Neues vom Menschen – was 2018 geschah
Von frühen Auswanderern, ersten Künstlern, seltsamen Mischlingen und unterschätzten Gehirnen
Wann verließ der moderne Mensch Afrika, wie alt sind die ältesten Höhlenmalereien, mit wem kreuzte sich der Neandertaler und wie war das Denkorgan von Homo naledi beschaffen? Die wichtigsten Forschungsergebnisse aus dem Jahr 2018
Die ersten Migranten
Im Januar 2018 meldet sich ein internationales Forscherteam mit einer spektakulären Nachricht über die Auswanderung des modernen Menschen aus Afrika: Der Homo sapiens hat bereits vor rund 180.000 Jahren den Nahen Osten erreicht. Die Paläoanthropologen folgern das aus einem menschlichen Oberkieferknochen, den sie in der Misliya-Höhle im Karmel-Gebirge in der Nähe der israelischen Stadt Haifa gefunden und untersucht haben. Die Analyse des Fossils nach Aufnahme im Mikro-Computertomografen und anschließender 3D-Modellierung zeigt, dass es sich eindeutig um den Kiefer eines Homo sapiens handelt. Und die Datierung mittels unterschiedlicher Techniken ergibt ein Alter des Fundstücks von 177.000 bis 194.000 Jahre.
Das bedeutet: Die Wanderungsgeschichte des modernen Menschen muss wieder einmal umgeschrieben werden. Unsere Ahnen sind mindestens 50.000 Jahre früher aus Afrika aufgebrochen als bislang angenommen – um letztlich den gesamten Planeten zu erobern. Wie weit sie dabei in jener Zeit vordringen konnten, ist aufgrund der wenigen Funde bislang unbekannt. Vermutlich kamen sie zunächst nicht weiter in Richtung Norden voran. Denn dort stießen sie auf einen mächtigen Gegner, der bestens an die kalte Umgebung angepasst war und sie vorerst aufhielt: den Neandertaler.
Von uralten Künstlern auf der Iberischen Halbinsel
Die Neandertaler, auch das wird immer deutlicher, waren dem Homo sapiens in fast jeder Hinsicht ebenbürtig und keineswegs eine „primitivere“ Menschenform. Selbst Höhlenmalereien – welche die Paläoanthropologen bislang nur dem Homo sapiens zugetraut hatten – gehören zum geistigen Repertoire der Neandertaler. Dies bezeugen die im Februar 2018 veröffentlichten Ergebnisse einer internationalen Forschergruppe unter Leitung von Dirk Hoffmann vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Die Wissenschaftler hatten die künstlerischen Hinterlassenschaften auf den Felswänden von drei Höhlen im heutigen Spanien neu datiert und dabei eine Überraschung erlebt.
In den Höhlen sind rote und zum Teil auch schwarze Malereien zu sehen, die Tiergruppen, Punkte und geometrische Zeichnungen zeigen, dazu auch Abdrücke von Händen sowie Felsritzungen. Bislang war das genaue Alter der Kreationen unbekannt und sie waren dem Homo sapiens zugeordnet worden. Doch jetzt stellt sich heraus: Die Kunstwerke wurden vor mindestens 64.000 Jahren geschaffen, stammen also aus einer Zeit, in der auf der Iberischen Halbinsel noch gar keine modernen Menschen lebten, sondern ausschließlich Neandertaler. Diese müssen demnach die Urheber der Höhlenkunst gewesen sein und somit auch fähig, symbolisch zu denken – also etwas mit Zeichen oder Sinnbildern auszudrücken. Das lässt, so sehen es die Forscher, nur einen Schluss zu: Die geistigen Leistungen des Neandertalers waren denen des Homo sapiens ebenbürtig.
Neandertaler mit feinfühligen Händen
Auch was ihre physischen Fähigkeiten betrifft, waren die Neandertaler den modernen Menschen ähnlicher als bislang angenommen. Galten sie früher als zwar körperlich stark, aber eher unbeholfen, bescheinigt ihnen nun eine Studie des „Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment“ an der Universität Tübingen genauso viel Fingerspitzengefühl wie uns. Die Forscher analysierten in ihrer Studie anatomische Details an den Fingerknochen der Urmenschen, berücksichtigten, wo genau Muskeln und Sehnen ansetzen und kommen schließlich zu dem Schluss: Auch wenn die Knochen kräftiger gebaut sind als die heutiger Menschen, vermochten die Neandertaler ihre Finger ebenso präzise und feinfühlig zu bewegen wie wir; sie waren kompetente Werkzeugmacher und -nutzer.
