Die Urzeit-Gene in uns
Wie das Erbgut des Neandertalers dem Homo sapiens bei der Anpassung half
Die außerhalb Afrikas lebende Weltbevölkerung trägt rund zwei Prozent Genmaterial in ihrem Erbgut, das vom Neandertaler stammt und eine Vielzahl körperlicher Merkmale beeinflusst. Ganz offensichtlich hatten die beiden Menschenformen gelegentlich Sex miteinander. Doch weshalb starb der Urmensch aus, während sein Erbe in uns überlebte? Was bewirken die Neandertaler-Gene und wie ist zu erklären, dass uns manche von ihnen sogar anfälliger für Krankheiten machen?
Es ist mehr als 400.000 Jahre her, dass sich ihre Wege trennten: Die einen verließen den Schwarzen Kontinent und wurden in Europa und Teilen Asiens zu Neandertalern, die anderen blieben in Afrika und entwickelten sich dort zum Homo sapiens. Zwar drangen schon vor rund 180.000 Jahren Gruppen des modernen Homo sapiens in den Nahen Osten vor. Doch erst vor 85.000 bis 65.000 Jahren erreichten sie Südasien und Australien, vor 45.000 Jahren dann weitere Teile Asiens und Europa. Die Zahl der Neandertaler aber begann bald darauf zu schrumpfen, und vor 40.000 Jahren waren diese Urmenschen verschwunden. Sie schienen endgültig ausgelöscht zu sein. Umso erstaunter waren Forschende, als sie im Jahr 2010 erstmals auf Neandertaler-Gene bei uns heutigen Menschen stießen. Offenbar hatten sich die beiden Menschenformen vermischt. Doch weshalb haben sich Teile des Neandertaler-Erbguts bis heute erhalten? Der Untergang des Ur-Europäers schien doch ein Beweis dafür zu sein, dass sein Erbe nicht so fit war wie das des Homo sapiens. Wenn einige Neandertaler-Gene bis heute in uns überdauert haben, dann müssen sie irgendwelche Vorteile gehabt haben. Was also macht das Urzeit-Erbe in uns, weshalb ist es nicht verschwunden?
Gene der Neandertaler verschlimmern eine Corona-Infektion
Mittlerweile haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zahlreiche Erbgutschnipsel des Neandertalers bei heutigen Menschen identifiziert. Bei Bevölkerungen außerhalb Afrikas machen sie rund zwei Prozent des Genoms – also der gesamten Genbibliothek eines Menschen – aus. Die Gene betreffen etwa das Aussehen und die Körperstruktur, das Gehirn, physiologische Eigenschaften, das Immunsystem oder verschiedene Krankheiten. Eine der neuesten und spektakulärsten Entdeckungen ist eine genetische Region, die Ende September 2020 in Zusammenhang mit Covid-19 bekannt wurde. Menschen, die Genvarianten in dieser Region tragen, haben ein deutlich größeres Risiko für einen schweren Verlauf und einen Krankenhausaufenthalt bei einer Infektion mit dem neuen Coronavirus. Dreimal höher ist bei ihnen die Wahrscheinlichkeit, dass sie künstlich beatmet werden müssen als bei anderen infizierten Menschen.
Hugo Zeberg und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig fanden heraus, dass die entsprechende genetische Region mit etwa 50.000 Gen-Buchstaben in nahezu identischer Form bei einem Neandertaler aus Kroatien vorkommt. Vor etwa 60.000 Jahren müsse diese Gensequenz durch sexuelle Kontakte vom Neandertaler auf den Homo sapiens übertragen worden sein, schließen die Anthropologen aus ihren Analysen.
Ein Verstärker für das Immunsystem?
Rätselhaft erscheint zunächst, weshalb ein genetischer Abschnitt, der den Verlauf einer Virusinfektion schwerer macht, bis heute erhalten blieb. Die Genvarianten müssten auch irgendeine positive Wirkung haben, glauben Forschende. Genau bekannt ist das noch nicht, doch könnte das Neandertaler-Erbe für ein besonders aktives Immunsystem gesorgt haben. Denkbar ist, dass sich diese ursprünglich hilfreiche Eigenschaft heute bei einer Coronainfektion negativ auswirkt – wegen der modernen westlich geprägten Lebensweise und in Zusammenhang mit Risikofaktoren wie Übergewicht, Herzproblemen oder hohem Alter.
Auf etliche weitere Krankheiten entfalten Genvarianten der Neandertaler eine Wirkung. Sie beeinflussen nicht nur das Immunsystem, sondern auch die Neigung zu Depressionen, das Suchtverhalten und den Stoffwechsel. Eine Variante ist offenbar mit der Anfälligkeit für Gluten-Unverträglichkeit (Zöliakie) verbunden, eine andere vermindert das Risiko, an Malaria zu erkranken.
Das uralte Erbgut senkt das Prostata-Krebs-Risiko
Eine Studie, in der das Neandertaler-Erbe von mehr als 200.000 Japanern analysiert wurde, veröffentlichte im Dezember 2020 der Genetiker Michael Dannemann, der an der Universität von Tartu in Estland arbeitet. Das Ergebnis: Eine Genvariante der Urmenschen reduziert die Wahrscheinlichkeit, an Prostata-Krebs zu erkranken, während andere genetische Varianten das Risiko für bestimmte Autoimmunkrankheiten erhöhen – etwa Dermatitis (Hautentzündung), Morbus Basedow (Autoimmunerkrankung der Schilddrüse) oder rheumatoide Arthritis (chronische Gelenkentzündung). Unterschiedlich wirken Neandertaler-Gene auf den Typ-2-Diabetes, früher auch Altersdiabetes genannt: Eine Genregion vermindert die Anfälligkeit für die Krankheit, eine andere erhöht sie.
Nicht immer ist also klar, was die Genvarianten genau bewirken und unter welchen Umständen sie hilfreich für das Überleben sind. Was in der natürlichen Umwelt der Urmenschen ein Vorteil war, kann sich bei der Lebensweise in der heutigen westlichen Zivilisation und dem viel höheren Durchschnittsalter als nachteilig zeigen. Doch die genetischen Analysen stehen erst am Anfang und sind bislang oft rein statistischer Natur.
Leichter zu verstehen sind körperliche Merkmale, die den aus Afrika ausgewanderten Homo-sapiens-Gruppen halfen, sich an die speziellen Umweltbedingungen ihrer neuen Heimat anzupassen. Etliche der Neandertaler-Gene beeinflussen zum Beispiel die Haut- und Haarfarbe, manche die Knochendichte, die Lungenkapazität oder die Fähigkeit, mit wechselnden Tag-Nacht-Rhythmen zurechtzukommen. Auch eine Anpassung des Blutes an ein Leben in großen Höhen mithilfe urzeitlicher Genvarianten konnten Forschende nachweisen.
Wie Urzeit-Gene Frauen fruchtbarer machen
Rund ein Drittel aller Frauen in Europa verfügt über eine Genvariante der Neandertaler, die offenbar die Fruchtbarkeit erhöht. Dies zeigen die im Mai 2020 veröffentlichten Untersuchungen von Hugo Zeberg, Janet Kelso und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Die dabei vererbte Mutation sorgt dafür, dass Zellen mehr Rezeptoren für das Hormon Progesteron herstellen. Es spielt im Menstruationszyklus und während der Schwangerschaft eine wichtige Rolle. Frauen mit der Variante der Urmenschen haben weniger Blutungen zu Beginn der Schwangerschaft sowie weniger Fehlgeburten und gebären mehr Kinder.
