darauf aufmerksam, dass sich die Studie nur auf die oberen 100 Meter des Meeres beziehe. Dabei gehe es vor allem um Arten, die für die Fischerei interessant seien. Der größte Teil des Ozeans werde mit der Studie damit nicht erfasst. Gleichwohl sei die Studie für Entscheidungsträger wichtig, da es darum gehe, ob Menschen genügend zu Essen haben.
Risiko-Index soll die Einrichtung mariner Schutzgebiete unterstützen
Die Ergebnisse der Studie, so wünschen sich die Forschenden, soll die Einrichtung mariner Schutzgebiete unterstützen. Das Ziel, 30 Prozent der Meeresfläche unter Schutz zu stellen, könnte im Dezember 2022 der Weltbiodiversitätsrat in die post-2020 Biodiversitätsziele aufnehmen. Dafür werden die Fragen, wo diese Gebiete eingerichtet und wie sie gemanagt werden sollen, besonders relevant.
„Während einige Arten innerhalb ihrer Verbreitung gleichmäßig stark oder schwach bedroht sind, können andere starke räumliche Unterschiede aufweisen“, sagt Sebastian Ferse. Das zu wissen sei „wertvoll für marine Raumplanung und Schutzbemühungen“.
Ökosystem-Experte Christian Möllmann betont, dass ein „rigoroser Schutz von Arten und Ökosystemen“ vor menschlichen Eingriffen wie der Fischerei und dem Tourismus diese gegenüber den Folgen des Klimawandels „deutlich“ widerstandsfähiger mache. Die Schutzgebiete seien dort am sinnvollsten, wo wie an den Küsten verschiedene Risiken sich überlappten. Weitere genauere Studien zu lokalen Eigenarten seien jedoch wichtig, um die Schutzgebiete zuverlässig planen zu können.