Migranten der Vorzeit: Als Urmenschen erstmals ihre afrikanische Heimat verließen

Gerade erst hatten sich die Menschen – die Gattung Homo – entwickelt, da wurden sie schon zu Weltenbummlern und zogen bis nach Java. Doch was trieb sie an?

13 Minuten
Im Vordergrund ist ein abfallender Berg mit Büschen und grünen Bäumen zu sehen, nach unter öffnet sich der Blick auf ein weites Tal, durch das sich ein Fluss schlängelt, dahinter erhebt sich ein kleiner Vulkan, im Hintergrund weitere Berge, dahinter in der Ferne ein weiterer mächtiger Vulkan. Das alles ist in grün-bräunlichen Farben gehalten, darüber ein grauer Himmel.

Ende des 19. Jahrhunderts findet der niederländische Mediziner Eugène Dubois auf der Insel Java einen seltsamen, primitiv wirkenden Schädel. Dubois glaubt, ein Bindeglied zwischen Affe und Mensch vor sich zu sehen. Wie alt dieser Fund ist, ahnt der Niederländer nicht. Erst recht nicht, dass der Schädel einem bereits weit entwickelten Vertreter der menschlichen Linie gehörte – und einem der ersten urzeitlichen Auswanderer, die Afrika verlassen haben. Die faszinierende Entdeckungsgeschichte des Javamenschen und anderer früher Migranten, die sich aufmachten, um die Erde zu erobern.

Eugène Dubois wird 1858 in Eijsden in den Niederlanden geboren, studiert zunächst Medizin und erhält 1886 eine Stelle als Anatomie-Dozent an der Amsterdamer Universität. Doch schon als Kind hat er sich für die menschliche Urgeschichte, für die Fossilien des Neandertalers begeistert. Und er ist fasziniert, als er von den Überlegungen des deutschen Zoologen Ernst Haeckel erfährt. Der vermutet nämlich, dass es zwischen den Menschenaffen und dem Menschen ein Bindeglied geben müsse. Weil der Zoologe den Gibbon als den menschenähnlichsten Affen ansieht, glaubt er, die Überreste dieses Bindegliedes müssten am ehesten im Verbreitungsgebiet der Gibbons auf den indonesischen Inseln zu finden sein. Zudem lebt auf einer von ihnen, auf Sumatra, ein weiterer Menschenaffe: der Orang-Utan. Dubois ist elektrisiert von Haeckels Gedanken und lässt sich im Jahr 1887 als Militärarzt nach Sumatra versetzen. Dort will er nach den Fossilien eines „Affenmenschen“ suchen – obwohl er keinerlei Fachkenntnisse der Anthropologie oder Paläontologie hat.

Sträflinge helfen bei der Suche und lassen so manches verschwinden

Der Militärdienst lässt Dubois genügend Zeit, um zwei Jahre lang in etlichen Höhlen auf Sumatra herumzukriechen und nach fossilen Knochen zu fahnden (ihm ist bekannt, dass Relikte in Höhlen häufig erhalten bleiben). Seinen Affenmenschen findet er dabei nicht, und das ist auch nicht verwunderlich, geht der Mann doch recht naiv und ohne fundierte geologische wie paläoanthropologische Kenntnisse an die Erkundung – in einer Gegend, in der noch nie ein menschliches Fossil aufgetaucht war. Nachdem Dubois an Malaria erkrankt war, lässt er sich 1890 nach Java in die Reserve versetzen. Auf dieser Insel, so hat er erfahren, gibt es fossilienführende Schichten an einer Biegung des Flusses Solo, nicht weit von dem Dorf Trinil entfernt. Dort setzt der Anatom seine Suche fort, wobei er Unterstützung durch die niederländische Regierung erhält, die ihm zum Graben Sträflinge aus einem örtlichen Gefängnis zur Verfügung stellt. Die Gefangenen allerdings lassen anfangs die meisten gefundenen Fossilien verschwinden und verkaufen sie als „Drachenknochen“ an chinesische Händler. Nachdem der Aufseher dies unterbunden hat, gelangt einiges interessantes Fossilienmaterial in Dubois Hände, darunter die Knochen unbekannter, ausgestorbener Säugetiere.

