Mit der Rotbuche durch das Jahr
Wie ergeht es der „Mutter des Waldes“ im Jahreslauf?
Einst besiedelte sie 80 % der deutschen Urwälder, heute wächst die Rotbuche (Fagus sylvatica) auf einer Fläche von 1,6 Millionen Hektar, das sind ungefähr 15 % der gesamten deutschen Waldfläche. Doch auch der „Mutter des Waldes“, wie die Buche wegen ihrer Wuchskraft genannt wird, macht das trockene, heiße Klima der vergangenen Sommer zu schaffen. Der Baum kann zwar auf fast allen Bodentypen wachsen, aber die Wasserverhältnisse müssen stimmen.
Ein Gang durch das Jahr mit Deutschlands häufigstem (und schönstem) Laubbaum, der bis zu 45 Meter hoch und bis 400 Jahre alt werden kann.
HERBST
Je nach Standort leuchten sie noch gelb oder rot-orange, aber bei einigen Rotbuchen liegt die Blätterpracht jetzt Ende November auch schon am Boden. Wenn die Nächte länger und kühler werden, bereitet sich der Baum auf die winterliche Ruhepause vor. Anders als im Sommer, wenn die Blätter wegen Hitze und Dürre verloren gehen, startet der Baum im Herbst ein Recyclingprogramm. Bevor die Blätter fallen, werden darin enthaltene wichtige Nährstoffe (etwa Stickstoff und Magnesium) „gerettet“ und in das Speichergewebe des Baumes, in Stamm und Wurzel abtransportiert.
Winzige molekulare Scheren in den Blättern zerlegen nach und nach den Sonnenfängerfarbstoff Chlorophyll. Die Energie für die Demontage des Photosynthese-Apparates liefert zuerst noch die Photosynthese selbst. Wenn die Umwandlung von Licht und CO₂ in Zucker und Sauerstoff im Blatt zum Erliegen kommt, verheizen die kleinen Kraftwerke in den Blattzellen, die Mitochondrien, die Kohlenhydrate des Blattes für die Energiegewinnung. Das Grün verabschiedet sich bis zum nächsten Frühling. Gelb-orange Farbstoffe, die Carotinoide, haben nun ihren Auftritt, beleuchten die dunklen Herbsttage mit einem besonderen Schein.
Ist der Startschuss für den Blattabwurf Anfang bis Mitte Oktober erst einmal gefallen, geht alles seinen Gang, auch wenn die folgenden Tage überdurchschnittlich sonnig und warm sein sollten. Pflanzenhormone wie die Abscisinsäure sorgen dafür, dass sich Cellulasen und Pektinasen im so genannten Trennungsgewebe am Blattstiel ansammeln. Diese Enzyme bauen nach und nach Zellwände oder auch komplette Zellen ab. Das Blatt kann schließlich fallen, ohne bleibendes Pflanzengewebe zu verletzen.
Bevor die Blätter fallen, hat sich die Buche von ihren Früchten getrennt. Der Baum blüht und fruchtet erst in fortgeschrittenem Alter. Laut Peter Wohlleben („Das geheime Leben der Bäume“) tritt die Geschlechtsreife bei den Rotbuchen erst ab einem Alter von 80 bis 150 Jahren ein. Doch auch dann blüht der Baum nicht in jedem Jahr. Blüte und Frucht entstehen vielmehr in Abständen von bis zu sechs Jahren. Der Klimawandel scheint die Buchen zu häufigerem Blühen und Fruchten anzutreiben. In der letzten Zeit sind die Mastjahre in immer kürzeren Abständen aufgetreten.
In einem „Mastjahr“ liegen schon einmal über 30.000 Bucheckern unter einem Baum. Nicht jede davon enthält die dreikantigen, rotbraunen Samen. Manche der am Boden liegenden stacheligen Fruchtbecher sind leer. Dennoch kommen bei der professionellen Bucheckernernte in guten Jahren 15 Kilogramm Saatgut pro Baum zusammen. Kein Wunder, dass der Baum bei soviel Investition in den Nachwuchs in diesen Jahren weniger und kleinere Blätter hervorbringt.
