Das neue Bild vom Neandertaler: Fürsorglich, technisch versiert, Künstler und Feinschmecker

Lange wurden die Neandertaler unterschätzt, doch immer mehr neue Forschungsergebnisse zeigen: Die Ur-Europäer waren dem Homo sapiens durchaus ebenbürtig, kümmerten sich um Kranke, erfanden einen Zweikomponenten-Klebstoff und schufen die ersten Kunstwerke des Kontinents.

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Das Porträt einer Frau Mitte 40 mit langen schwarzen Haaren, großer Nase und mächtigem Unterkiefer sowie dicken Wülsten über den Augen, die mit optimistischem Gesichtsausdruck nach vorne schaut.

Der Schatz schlummerte seit Jahrzehnten in einer Kiste mit archäologischen Relikten und stammte von einer Grabung in der Cova-Negra-Höhle unweit von Valencia, Spanien. In der Höhle waren zahlreiche Knochen von Neandertalern gefunden worden, die auf ein Alter von 273.000 bis 146.000 Jahren datiert wurden. Als nun die Forscherin Mercedes Conde-Valverde und ihr Team von den Universitäten Alcalá und Valencia die Funde neu sichteten, fiel ihnen der Schläfenbeinknochen eines etwa sechsjährigen Kindes mit dem darin enthaltenen Innenohr auf. Denn das Innenohr war ungewöhnlich klein und zeigte weitere anatomische Auffälligkeiten.

Und diese Veränderungen kamen den Forschenden bekannt vor: Sie hatten sie bei heutigen Menschen mit Down-Syndrom gesehen. Die Schlussfolgerung: Auch das Neandertalerkind müsse das Down-Syndrom (auch als Trisomie 21 bekannt) gehabt haben. Es habe höchstwahrscheinlich schlecht hören können, sei womöglich sogar taub gewesen, und habe wohl unter Gleichgewichtsproblemen und Schwindel gelitten, heißt es in der Veröffentlichung in der Wissenschaftszeitschrift Science Advances vom 26. Juni 2024. Ein solches Kind aber könne nur dank der Fürsorge und Hilfe der anderen Gruppenmitglieder bis zu einem Alter von sechs Jahren überlebt haben.

Selbst ein lahmer, einarmiger Mann erreichte ein hohes Alter

Demnach waren Neandertaler also keine rücksichtslosen, egoistischen Urmenschen, bei denen nur die Gesunden, Starken am Leben blieben, sondern sie waren mitfühlende Wesen mit hoch ausgeprägtem Sozialverhalten, die Schwächere unterstützt haben. Und in dieses Bild passen andere Funde, etwa aus dem Nahen Osten.

Zwei Figuren in einem Museum: Ein älterer Neandertaler-Mann hockt, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, und hält in seinen Händen ein flaches Steinwerkzeug mit scharfem Rand. Ein Neandertaler-Kind schaut ihm dabei aufmerksam zu.
Neandertaler besaßen ausgeprägte soziale Fähigkeiten. Sie brachten nicht nur ihrem Nachwuchs etwas bei, sondern kümmerten sich auch um Kranke und Hilfsbedürftige – zum Beispiel um ein Kind mit Down-Syndrom, wie eine neue Studie belegt

Im Norden des Irak findet sich die Shanidar-Höhle, in der in den 1950er Jahren insgesamt zehn Neandertaler-Skelette gefunden wurden. Darunter das eines Mannes, der halb taub, halb blind sowie lahm gewesen sein muss, an Arthritis litt und nur noch einen Arm besaß – und der trotz der Gebrechen ein hohes Alter erreichte. Das wäre ohne die Fürsorge seine Mitmenschen nicht möglich gewesen.

Berühmt ist die Fundstätte auch, weil es dort Hinweise auf eine Bestattung der Toten gibt. Allerdings bezweifeln viele Forschende, dass es sich wirklich um echte Begräbnisse handelt. So hieß es zunächst, eines der Skelette sei mit Blumen bestattet worden, deren Überreste sich anhand von Blütenpollen nachweisen ließen. Doch dann stellte sich heraus: Die Blütenpollen waren erst später dorthin gekommen – wahrscheinlich über die Kleidung der Ausgräber.