Links das historische, schwarzweiße Porträtfoto eines Mannes mit Schnauzbart und Anzugjacke, der energisch in die Kamera schaut. Rechts ist ein Schädeldach von oben und der Seite zu sehen, daneben ein Oberschenkelknochen von zwei verschiedenen Seiten, unten ein Backenzahn von der Seite und von oben. Das Bild ist bräunlich und wirkt sehr alt.
Als Eugène Dubois 1891 die Knochen seines Java-Menschen – hier ein Bild der Original-Fossilien – in den Ufersedimenten des Solo-Flusses fand, war viel Glück im Spiel

Der große Fund aber – und das ist ein ungeheurer Glücksfall – kommt im Oktober 1891. Dubois entdeckt in den Sedimenten des Flussufers erst einen ungewöhnlich großen fossilen Backenzahn, dann einen Meter davon entfernt die Schädeldecke eines menschenähnlichen Wesens. Sie ist zu dick und die Stirn zu flach für einen modernen Menschen, aber andererseits zu groß und rund für einen Orang-Utan. Auffällig sind auch der dicke Überaugenwulst und die Einschnürung im Schädel dahinter. Im Jahr darauf spürt der Niederländer in etwa 15 Meter Entfernung von seinem ersten Fund einen fossilen Oberschenkelknochen auf, der dem eines heutigen Menschen erstaunlich gleicht. Dubois ist überzeugt davon, dass Oberschenkel wie Schädel einst demselben Individuum gehört hatten – einem aufrecht gehenden Bindeglied zwischen Affe und Mensch. Der Javamensch – von seinem Entdecker im Jahr 1894 fachlich Pithecanthropus erectus (der aufrechte Affenmensch) genannt – hat die Bühne der Wissenschaft betreten.

Dubois versteckt die Fossilien unter den Dielen seines Hauses

Dass er einen der ersten Migranten der Urgeschichte ausgegraben hat, kann Dubois damals nicht ahnen. Und wie so häufig, gibt es zunächst jahrelangen Streit um die Bedeutung des Fundes. Während der Niederländer dabei bleibt, ein Bindeglied zwischen Affen und Menschen gefunden zu haben, behaupten andere Forscher, er habe einen Affenschädel und einen modernen menschlichen Oberschenkelknochen zusammengewürfelt, und Dritte wiederum entdecken Ähnlichkeiten zum Neandertaler. Dubois selbst, der 1895 nach Europa zurückkehrt, ist über diese Zwiste so verbittert, dass er 1900 jede Diskussion über seinen Affenmenschen abbricht, die Fossilien unter den Dielenbrettern seines Hauses versteckt und sie über Jahrzehnte der Wissenschaft vorenthält. Erst 1923 erlaubt der Niederländer eine nochmalige Untersuchung seiner Funde.

Das Foto zeigt vor schwarzem Hintergrund den oberen Teil eines fossilen menschlichen Schädels in bräunlichen Farbtönen. Auch wenn er nur teilweise erhalten ist, lässt sich links am Schädel der starke Überaugenwulst gut zu erkennen.
In den 1930er Jahren suchte der Paläoanthropologe und Geologe Gustav Heinrich Ralph von Koenigswald auf Java nach menschlichen Fossilien und fand unter anderem in Sangiran dieses gut erhaltene Schädeldach eines Javamenschen (Homo erectus). Es befindet sich heute im Naturkundemuseum Senckenberg

Andere Forschende setzen die Suche nach menschlichen Relikten auf Java fort, wobei sich In den 1930er Jahren besonders der deutsch-niederländische Paläoanthropologe Gustav Heinrich Ralph von Königswald hervortut. Ihm allein sind die Bruchstücke dreier Schädel, fünf Unterkieferteile sowie mehr als hundert Zähne zu verdanken. In den folgenden Jahrzehnten werden Dubois’ Javamensch und diese neuen Fossilien der Art Homo erectus zugeordnet.

Eine neue Datierungsmethode liefert ein verblüffendes Ergebnis

Woher kam die Wanderlust des Homo erectus?