Die technologischen Fertigkeiten der Neandertaler unterstreicht der Fund mehrerer Holzstöcke in der Grabungsstätte „Poggetti Vecchi“ in der südlichen Toskana, den italienische Forscher untersuchten. Die mehr als ein Meter langen Relikte aus Buchsbaum – prähistorische Objekte aus Holz sind extrem selten, weil sie normalerweise verrotten – sind rund 171.000 Jahre alt und ähneln Grabstöcken, die sich überall bei Jäger-und-Sammler-Gesellschaften finden: am einen Ende abgerundet, am anderen Ende zugespitzt. Da Buchsbaum zu den härtesten und schwersten Hölzern in Europa gehört, war die Bearbeitung sicher nicht einfach. Die Urmenschen nutzten dazu Feuer und kohlten die Stöcke über den Flammen an, um sie mit Steinwerkzeugen leichter abschaben zu können, fanden die Wissenschaftler heraus.
Das Rätsel eines Untergangs
Weshalb die Neandertaler trotz dieser Fähigkeiten von der Erde verschwanden und nur der Homo sapiens übrig blieb, ist noch immer rätselhaft. Eine im August 2018 veröffentlichte Studie des eiszeitlichen Klimas in Europa zeigt: In der Epoche vor 44.000 bis 40.000 Jahren, als die Zahl der Neandertaler drastisch schrumpfte, gab es mehrfach Kälteeinbrüche, die zwischen einigen Jahrhunderten und bis zu tausend Jahren andauerten. In diesen Zeiten nahmen die durchschnittlichen Temperaturen um bis zu zehn Grad ab und es herrschte Trockenheit. Dies könne, so sagt Studienleiter Michael Staubwasser von der Universität zu Köln, Umweltveränderungen und ökologischen Stress ausgelöst haben, denen der Urmensch nicht gewachsen war. Denn der Neandertaler war mit seiner Ernährung recht einseitig auf fleischreiche Kost spezialisiert, die in jenen Zeiten rarer wurde. So hat vielleicht gar nicht – wie oft vermutet – der Homo sapiens das Schicksal des Neandertalers besiegelt, sondern er ist erst eingewandert, nachdem sein Verwandter schon verschwunden war. Es könnten aber auch Klima, Konkurrenz durch den modernen Menschen und weitere Ursachen zusammengewirkt haben; ganz klar ist das nicht.
Fest steht allerdings eines: Genetisch gesehen sind die Neandertaler nicht völlig ausgestorben. Denn sie vermischten sich mit anderen Menschenformen und hinterließen ihre Spuren in deren Erbgut. So auch in uns heutigen Europäern; wir tragen etwa ein bis zwei Prozent ihrer DNA in uns. Und das hat Folgen, berichten Forscher des MPI für evolutionäre Anthropologie und des MPI für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen. Sie ermittelten in einer Untersuchung an 4.500 Teilnehmern, ob sich die DNA-Fragmente der Urmenschen auf die Gestalt des modernen Gehirns auswirken. Denn die Urmenschen besaßen noch sehr lange Gehirnschädel, während die Köpfe der heutigen Menschen ausgesprochen rund sind. Die Wissenschaftler wurden fündig: Sie entdeckten an zwei Stellen im sapiens-Erbgut Neandertaler-Gene, die offenbar mit einer eher länglichen Form des Gehirns zusammenhängen. Die Forscher wissen zudem aus anderen Untersuchungen, dass diese Gene bei der Gehirnentwicklung eine Rolle spielen. Zwar können sie bislang nicht sagen, was die Neandertaler-Gene im Gehirn des Homo sapiens genau bewirken, doch sehen sie in solchen Forschungen einen ganz neuen Ansatz, um die Entwicklung des Gehirns zu verstehen. Da wird es in Zukunft sicher noch Überraschungen geben.