Links ein fossiler Schädel mit Oberkiefer in bräunlichen Farbtönen. Viele Risse sind zu sehen, einige Partien an der Kopfseite und neben der Nase fehlen. Rechts daneben der zugehörige, ebenfalls aus vielen Bruchstücken zusammengesetzte Unterkiefer.
Aus hunderten von Bruchstücken setzten Forschende der University of Cambridge Schädel und Unterkiefer der Frau aus der Shanidar-Höhle zusammen. Vermutlich war die Verstorbene dort bestattet worden

Die Wiederauferstehung der Frau von Shanidar

Im Jahr 2015 fanden neue Ausgrabungen in Shanidar statt, bei denen ein weiteres, stark von den darüber liegenden Sedimenten zerdrücktes und fragmentiertes Skelett entdeckt wurde. Drei Jahre dauerte die Freilegung und offenbarte eine verstorbene Person, die auf dem Rücken liegt und deren rechter Arm auf dem Bauch positioniert ist, während der angewinkelte linke Arm so liegt, dass die zur Faust geballte Hand unter der linken Gesichtshälfte des zur Seite geneigten Kopfes ruht.

Mehrere weitere Jahre verstrichen, bis Mitarbeitende der Universitäten Cambridge und Liverpool in Zusammenarbeit mit der BBC Studios Science Unit den Schädel des Skeletts aus hunderten von Bruchstücken dreidimensional zusammengesetzt hatten und die Paläo-Künstler Adrie und Alfons Kennis anhand des Schädels ein beeindruckendes menschliches Porträt schufen: Heraus kam das am 2. Mai dieses Jahres veröffentlichte Bild einer älteren Neandertaler-Frau, vielleicht in den 40er Jahren, die vor 75.000 Jahren im Nahen Osten gelebt hatte. Und offenbar war sie nach ihrem Tod mit Absicht zur letzten Ruhe gebettet worden. Die Angehörigen hatten eine natürliche Rinne vertieft, die Frau so hineingelegt, dass ihr Kopf an einem Stein lag, wie auf einem kleinen Kissen, und sie müssen Sand über die Tote gehäuft haben, weil sich sonst Raubtiere an den Überresten zu schaffen gemacht hätten. Auch fanden sich im Boden mikroskopische Reste von Nahrung, etwa Samen, Nüsse und Gräser.

„Unsere Entdeckungen zeigen, dass die Neandertaler von Shanidar auf eine Weise über den Tod und seine Auswirkungen nachgedacht haben könnten, die sich gar nicht so sehr von der ihrer nächsten evolutionären Vettern – uns selbst – unterschied“, sagt Teamleiter Graeme Barker in einer Pressemitteilung der University of Cambridge. Diese Nähe zwischen Neandertalern und modernen Menschen offenbart sich immer wieder in neuen Entdeckungen.

Die helle Zeichnung zeigt einen Unterarm mit Hand, die zwischen Daumen und Fingern einen gelblichen Klumpen hält, aus dem ein schwarzer, flacher, scharfkantiger Stein herausragt.
So könnte der von Neandertalern verwendete Super-Klebstoff aus Bitumen und Ockerfarbe funktioniert haben: Als Griff für eine Klinge aus Feuerstein

Ein urzeitlicher Zwei-Komponenten-Klebstoff hielt Werkzeuge zusammen

So zeigt eine im Februar 2024 bei Science Advances veröffentlichte Untersuchung, dass Neandertaler auch technologische Spitzenleistungen vollbrachten und einen Klebstoff aus mehreren Komponenten herstellten. Ein Team unter Leitung von Patrick Schmidt von der Universität Tübingen und Ewa Dutkiewicz vom Museum für Vor- und Frühgeschichte in Berlin hatte Rückstände an Steinwerkzeugen von Neandertalern aus der Fundstätte Le Moustier in Frankreich analysiert. Heraus kam: Die Urmenschen hatten eine ausgeklügelte Mischung aus Ocker und Bitumen hergestellt.