Das Bild zeigt den Blick auf einen Fluss, dessen Wasser eine trübe, grünbraune Farbe aufweist. An den Ufern schmale braune Sandstreifen, auf der rechten Seite schließen sich dem Streifen grüne Büsche und Bäume an. Links im Hintergrund eine Stahlbrücke, die über den Fluss führt.
Der Fluss Solo auf Java – hier in Surakarta – macht nicht gerade einen romantischen Eindruck. Wenig romantisch dürfte es auch zugegangen sein als Eugène Dubois Ende des 19. Jahrhunderts mithilfe von Sträflingen an einer Biegung des Flusses nahe des Dorfes Trinil nach Fossilien suchte – und den Javamenschen entdeckte

Das Geheimnis der Ruinenstadt Dmanisi

Das Foto zeigt Computer-Rekonstruktionen der fünf in der georgischen Stadt Dmanisi ausgegrabenen, rund 1,8 Millionen Jahre alten Schädel. Sie wurden in dieser Collage vor ein Foto der georgischen Landschaft gestellt. Die fünf Schädel wirken verblüffend verschieden, so als wenn es sich um Relikte unterschiedlicher Arten handeln würde. Doch die Forscher glauben inzwischen, dass die Vielfalt der Schädelformen viel größer war, als sie bis dahin angenommen hatten - und dass alle dort entdeckten Individuen zu einer Art gehörten.
Derart unterschiedlich wirken die fünf in Dmanisi ausgegrabenen Schädel – hier Computer-Rekonstruktionen vor georgischer Landschaft -, dass sie unterschiedlichen Arten anzugehören scheinen. Doch offenbar repräsentieren sie nur eine große Vielfalt

Der Javamensch bekommt Gesellschaft

Im Zweiten Weltkrieg gehen die unersetzlichen Fossilien verloren

Zu sehen sind schwarzweiße Bilder dreier Schädel – oben jeweils von der Seite, darunter von vorne. Der Gorillaschädel (links) hat einen mächtigen Unterkiefer, dicke Wülste über den Augen und eine kleine Schädelkapsel, der heutige Mensch (rechts) zeigt einen riesigen Hirnschädel, ihm fehlen Wülste über den Augen und er hat einen kleinen Kiefer mit Kinn. Der Urmenschen-Schädel (Mitte) ähnelt deutlich mehr dem heutigen Menschen als dem Gorilla.
Wie sich die Schädel von Gorilla (links), Homo erectus (Mitte) und heutigen Menschen (rechts) unterscheiden, hat der deutschstämmige Anthropologe Franz Weidenreich in einer Publikation von 1943 dargestellt. Auffällig beim Pekingmenschen sind die dicken Überaugenwülste und das fehlende Kinn

Homo erectus war ein geschickter Jäger und Feuermacher

Das Bild zeigt den hoch gewölbten Eingang einer Höhle aus hellgrauem Gestein. Im Eingangsbereich, auf braunem, ebenem Boden, ist eine Gruppe von Forschenden zu erkennen, die an Arbeitstischen sitzen und im Vergleich zum Höhleneingang winzig wirken. Im Vordergrund sind Büsche, kleine Bäumchen und die schmalen Stämme größerer Bäume zu sehen.
Rätselhafte menschliche Fossilien gruben Forschende in der Callao-Höhle auf der philippinische Hauptinsel Luzon aus. Es sind die Relikte von Homo luzonensis, einem kleinwüchsigen Urmenschen, der wohl gut klettern konnte

Überraschender Fund: Der Zwerg von Flores

Gezeigt wird das Foto eines menschlichen Unterkiefers vor hellgrauem Hintergrund. Das Fossil ist teils elfenbeinfarben, teils schwärzlich-grau. Zähne und Knochen wirken mächtiger als bei heutigen Menschen. Und ein Kinn fehlt.
Dieser 500.000 bis 600.000 Jahre alte Unterkiefer wurde in Mauer bei Heidelberg gefunden und gab der Art Homo heidelbergensis ihren Namen. Sie bewohnte damals Teile Europas, konnte sich dort aber nicht auf Dauer halten und verschwand in kälteren Perioden wieder

Weshalb Europa erst spät vom Menschen besiedelt wird

– – –

Dies ist der fünfte Text einer achtteiligen Serie zur Geschichte des Menschen. Bereits erschienen: „Die Wurzeln des Menschen“, „Die Erfindung des aufrechten Gangs“, „Das Zeitalter der Affenmenschen“ und „Die ersten Menschen und ihre Welt“. Es folgen: „Die Neandertaler und ihre Zeitgenossen“, „Der Siegeszug des Homo sapiens“ und „Was den Menschen so erfolgreich machte“. Die Beiträge folgen im Abstand von je einigen Monaten.

Dieser aufwendig produzierte Wissenschaftsreport ist kostenpflichtig – ich bitte um Verständnis. Mit dem Kauf des Textes unterstützen Sie das gesamte Projekt, dessen Beiträge überwiegend frei zugänglich sind.