„In der Wissenschaft sollte nichts in Stein gemeißelt sein“
Der große Stressforscher Dirk Hellhammer ist tot.
Die Medien des Boulevard hätten ihn bestimmt den Stress-Papst genannt. In ihrer Logik wäre das auch völlig korrekt gewesen: Immerhin war Dirk Hellhammer einer der bedeutendsten Stressforscher unserer Zeit. Doch der Psychobiologe folgte einer ganz anderen Logik. Zum einen hatte Hellhammer mit dem Boulevard nun wirklich nichts am Hut. Seine Vorträge und Monologe waren so fundiert wie trocken. Zum anderen war päpstliche Unfehlbarkeit so ziemlich das Letzte, was dieser Mensch für sich beanspruchte.
Der emeritierte Professor der Universität Trier, ab 1986 Inhaber des Lehrstuhls für theoretische und klinische Psychobiologie, war Doktorvater und Förderer von zahlreichen bekannten und längst selbst in der Verantwortung stehenden Forscher*innen der heutigen Generation. Wegbegleiter betonen immer wieder, wie kollegial, hilfsbereit und uneitel Hellhammer war. Auch als Wissenschaftler konzentrierte er sich folgerichtig auf das innerste Wesen der Menschen, auf ihre Biografien, ihre Psyche und ihre Biologie. Plakative und reißerische Allgemeinplätze – journalistische Abziehbilder – waren ihm zuwider.
Dirk Hellhammer war zugewandt, offen und neugierig. Die Menschen als Individuen und das Menschliche als ihre Gemeinsamkeit waren ihm so wichtig, dass er wissenschaftlich ergründen wollte, was unsere Persönlichkeit ausmacht. Er wurde Psychoneuroendokrinologe, erforschte also die Wirkung der Botenstoffe im Gehirn auf unsere Psyche und Gesundheit und leitete von 2002 bis 2005 als Präsident die zugehörige internationale Fachorganisation. Vor allem aber widmete er sich im Rahmen dieser Disziplin schon sehr viel früher als die meisten Kolleg*innen einem Thema, das heute allgegenwärtig ist: dem Stress.
Weil es dem in den Nachkriegsjahren geborenen Hannoveraner dabei aber immer wieder um konkreten Nutzen ging, war sein Lebensthema, die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm der Universitäts-Labore möglichst schnell dorthin zu bringen, wo sie den Menschen nutzen: an die Krankenbetten, in die Praxen der Kliniker, auf die Sofas der Therapeuten. Aus diesem Antrieb heraus schenkte er der Wissenschaft und der Klinik eine Menge wichtiger Werkzeuge. Mit Kolleg*innen entwickelte er in den 1980er Jahren den ersten Speicheltest für Stresshormone, 1993 folgte der so genannte Trierer Stresstest, 1999 das Analyse-Instrument Neuropattern und zuletzt erarbeitete er die Idee der konzeptuellen Endophänotypen. (Zu all dem mehr im unten verlinkten Erbe&Umwelt-Interview.)
Seine Innovationsfreude war naturgegeben, denn er war stets selbstkritisch und hinterfragte sogar Dogmen. „In der Wissenschaft sollte nichts in Stein gemeißelt sein“, sagte er einst. Und er bedauerte, dass für die oft mühsame Suche nach ungewöhnlichen Ansätzen im modernen Wissenschaftsbetrieb nur selten Zeit bleibt. Noch im April kritisierte er: „Heute läuft man leider mit neuen Ideen oft gegen eine Wand von Wissenschaftlern, die völlig verlernt haben, die Methoden primär dafür einzusetzen, ihre Konzepte und Hypothesen zu überprüfen. Stattdessen produzieren sie mit teils gigantischen Studien oft irgendwelche Korrelationen, die dann an die große Glocke gehängt werden. Man sperrt sich damit gegen so viele Möglichkeiten, aus Einzelfällen einen echten Erkenntnisgewinn zu erzielen.“
Ganz Wissenschaftler unterstrich Hellhammer natürlich sofort, dass dieser Ansatz nichts mit Esoterik zu tun habe: Einzelfälle könnten immer nur Anregungen liefern. Doch diese seien extrem wichtig. Man müsse sich auf sie einlassen, aus ihnen neue Konzepte entwickeln und diese dann äußerst kritisch mit Hilfe der evidenzbasierten Medizin akribisch überprüfen.
Ich selbst kannte Dirk Hellhammer vor allem aus langen Telefonaten. Er nahm sich immer sehr viel Zeit für den Journalisten, der jenseits der schnellen Schlagzeile mehr erfahren wollte über neue Trends der Psychobiologie. Zuletzt traf ich ihn bei einer Round-Table Diskussion mit internationalen Spitzenforschern in Trier. Auch da ging es um das Problem, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse sich so schwer tun, bei den Patient*innen anzukommen. Ich sollte den Wissenschaftlern am runden Tisch meine Sicht der Dinge schildern, ihnen sozusagen von der anderen Seite der Wissenschaftsvermittlung erklären, wie sie ihre Erkenntnisse näher und vor allem schneller an die Menschen bringen könnten.
Dirk Hellhammer gehörte zu den wenigen Wissenschaftlern, die durchgängig verstanden haben, wie wichtig es ist, Journalisten korrekt und umfangreich zu informieren und mit ihnen auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Allerdings legte er sehr großen Wert darauf, dass man beim Erklären nicht zu sehr vereinfacht. Auch deshalb hätte er nie der „Stress-Papst“ sein wollen.
Der international anerkannte und vielfach ausgezeichnete Psychobiologe Dirk Hellhammer starb am 1. Dezember 2018 im Alter von 71 Jahren in seiner Heimatstadt Trier – ein großer Verlust, nicht nur für die Forschung, sondern gerade auch für die Patienten.
Noch im April gab mir Dirk Hellhammer ein ausführliches Interview. Rückblickend liest es sich fast wie ein Vermächtnis. Er war jedenfalls schon damals sehr krank, das Interview hat ihn viel Kraft gekostet. Aber er wollte es unbedingt zu Ende bringen und feilte akribisch an seinen Aussagen. Erfahren Sie dort mehr über den Forscher, seine Ideen und seine Leistungen: