Post aus Tel Aviv: Über das Aushalten von Gleichzeitigkeit im Krieg nach dem 7. Oktober
Jeden zweiten Mittwoch erzählen unsere Korrespondent*innen, was sie und die Menschen in ihrem Teil der Welt bewegt. Heute: Weltreporter-Korrespondentin Agnes Fazekas über den Alltag mit Kindern nach dem 7. Oktober in Israel.
Liebe Leserin, lieber Leser,
direkt nach dem Hamas-Überfall am 7. Oktober bekam ich mehrere Anfragen, über die Stimmung in Tel Aviv zu schreiben. Ich sagte alles ab. Wegen der Raketen aus Gaza war unsere Kita geschlossen, es gab keinen Schutzraum. Ehrlich gesagt: Ich war froh um die Ausrede.
In zehn Jahren Tel Aviv habe ich einige Gaza-Kriege erlebt, dieser Krieg ist nicht nur anders, weil er endgültig alle Hoffnung vernichtet – es ist auch der erste Krieg, den ich als Mutter erlebe. Meine Tochter ist gerade zwei geworden, mein Sohn wird bald eins. Ich bin nicht mehr die unbefangene Journalistin, die vom Strand von Tel Aviv ins Westjordanland fährt, um Reportagen über das Leben unter der israelischen Besatzung zu schreiben. Ich habe Kinder mit israelischen Pässen – und wie mir in Anbetracht der politischen Stimmung rund um den Globus immer bewusster wird: mit hebräischen Namen.
Am 7. Oktober wachen wir im Haus meiner Schwiegereltern auf, in Rosh HaNikra, einem Kibbutz gleich an der Grenze zum Libanon. Meine kleinen Nichten fragen, ob wir wirklich zurück nach Tel Aviv wollen. Zu den „Bomben“. So stellen sie sich das vor. Im Fernseher stückelt sich fast live das grausame Ausmaß des Hamas-Angriffs zusammen.
Im Zug nach Tel Aviv lesen wir, dass wir gerade die neue Pufferzone zum Libanon verlassen haben. Mehr als die Raketen aus Gaza fürchtet Israel das Arsenal der Hisbollah. Die Familie meines Freundes, mit insgesamt acht Kindern, zieht seitdem von einer Unterkunft zur nächsten. „Sind wir jetzt Geflüchtete?“, fragt meine Schwiegermutter. „Naaa, allerhöchstens Evakuierte“, antwortet mein Freund.
„Notfalls plündern wir einen Supermarkt“
Er findet es auch übertrieben, Proviant anzuschaffen, wie das Heimatfront-Kommando empfiehlt. „Wir wohnen mitten in der Stadt, notfalls plündern wir einen Supermarkt.“ Ich weiß, was er denkt: 'Wie halte ich diese Sicherheitsverwöhnte, von Hormonen umnebelte Deutsche bei Vernunft?' Es hilft nicht wirklich, dass er seine früheste Kindheitserinnerung teilt: Die Erleichterung wieder ins Tageslicht zu steigen, nachdem sie im Ersten Libanonkrieg mehrere Nächte im Bunker verbrachten.
Zur Beruhigung kaufe ich wenigstens eine Dose Milchpulver – obwohl ich voll stille. Bei den nächtlichen Sessions mit meinem Sohn wechsle ich zwischen dem Ha’aretz-Liveticker und Instagram hin und her. Den Telegram-Kanal, über den die Hamas ihre Gräueltaten streut, öffne ich nicht. Aber den Bildern ist nicht zu entkommen. Viele sind fake, aber sie erzielen ihre Wirkung. Das Video von Kleinkindern in einem Hühner-Käfig geistert mir noch Tage durch den Kopf.
Wie alle in Israel kennen wir über maximal drei Ecken Opfer des Angriffs. Die beste Freundin meines Freundes ist bei jedem Protest gegen Netanyahu und für die Freilassung der Geiseln dabei. Sie spüre „Überlebensschuld“, sagt sie. Ihre Freundin Carmel, eine Yoga-Lehrerin, wurde bei einem Familienbesuch im Kibbutz Be’eri entführt. Wir gehen nicht protestieren, wir sind sehr müde Eltern.
Unsere Tochter braucht Auslauf, aber die Spielplätze in unserer Nachbarschaft in Jaffa sind verwaist. Eine Freundin schickt mir ein Foto. Sie sitzt mit ihrem Sohn in einer Militärmaschine nach Berlin. „Sorry“, schreibt sie. Sie ist die letzte aus meiner deutschen Mutterclique, die davonfliegt. Ich stecke meine Tochter in den Fahrradsitz und radle durch eine postapokalyptische Stadt auf der Suche nach Kindern. Bald kenne ich die besten Schutzräume auf unseren Wegen, meist sind es Treppenhäuser, in die sich alle drängen. Die Vorsichtigeren bleiben noch zehn Minuten nach dem Wummern der Abwehrraketen. Ein Bekannter postet auf Instagram ein Stückchen Rakete, das beim Fahrradfahren neben ihm heruntergefallen ist. Einmal laufe ich zwei Sicherheitsleuten in eine Villa nach. Überrumpelt tragen sie meine Tochter in einen schicken Salon. Alle schweigen. Erst als wir wieder draußen sind, stelle ich fest, dass wir in der Residenz des französischen Botschafters saßen.
