Nobelpreis: Wie Svante Pääbo die Erforschung unserer Urgeschichte revolutionierte

Max-Planck-Forscher entwickelte die Paläogenetik: DNA aus fossilen Knochen lässt Neandertaler-Gene und ihre gesundheitlichen Auswirkungen bei modernen Menschen erkennen und wirft ein völlig neues Licht auf die Evolution des Homo sapiens

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Ein blauer Hintergrund mit der Aufschrift „Max-Plank-Institut für evolutionäre Anthropologie“. Davor sitzt auf einem beigen Holztisch ein Mann in bräunlich-oranger Jacke und beiger Hose, einen großen Blumenstrauß in einer Vase vor sich und in der rechten Hand den Schädel eines Neandertalers tragend. Rechts von ihm steht das kopflose, restliche Skelett des Neandertalers.

Eigentlich war dieser Nobelpreis überfällig. Denn niemand hat die Erforschung der menschlichen Urgeschichte in den letzten Jahrzehnten so revolutioniert wie Svante Pääbo. Der seit 25 Jahren am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig forschende Schwede hat es nicht nur möglich gemacht, die Erbsubstanz von Jahrhunderttausende alten Knochen zu lesen. Dank seiner Arbeiten stellte sich auch heraus, dass sich der Homo sapiens mit Neandertalern sowie Denisova-Menschen vermischte und welche Wirkung das Urzeit-Erbe in uns heutigen Menschen entfaltet. Manche Genvarianten der Neandertaler etwa beeinflussen den Verlauf von Infektionen mit dem Corona-Virus – einige machen die Verläufe schwerer, andere bewirken, dass Patienten seltener auf Intensivstationen landen.

Die Entzifferung des uralten Erbgutes ermöglicht es außerdem, genau zu verfolgen, wie sich die Angehörigen der Art Homo sapiens, also unsere direkten Vorfahren, von Afrika aus über die ganze Erde ausbreiteten. Ihre Wanderungsbewegungen lassen sich verfolgen und ihre Anpassungen an neue Umwelten rekonstruieren. Sogar die Auswirkungen historischer Seuchen können Forschende heute nachvollziehen.

Als Pääbo in den 1980er Jahren mit seinem Medizin-Studium an der Universität Uppsala beginnt, ist das alles noch nicht abzusehen, ja nicht einmal in kühnsten Träumen zu erahnen. Doch der junge Mann interessiert sich neben der Medizin leidenschaftlich für Ägyptologie und kommt auf eine verblüffende Idee: Er entnimmt im Museum von Uppsala Gewebeproben von ägyptischen Mumien und versucht abends und an den Wochenenden heimlich Erbsubstanz aus ihnen zu gewinnen. Seinem Doktorvater erzählt er davon nichts, sondern lässt ihn in dem Glauben, er wolle im Rahmen seiner Doktorarbeit nur Viren vermehren. Als Pääbo die Ergebnisse zusammen mit einem Ägyptologen des Berliner Pergamonmuseums 1985 in der renommierten Wissenschaftszeitschrift „Nature“ veröffentlicht, schlägt die Nachricht wie eine Bombe ein. Eine neue Wissenschaftsrichtung – die Paläogenetik – ist geboren, und eine atemberaubende Karriere nimmt ihren Lauf.

Erst ägyptische Mumien, dann ausgestorbene Tiere

Es bleibt nicht bei ägyptischen Mumien. Im Lauf der Jahre gelingt es Pääbo und Kollegen zum Beispiel Erbsubstanz aus dem ausgestorbenen australischen Beutelwolf oder dem verschwundenen neuseeländischen Riesenvogel Moa zu gewinnen. Die Analyse der Gene erlaubt ganz neue Aussagen über die Verwandtschaftsbeziehungen der ausgestorbenen Tiere zu heute lebenden. Dabei gibt es allerdings ein Problem: Je älter die zu untersuchende Probe, desto stärker ist die enthaltene Erbsubstanz zerfallen, desto schwieriger wird die Entzifferung.

Doch Svante Pääbo lässt sich nicht entmutigen und entwickelt die Methode zusammen mit Kollegen immer weiter. Nach Zwischenstationen in Zürich, Berkeley und München wechselt er im Jahr 1997 als einer von fünf Direktoren an das neu gegründete Max-Plack-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, wo er noch heute tätig ist. Und bereits Mitte der 1990er Jahre wagt er sich an die bislang spektakulärste Analyse – eine, die bis dahin niemand für möglich gehalten hat.