Zeberg – der auch am Karolinska Institutet in Schweden forscht – und Pääbo berichten von einer weiteren Genvariante der Neandertaler bei heutigen Menschen. Sie wurde vor allem bei alteingesessenen Bevölkerungen in Ostasien sowie in Mittel- und Südamerika entdeckt und erhöht die Schmerzempfindlichkeit. Ob auch die Neandertaler sensibler auf Schmerzen reagierten, wie sich die Mutationen sonst auswirken und welchen möglichen Überlebensvorteil sie bringen, bleibt vorerst offen.
Schädelform und Hirnstruktur vom Neandertaler?
Den Einfluss von Neandertaler-Erbgut auf unser Gehirn wiederum hat ein internationales Team um Philipp Gunz vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie sowie Simon Fisher und Amanda Tilot vom Institut für Psycholinguistik in Nijmegen, Niederlande, untersucht. Da moderne Menschen runde Köpfe, Neandertaler jedoch längliche haben, wollten die Forschenden herausfinden, welchen Einfluss die Gene der Urmenschen auf die Gestalt des Kopfes und die Gehirnorganisation haben.
Die im Januar 2019 veröffentlichten Ergebnisse zeigen: Neandertaler besitzen Erbgutvarianten, die mit mehr länglichen Schädelformen zusammenhängen und die Aktivität zweier Gene verändern. Diese spielen bei der Gehirnentwicklung eine wichtige Rolle und sind an der Bildung der sogenannten Myelinscheiden beteiligt. Das sind isolierende Umhüllungen von Nervenfasern, die die Leitungsgeschwindigkeit von Impulsen steigern. Die genetischen Veränderungen wirken sich offenbar auf Hirnstrukturen aus, die an der Vorbereitung, dem Lernen und der Koordination von Bewegungen beteiligt sind. Wie sich diese Genvarianten auf die geistigen Fähigkeiten von Neandertalern auswirken und welche Rolle die Genschnipsel im Erbgut des Homo sapiens genau spielen, ist allerdings noch nicht bekannt.
Viele der Neandertaler-Einflüsse bei heutigen Menschen sind also noch rätselhaft, insbesondere, welchen Überlebensvorteil einzelne Erbfaktoren besitzen. Ohnehin ist die Sachlage komplizierter, denn Gene arbeiten in der Regel nicht isoliert. Ihre Wirkung hängt auch von einer Vielzahl anderer Gene sowie von Einflüssen der Umwelt ab. Zudem wirken Gene oftmals nicht nur auf ein einzelnes, sondern auf mehrere verschiedene Merkmale. Und so gibt es vermutlich einen weiteren Grund, weshalb heutige Menschen in Europa und Asien rund zwei Prozent Neandertaler-Gene in sich tragen.
Es gab eine Zeit, in der das Erbgut des Homo sapiens verarmte
Denn als die ersten Gruppen des Homo sapiens Afrika verließen, war ihre Zahl nur gering. Da sie sich zunächst nur innerhalb ihrer kleinen Gemeinschaft fortpflanzten, kam es bald zur Inzucht und einer Verarmung des Erbgutes. Eine eingeschränkte genetische Vielfalt aber ist für kein Lebewesen gut. So bot eine Begegnung mit Neandertalern den eingewanderten Homo sapiens-Leuten die Möglichkeit, sich auf sexuelle Abenteuer einzulassen – und auf diese Weise das eigene Erbgut aufzufrischen.
Manche der Neandertaler-Genvarianten erwiesen sich als nützlich in der veränderten genetischen Umgebung des Homo sapiens und könnten sogar ganz neue Wirkungen im Zusammenspiel mit dessen Erbgut entfaltet haben. Andere Erbgutanteile der Neandertaler dagegen waren nachteilig und verschwanden schnell wieder.
Dank der Vermischung geriet sogar Neandertaler-DNA bis nach Afrika, obwohl diese Urmenschen dort nie gelebt haben. Denn einige der ausgewanderten Homo-sapiens-Leute kehrten in ihre Urheimat zurück – und nahmen die fremde Erbsubstanz mit auf den Schwarzen Kontinent.