Ocker ist ein natürliches Farbpigment, Bitumen ein im Boden vorkommendes erdölähnliches Kohlenwasserstoffgemisch. Der Ockeranteil in dem Urzeitklebstoff lag bei mehr als 50 Prozent, ermittelten die Forschenden. In eigenen Experimenten fanden sie heraus, dass ein solches Gemisch des Farbstoffes mit flüssigem Bitumen eine formbare Masse, eine Art Super-Werkstoff ergibt. Der Stoff ist einerseits klebrig genug, um etwa eine Steinklinge aufzunehmen, die dann stecken bleibt, und andererseits fest genug, um einen Griff zu formen, der nicht an der Haut der Hand haftet. Bislang waren Kleber aus mehreren Komponenten nur beim Homo sapiens bekannt gewesen.

Hier wurden vier Fotos aus einer Höhle zusammengestellt, alle in bräunlich-beigen Farbtönen. Drei zeigen Gravuren und Muster, die in die Felswand geritzt wurden, eines zeigt eine Forscherin, die am Boden hockt, ein schwarzes Band mit einer Leuchte um die Stirn und einem Pinsel in der rechten Hand, mit dem sie Sedimente freilegt.
In einer Höhle an den Ufern der Loire in Frankreich entdeckten Forschende uralte Felsritzungen, die von Neandertalern stammen müssen

Ebenfalls verblüffend sind die künstlerischen Fähigkeiten der Ur-Europäer. Eine im Journal Plos One im Juni 2023 veröffentlichte Studie offenbart Gravuren, die vor mehr als 57.000 Jahren in die Wände einer Höhle an der Loire geritzt worden waren. Schon seit 2018 bekannt sind von Neandertalern stammende einfache geometrische Zeichnungen sowie Handabdrücke aus Höhlen in Spanien, die zum Teil mehr als 64.000 Jahre alt sind.

Die Entdeckung der Vielfalt: Neandertaler als Urzeit-Gourmets

Bislang waren die europäischen Urmenschen nicht gerade als Feinschmecker berühmt, sondern vor allem als Jäger, die das Fleisch großer Pflanzenfresser konsumierten und wenig Abwechslung kannten. Doch auch hier hat sich das Bild gewandelt. Eine Untersuchung an der Universität Tübingen vom August 2022 etwa erwies, dass Neandertaler, die vor rund 65.000 Jahren im Gebiet der Schwäbischen Alb lebten, eine Vielzahl von Vögeln auf ihrem Speisezettel hatten: Rauhfußhühner – dazu zählen Schnee-, Auer- und Birkhühner – sowie Entenvögel, zu denen auch Gänse und Schwäne gehören.

Zwei Fotos werden gezeigt: Links ist unten ein Knochen und darüber eine Ausschnitts-Vergrößerung zu sehen, die Schnittspuren von Steinwerkzeugen erkennen lässt. Rechts der Blick von oben in einen großen Laborbehälter, in den ein Forscher mit blauen Gummihandschuhen und einer Pinzette in der Hand einen Backenzahn auf ein weißes Blatt legt.
Vögel standen auf der Speisekarte der Neandertaler, wie Schnittspuren an diesem Schneehuhn-Knochen (links) belegen, aber auch Pflanzenkost: Das zeigten Analysen der DNA aus Zahnstein (rechts), die beim Neandertaler Bakterien nachwiesen, die pflanzliche Stärke aufschließen

Manche Neandertaler hatten jedoch auch ein komplett anderes Ernährungsspektrum, erwies eine in der Zeitschrift Science veröffentlichte Studie. An der Atlantikküste des heutigen Portugal etwa ernährten sie sich vor rund 80.000 bis 100.000 Jahren von Muscheln, Fischen, Seevögeln, sogar Delfinen und Seehunden. Daneben ergänzten sie ihren Speiseplan mit Pflanzenkost wie Oliven, Weinreben, Feigen, Pinienkernen. Auch landbewohnende Wildtiere – etwa Hirsche, Ziegen, Pferde oder Auerochsen – sowie kleine Schildkröten kamen hinzu.