„Es war schon immer mein Traum, den Neandertaler zu untersuchen, weil er die am besten bekannte Menschenform ist, die uns sehr nahe steht und dennoch etwas anders ist als wir“, erzählt Pääbo.

Das Foto zeigt einen muskelbepackten Mann mit gewaltiger Nase und breitem Mund, der sich auf seinen Wurfspeer stützt – es ist die Rekonstruktion eines Neandertalers am Neanderthal Museum in Mettmann. Forscher entdeckten jetzt Genbruchstücke von Neandertalern bei heutigen Menschen in Afrika.
Vor mehr als 200.000 Jahren entwickelte sich in Europa der Neandertaler – hier eine Rekonstruktion des Neanderthal Museums in Mettmann. Er hinterließ genetische Spuren in vielen heutigen Menschen – sogar auf dem afrikanischen Kontinent

Tatsächlich gelingt es dem Schweden und seinem Team, zunächst Erbmaterial aus Mitochondrien – den Mini-Kraftwerken einer Zelle – des Neandertalers zu gewinnen. Doch der große Durchbruch kommt Anfang der 2000er Jahre, als Pääbo dank immer effizienterer Methoden zur Bestimmung der DNA-Reihenfolge (Sequenzierung) beginnt, das komplette Erbgut der Neandertaler zu entziffern. Im Jahr 2010 ist die erste Version fertig.

Homo sapiens hatte viele sexuelle Kontakte mit Urmenschen

Dann folgen die Erkenntnisse Schlag auf Schlag: Es stellt sich heraus, dass Neandertaler und Homo sapiens sich vor rund 50.000 Jahren außerhalb Afrikas vermischt haben. Daher tragen nichtafrikanische Menschen heute etwa zwei Prozent Neandertaler-DNA in sich. Zahlreiche Gene des Urmenschen sind inzwischen bekannt, die unsere Gesundheit und viele körperliche Merkmale beeinflussen. Ebenso spektakulär: Im Jahr 2010 entdecken die Forschenden um Svante Pääbo in einer sibirischen Höhle einen ganz neuen menschlichen Verwandten, den sie Denisova-Menschen nennen. Sie identifizieren ihn nur anhand eines winzigen Stückes von einem Fingerknochen, dessen Erbsubstanz sie analysieren. Auch der Denisova-Mensch hatte Sex mit dem Homo sapiens, stellt sich 2021 heraus. Deshalb stammen bei heutigen Europäern ein, bei Ostasiaten zwei Prozent des Erbgutes von diesem Urmenschen.

Im Jahr 2014 gelingt Pääbo mit Kollegen sogar die Entzifferung epigenetischer Unterschiede zwischen Neandertalern, Denisova-Mensch und Homo sapiens. Danach ist manche unserer Besonderheiten vielleicht gar nicht auf einen genetischen Wandel sondern auf eine Veränderung der Umgebung der Gene zurückzuführen, die deren Regulation beeinflusst.

All diese Erkenntnisse wären ohne Svante Pääbo nicht möglich geworden. Dabei geht es dem frisch gekürten Nobelpreisträger gar nicht nur um die Neandertaler und andere Urmenschen. Vor allem will er wissen, woher wir selbst kommen, wer wir sind. Eine der brennendsten Fragen dabei ist: Was unterscheidet uns, den Homo sapiens, von anderen Menschenformen? Was machte uns so erfolgreich, dass wir heute die einzige Menschenart sind, die auf der Erde existiert?

In einem Interview mit einer Wochenzeitung formulierte Pääbo das einmal so: „Die archaischen Formen des Menschen tauchten vor rund zwei Millionen Jahren auf, aber sie erreichten weder Amerika, Australien oder irgendwelche kleinere Inseln. Doch vor rund 100.000 Jahren kommt der moderne Mensch und besiedelt innerhalb kürzester Zeit die ganze Welt. Und zwar, weil er auf die Idee kam, mit einem winzigen Boot hinaus zu segeln und eine Insel zu suchen, von der er nicht weiß, ob es sie überhaupt gibt – dazu muss man verrückt sein.“

Die Gene und Genvarianten, die den Homo sapiens auf diese Weise „verrückt“ und zu ganz besonderen Wesen gemacht haben, sind noch immer nicht identifiziert. Sie zu entschlüsseln bleibt eine der spannendsten Herausforderungen – für Pääbo und die gesamte Wissenschaft.

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