In unserem Haus gibt es keinen Schutzraum, dafür lernt man im Treppenhaus endlich die Nachbarn kennen. Für meine Tochter sind die abendlichen Pyjama-Partys ein Event, die Sirenen scheinen sie kaum zu stören. Der Baby-Sohn schläft sowieso oft weiter. Nur ich liege wach, lausche auf den Atem der Kinder drinnen, auf das Dröhnen der Helikopter und Flugzeuge draußen. Versuche mir vorzustellen, wie sich die Mütter in Gaza fühlen, wo der Krieg nicht nur die Abendroutine durcheinanderbringt.
Deutsche Bekannte schicken besorgte Nachrichten, oder wollen wissen, wie ich „als Expertin“ diesen Krieg beenden würde. In einem Podcast höre ich den Begriff „Ambiguitätstoleranz“ – die Fähigkeit auszuhalten, dass verschiedene Realitäten nebeneinander existieren. Gerade passiert so vieles gleichzeitig, da draußen, und auch in meinem Kopf. Ja, es ist schwer auszuhalten. Und es wäre so schön einfach, sich wie im Fußballstadion nur für die richtige Fan-Kurve entscheiden zu müssen. Ich mache Screenshots von Instagram-Storys meiner Bekannten auf israelischer und palästinensischer Seite, und stelle fest: So unähnlich sind sie sich gar nicht. Alle glauben, von der Welt vergessen zu werden.
Nach ein paar Wochen merke ich, wie sich eine Art Glocke über unsere kleine Familie senkt. Statt den Ha’aretz-Liveticker zu aktualisieren, stöbere ich auf einer deutschen Secondhand-Seite nach Kinderklamotten und schicke sie zu meinen Eltern nach München. Mein Freund guckt in jeder freien Minute Youtube-Videos über Outdoor-Nerds, die sich in der Wildnis Iglus und Baumhäuser bauen. Wir nutzen beide keine Alarm-App. Einmal sitzen wir in der Dämmerung im Auto und sehen die leuchtenden Schweife von Dutzenden Raketen wie Kometen stumm am Himmel über uns verglühen. Dann erst fällt uns auf, dass die Musik im Auto alles übertönt.
Als es ein paar Tage lang heftig regnet, sage ich zu meinem Freund: „Wie schrecklich es in Gaza sein muss…“ „Für die Soldaten meinst du…“ Wir reden beide nicht weiter. Überhaupt bleibt viel unausgesprochen. Gaza liegt nur 70 Kilometer weiter südlich, den Strand entlang. Aber es rückt immer weiter in die Ferne.
Filz-Moses zu Pessach und Schafe zum Opferfest
Endlich hat unsere Kita einen eigenen Schutzraum gebaut. Die Erzieherinnen filmen einen Probealarm: Die Kinder tapsen wie Entlein hinter ihnen her. Es ist eine der wenigen jüdisch-arabischen Kitas in Tel Aviv. Zu Pessach filzen die Erzieherinnen kleine Moses-Babys im Schilfbett, zum islamischen Opferfest wuschelige Schafe. Die vielen Ferien bringen uns Eltern zur Verzweiflung, aber natürlich wärmt es das Herz und war nie wichtiger, dass arabische und jüdische Kinder gemeinsam in beiden Sprachen singen, ihre Eltern miteinander sprechen. Ich hoffe, dass es sich im Unterbewusstsein meiner Tochter verankern wird.
Nur einmal hänge ich noch die ganze Nacht am Live-Ticker: Als wir auf die Raketen und Drohnen aus dem Iran warten. Besser gesagt: Ich warte. Mein Freund und die Kinder schlafen. Ich verfolge beinahe in Echtzeit auf der Karte, durch welche Länder die Raketen gerade fliegen, einige Modelle langsamer, andere schneller. Israel ist winzig klein auf der Karte. Endlich am frühen Morgen krachen die Abwehrraketen, wir hören nicht mal einen Alarm im Süden der Stadt. Am nächsten Tag herrscht Leichtigkeit auf den Straßen. Ich treffe eine Mutter auf unserem Lieblings-Spielplatz. Auch sie war wach. „Kickt immer noch das Adrenalin, oder sind wir jetzt endgültig abgestumpft?“, fragt sie. Der Spielplatz liegt übrigens auf der Aza Street, der „Gaza-Straße“.
Der Krieg geht jetzt in den neunten Monat. Carmel, die Yoga-Lehrerin, ist immer noch in Gaza – wenn sie denn noch lebt. Ich radle nun mit zwei Kindern auf dem Fahrrad durch die Stadt. Zum Kindersingen, in die Bücherei, an den Strand. Das Leben geht weiter in Tel Aviv, mit angehaltenem Atem, wie ich an mir selbst merke, wenn ich erst an den Ampeln nach Luft schnappe. Rings um den Brunnen am Dizengoff Square haben die Angehörigen der Geiseln und Vermissten Fotos aufgestellt, Blumen und kleine Nachrichten liegen da. Viele der Gesichter sind mir inzwischen vertraut von den Plakaten und Aufklebern überall in der Stadt. Am neuen „Hostages Square“ vor dem Tel Aviv Museum zählt eine Tafel die Stunden seit dem 7. Oktober. Auf den Gehsteigen liegen riesige Teddybären mit Brandspuren und Blutflecken. Meine Tochter freut sich jedes Mal. „Od haBär!“ „Noch ein Bär!“, sagt sie in einem Mix aus Deutsch und Hebräisch.
Ich bin froh, dass ich noch ein paar Jahre Zeit habe, bis ich den beiden das alles erklären muss.