Polio-Impfkampagne für Kinder im Gazastreifen läuft bisher erfolgreich

Der erste Polio-Fall im Gazastreifen seit 25 Jahren setzt eine bisher beispiellose, von der WHO, dem Gesundheitsministerium in Gaza und Unicef koordinierte Aktion in der Krisenregion in Gang.

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Ein Junge mit dunklen kurzen Haaren, steht mit geöffnetem Mund vor einer anderen Person, die ihm aus einer kleinen Plastikampulle eine Impflösung in den Mund tropft.

Die Polio-Impfkampagne im Gazastreifen verläuft bisher erfolgreich: Allein am 1. September, zum Start der Kampagne, erhielten laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) 86.000 Kinder eine Impfung, am zweiten Tag waren es rund 74.000. Nach dem dritten Tag sind rund 189.000 Kinder unter zehn Jahren in der Krisenregion gegen das potenziell lebensbedrohliche Virus geimpft. Ein Resultat, das die anvisierte Zahl an Kindern sogar übertrifft. „Ich bewundere den Mut und die Entschlossenheit der Familien, der Impfärzte und des medizinischen Personals, die an der Kampagne beteiligt sind“, schreibt WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus auf dem sozialen Netzwerk X.

Ghebreyesus rief die beteiligten Konfliktparteien auf, die humanitäre Kampfpause über die nächsten Tage aufrecht zu erhalten, damit alle Kinder eine Chance auf eine Impfung bekämen.

Polioviren tauchen in Abwasserproben auf

Hunderttausende Kinder sind seit Oktober 2023, also seit Beginn der gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen der radikalislamischen Hamas und Israel, nicht mehr gegen die Kinderlähmung (Polio) und andere Infektionskrankheiten geimpft worden.

Im Juli 2024 tauchten in Abwasserproben in Khan Younis und Deir al Balah Polioviren auf. Seither war die Sorge vor einem Ausbruch der Krankheit gewachsen. Bei einem zehn Monate alten Jungen aus Deir al-Belah im Süden des Gazastreifens wiesen dann Tests im August eine Infektion mit Polioviren nach. Der kleine Junge leidet unter Lähmungen – der erste Polio-Fall im Gazastreifen seit 25 Jahren.

Die chaotischen Zustände vor Ort – die zerstörte Infrastruktur, 1,9 Millionen Binnenflüchtlinge auf engstem Raum, kaum sanitäre Einrichtungen, ein zerstörtes Abwassersystem, kontaminiertes Trinkwasser – fördern die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Neunzig Prozent der Kinder gelten als mangelernährt, was sie noch anfälliger für Erkrankungen macht.

Beispiellose Impfkampagne mit über 500 Teams

Mit der Impfkampagne sollen insgesamt 640.000 Kinder unter zehn Jahren erreicht werden. Das Gesundheitsministerium in Gaza, die WHO, Unicef und Unrwa (das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten) koordinieren die Aktion. Über fünfhundert, zum Teil mobile Teams, versorgen die Familien entweder an den rund vierhundert fest eingerichteten Impfstellen im Land oder sie gehen direkt in Zeltlager und auch an schwierig zu erreichende Orte.

Israel hat zugesagt, militärische Operation von 6 Uhr morgens bis 15 Uhr am Nachmittag für drei Tage auszusetzen. Insgesamt sind minimal neun Tage für die Impfaktion eingeplant: zunächst drei Tage im zentralen Gazastreifen, dann drei Tage im Süden, wo man 340.000 Kinder erreichen will, und schließlich drei Tage im Norden des Landes. Dort sollen sich weitere 150.000 Kinder aufhalten.

Die Kampfpausen sollen es den Kindern und Familien genauso wie den Helfenden ermöglichen, die Impfstellen sicher zu erreichen. „Ohne die humanitären Pausen ist die Durchführung der Kampagne nicht möglich“, schreibt die WHO. Um die Ausbreitung der Polio tatsächlich zu verhindern, müssen 95 Prozent der Kinder erreicht werden. Für einen kompletten Impfschutz erhalten sie zunächst zwei Tropfen des Impfstoffes in den Mund. Nach etwa vier Wochen erfolgt die zweite Impfung.