Eine Liaison der besonderen Art
Nicht nur der Homo sapiens ließ sich mit dem Neandertaler ein, sondern auch ein anderer Zeitgenosse. Erneut sind es Forscher des Leipziger MPI für evolutionäre Anthropologie, die eine solche Liaison nachweisen können. Sie haben die Erbsubstanz eines bereits 2012 in der Denisova-Höhle in Sibirien gefundenen Knochenstückes analysiert und kommen zu einem erstaunlichen Schluss: Die junge Frau, welcher der Knochen einst gehörte und die vor mindestens 50.000 Jahren lebte, war ein Mischling – Tochter einer Neandertalerin und eines Denisovaner-Vaters. Die Denisova-Menschen waren erst 2009 von den Leipziger Paläo-Genetikern entdeckt worden – durch die Entzifferung ihres Erbgutes aus einem winzigen Knochenbruchstück, das ein Jahr zuvor in eben jener Denisova-Höhle gefunden worden war. Bis heute gibt es nur wenig Knochenrelikte dieser Menschenform; die meisten Erkenntnisse über sie haben die Forscher aus den Genen herausgelesen.
Denisova-Menschen waren einst weit über Asien verbreitet und auch sie haben ihre genetischen Spuren im Homo sapiens hinterlassen, etwa in Menschen, die heute im Süden Asiens und der sich anschließenden Inselwelt im Südosten leben. Die Leipziger Paläo-Genetiker hoffen aus weiteren Analyse der Mischlings-DNA neue Erkenntnisse über beide Menschenformen und ihr Verhältnis zueinander gewinnen zu können. „Neandertaler und Denisovaner hatten vielleicht nicht viele Gelegenheiten einander zu treffen. Aber wenn, dann müssen sie relativ häufig Kinder miteinander gezeugt haben – viel öfter als wir bislang dachten“, sagt Teamchef Svante Pääbo.
Kleines Hirn mit menschlichen Merkmalen
Auch über eine weitere, in Südafrika lebende und erst 2015 beschriebene Menschenart gibt es Neues zu berichten: über Homo naledi. Rätselhaft ist dieses Wesen, weil es uralte, primitive Merkmale mit solchen kombiniert, die an spätere Menschen erinnern. Erstaunlich ist vor allem die Altersdatierung des Fundes auf 236.000 bis 335.000 Jahre – demnach war Homo naledi Zeitgenosse des jungen Homo sapiens, der sich gerade in Afrika entwickelte, und des Neandertalers, der in Europa entstand. Verglichen mit diesen Menschen besaß der seltsame Südafrikaner indes einen kleinen Schädel mit einem nur bescheidenen Gehirnvolumen. Aber heißt das auch, dass Homo naledi ein eher primitives Wesen mit begrenzten geistigen Fähigkeiten war?
Ein US-amerikanisch-südafrikanisches Forscherteam unter Leitung von Ralph Holloway wollte diese Frage klären und untersuchte an Abgüssen des Schädelinneren von Homo naledi die Anatomie von dessen Gehirn. Heraus kam: Der Menschenart fehlt der sogenannte „fronto-orbitale Sulcus“, eine Furche im stirnseitigen Gehirn, die Affen und Vormenschen der Gattung Australopithecus charakterisiert, jedoch beim modernen Menschen nicht vorhanden ist. Stattdessen sind bei Homonaledi Bereiche des Stirnhirns stärker ausgeprägt, und auch andere Merkmale weisen in Richtung des modernen Menschen. Insofern, schließen die Forscher, zeigt das Denkorgan des Urmenschen eine eher moderne Organisation und ist deutlich weiter entwickelt als das der Vormenschen. Damit bestätigt sich die Zuordnung dieses Bewohners von Südafrika zur Gattung Homo.
Zusammengefasst lassen die Forschungsergebnisse des Jahres 2018 erkennen: Die Menschheitsevolution ist kompliziert und nicht so geradlinig, wie sich das Forscher lange Zeit vorgestellt hatten. Nicht eine Art entwickelte sich strikt zur nächsten. Stattdessen tummelten sich über viele Jahrhunderttausende auf der Erde eine Vielfalt unterschiedlicher Menschenformen, jede optimal an ihre jeweilige Umwelt angepasst. Und diese Erkenntnis wird sich auch 2019 vertiefen – unter anderem mit dem Auftauchen einer weiteren, neuen Menschenart, die auf den Philippinen heimisch war: dem Homo luzonensis.