Ein weiterer Hinweis auf die Ernährungsweise der Urmenschen stammt aus einer internationalen Studie unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, die 2021 in der Zeitschrift PNAS erschien. Das Team hatte die Zahnsteinreste von mehr als 120 Individuen analysiert – heutigen Menschen, Schimpansen, Gorillas und Brüllaffen, aber auch Urmenschen, darunter ein Neandertaler, der vor rund 100.000 Jahren im jetzigen Serbien gelebt hatte. Anhand der DNA-Reste hatten die Forschenden die individuelle Bakterien-Zusammensetzung (das Mikrobiom) ermittelt und Erstaunliches festgestellt: Moderne Menschen und Neandertaler besaßen sehr ähnliche Bakteriengemeinschaften im Mund. Darunter war eine Untergruppe von Streptokokkus-Bakterien, die darauf spezialisiert sind, stärkehaltige Nahrung – etwa Wurzeln, Knollen und Samen – aufzuschließen. Solche Pflanzen dürften daher in der Ernährung der Neandertaler eine wichtige Rolle gespielt haben.

Die Zeichnung zeigt ein Tal mit üppigem Baumbewuchs und steiler Wand, in dem eine Horde von Urmenschen einen im Wasser eines Flusses stehenden, zähnefletschenden Bären gestellt hat und mit langen Speeren attackiert.
Schon vor 300.000 Jahren nahmen es Neandertaler mit Höhlenbären auf – hier dargestellt als Jagd in der offenen Landschaft. Oft allerdings erlegten sie die Tiere auch während des Winterschlafs in Höhlen

Keine Angst vor riesigen Waldelefanten und gefährlichen Höhlenbären

Auch wenn die Neandertaler Pflanzenkost nicht verschmäht haben, waren sie dennoch mutige Jäger, die es mit den größten und gefährlichsten Tieren aufnahmen. Vor 125.000 Jahren machten sie Jagd auf die bis zu 4 Meter hohen und 13 Tonnen schweren Europäischen Waldelefanten, ermittelte ein Forschungsteam unter Beteiligung der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Dass die Ur-Europäer bereits vor 320.000 Jahren so gefährliche Tiere wie Höhlenbären zur Strecke brachten und deren Fell nutzten, belegt eine in den Quaternary Science Reviews vom 1. Juni 2024 veröffentlichte Studie mehrerer deutscher Forschungseinrichtungen.

Genützt haben den Neandertalern ihr Mut, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse am Ende nichts. Vor rund 40.000 Jahren starben sie aus und der Homo sapiens dominierte – weshalb, ist bis heute eine viel diskutierte, ungeklärte Frage. Am 31. Januar 2024 publizierten mehrere Teams unter Beteiligung des Max-Planck-Institutes für evolutionäre Anthropologie in Leipzig Forschungsergebnisse, die diesem Rätsel eine neue, verwirrende Facette hinzufügen. Bei Grabungen in der Ilsenhöhle in Ranis, Thüringen, fanden sich 45.000 Jahre alte Skelettreste von modernen Menschen, vom Homo sapiens. Bislang hatten die Forschenden angenommen, dort hätten in jener Zeit Neandertaler gelebt – und mussten nun erkennen, dass die gefundenen Werkzeuge vom Homo sapiens stammten. Es gibt sogar Hinweise, dass der moderne Mensch diese Gegend bereits vor 47.500 Jahren sporadisch besiedelt hat.

Offenbar gab es eine viel längere Übergangsperiode zwischen der Ankunft der ersten modernen Menschen in den nördlichen Breiten Europas und dem Verschwinden der letzten Neandertaler in Südwesteuropa, als bislang angenommen. Diese neuen Befunde machen das Rätselraten um den Neandertaler, den heute schon die Aura eines Mythos umweht, umso größer.

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