Kühlkette muss eingehalten werden

Es bleibt zu hoffen, dass das ambitionierte Ziel, alle Kinder zu erreichen, tatsächlich eingehalten werden kann. Eine der Hauptschwierigkeiten liegt darin, den Impfstoff unbeschadet im Land zu verteilen. Der aus abgeschwächten Polioviren bestehende Impfstoff muss bei minus 15 bis minus 25 Grad Celsius aufbewahrt werden. Wenn sich das Präparat auf über acht Grad Celsius erwärmt, ist es unbrauchbar. Für sichere Transporte muss die Kühlkette unbedingt eingehalten werden. Das ist wegen der Umstände vor Ort, der zerstörten Straßen und der mangelnden Versorgung mit elektrischem Strom bei rund 30 Grad Celsius Außentemperatur schwierig.

Polio über Schmierinfektion übertragen

Es gibt drei verschiedene Typen von Polioviren, die dem Menschen gefährlich werden können. Polioviren vermehren sich hauptsächlich in den Zellen des Darms. Sie sind hochansteckend. Die Übertragung läuft meistens über eine so genannte Schmierinfektion, also über den Mund und mit Viren belastetes Wasser, Nahrung oder Hände. Polioviren können eine lebensbedrohliche Erkrankung, die Kinderlähmung, auslösen.

Bei etwa einem von hundert Infizierten, wie jetzt bei dem kleinen Jungen im Gazastreifen, erreicht das Virus die Nerven im Rückenmark. Dort zerstört es die so genannten Motoneuronen, die die Beweglichkeit von Armen, Beinen und Händen steuern. „Bei besonders schlimmen Fällen ist die Muskulatur zwischen den Rippen und dem Zwerchfell betroffen, die die Atmung steuert“, erklärt der Immunologe Reinhold Förster von der Medizinischen Hochschule Hannover.

Bei ungefähr drei Viertel derer, die sich infiziert haben, verlaufe die Infektion vollkommen symptomlos, so Reinhold Förster gegenüber der ARD Tagesschau. Ein Viertel leidet zunächst unter den typischen Beschwerden einer Virusinfektion, wie Fieber, Halsschmerzen oder Müdigkeit. Nach gut einer Woche kommen bei manchen dann Erbrechen und Durchfall hinzu, was ideale Bedingungen für das Virus bietet, sich weiter auszubreiten.

Infektionen mit Impfviren bereiten Probleme

Die WHO hatte 1988 weltweit eine Kampagne zur Ausrottung der Polio gestartet. Tatsächlich kommen natürliche Wildtyp Polioviren aktuell nur noch in zwei Ländern auf der Welt vor: in Afghanistan und in Pakistan. Probleme treten dort auf, wo eine Region mit hoher Durchimpfungsrate auf eine Region mit niedriger Impfrate trifft: Dem abgeschwächten Impfvirus bietet sich die Chance, sich in der nicht-geimpften Population auszubreiten, sich dabei zu verändern und wieder virulenter zu werden.

Die ersten Erkrankungsfälle mit Impfviren wurden im Jahr 2000 auf der karibischen Insel Hispaniola beobachtet. Seither sind Fälle in verschiedenen Ländern bekannt geworden. Unter anderem in Syrien, wo in Folge des Krieges die Impfrate auf vierzig Prozent sank, oder der Demokratischen Republik Kongo, wo im Jahr 2018 29 Kinder an durch Polio-Viren verursachten Lähmungen erkrankten.

In den meisten Fällen – wie auch jetzt im Gaza-Streifen – ist für die Infektionen das Impfpoliovirus vom Typ 2 verantwortlich, in der Fachsprache cVDPV von „circulating vaccine derived poliovirus“. Die WHO hält für Ausbrüche mit diesem Impfvirus einen oralen Impfstoff bereit, der nur gegen Typ-2-Viren wirksam ist. Er kommt jetzt auch in Gaza zum Einsatz. Über 1,6 Millionen Dosen von nOPV2 (novel oral polio vaccine type 2), der die Übertragung des Impfvirus cVDPV2 stoppen soll, werden in den Gazastreifen geliefert.

Hoffnung auf einen Waffenstillstand

Die Ausbreitung der Polioviren ist nur eine von vielen Gesundheitsgefahren, mit denen die Kinder in der Region fertig werden müssen. Sie leiden unter Durchfall und Infektionen der Atemwege. Auch Fälle von Hepatitis-A sowie Hautkrankheiten treten auf. „Der beste Impfstoff für diese Kinder ist letztlich der Frieden“, sagt Tedros Adhanom Ghebreyesus. Er hofft, dass auf die Kampfpausen ein andauernder Waffenstillstand folgt.

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