Bei einer maximalen Lebenserwartung von 400 Jahren, so rechnet Peter Wohlleben vor, könne ein Baum also höchstens 60 mal Bucheckern produzieren und damit rein theoretisch 1,8-millionenfach Buchennachwuchs in die Welt setzen. Aber es gibt große Verluste:
Eichelhäher, Eichhörnchen und Gelbhalsmäuse machen sich schon über die ölhaltigen Samen her, wenn die Bucheckern noch am Baum hängen. Zusammen mit Reh, Rothirsch und Wildschwein, die die heruntergefallenen Früchte fressen, verschwinden schon einmal bis zu zwei Drittel der Bucheckern in den tierischen Mägen. Für den Menschen sind die energiehaltigen kleinen Nüsse leicht giftig. Sie enthalten chemische Abkömmlinge der Blausäure und die Substanz „Fagin“, die schon in kleinen Mengen Magen-Darmbeschwerden auslösen können. Essbar werden die Früchte durch Erhitzen, Braten oder Rösten.
WINTER
Von den rund 3,04 Billionen Bäume weltweit, gleicht keiner dem anderen. Jedes Exemplar – ob es nun derselben Art angehört oder auch nicht – ist einzigartig. Die Gestalt jedes Baumes ist das Resultat aus genetischem Bauplan, Nährstoff- und Wasserversorgung, Lichteinfall und einer Fülle anderer Faktoren. Besonders im Winter lässt sich die individuelle Schönheit von Laubbäumen erkennen. Die Blätter sind nicht mehr am Baum, sondern liegen als wärmendes Kissen auf dem Boden und schützen die Wurzeln.
Betagte Rotbuchen sind im Winter eine Pracht. Stark und würdevoll stehen die glatten silbergrauen Stämme da und strecken die Äste in den kalten Winterhimmel. Der Wasser- und Nährstofftransfer durch das Gefäßsystem im Stamm ist eingeschlafen. Nicht alles am Baum ruht den ganzen Winter über. Wenn Temperatur und Feuchtigkeit es zulassen, kann beispielsweise das feine Wurzelwerk, das die Bäume mit Nährstoffen versorgt, auch in dieser Jahreszeit wachsen.
Die Borke mit eingeschlossenen Luftpolstern isoliert die inneren Gewebe des Baumes, die auch im Winter (wenig) Wasser enthalten. Insgesamt hat der Baum als Vorbereitung auf die unwirtliche Jahreszeit seinen Wassergehalt verringert, Zucker und Eiweiße als Frostschutzmittel eingelagert. Sollte eines der hundert bis zehntausend kleinen, röhrenförmigen Transportgefäße doch einmal einfrieren, geht es davon nicht unbedingt gleich kaputt. Das Holz ist in gewissem Umfang dehnbar. Sollte es dennoch einmal platzen, schadet auch das dem Baum meist nicht so sehr. Es gibt ja noch viele andere feine Röhren, durch die Wasser und Nährstoffe im nächsten Frühling wieder fließen können.
Viele, viele Wochen zuvor hat der Baum Blatt- und Blütenanlagen für das nächste Jahr gebildet. Diese Knospen sind den zum Teil harschen Wetterbedingungen scheinbar relativ schutzlos ausgesetzt. Sie enthalten jedoch eine hohe Konzentration an gespeicherten Zuckern. Diese senken zum einen den Gefrierpunkt des Wassers auf unter Null Grad Celsius. Zum anderen sorgen sie für optimale Startvoraussetzungen in den Knospen, wenn im nächsten Jahr das Wachstum beginnt und die Zellen viel Energie benötigen.
Die Knospen brauchen sogar eine gewisse Zeitspanne mit kalten Temperaturen, um wieder auszuschlagen. Temperaturen über 10 Grad Celsius sind dafür nicht geeignet. Im Gegenteil. Ist es im Winter dauerhaft zu warm, sinkt der Baum nur noch tiefer in die Winterruhe, wenn er die erforderliche Kälteperiode zuvor noch nicht durchlebt hat.
FRÜHLING
Die Rotbuche ist im Frühling meist spät dran. Egal ob der Frühling kühl oder warm ist, um Blatt und Blüte auszutreiben braucht sie eine Tageslänge von mindestens 13 Stunden. Ist dieser Moment Ende April, Anfang Mai gekommen, entfalten sich die etwa 600.000 Blätter eines großen Baumes jedoch sehr rasch. Fast zeitgleich erscheinen an den neuen Trieben auch die recht unscheinbaren männlichen und weiblichen Blütenstände. Die männlichen, hängenden Blüten setzen Pollenwolken frei, die der Wind zu den weiblichen Fruchtknoten trägt. Das Samenkorn kann sich nur dann bilden, wenn der männliche Pollenschlauch erfolgreich Kontakt mit dem Inneren der weiblichen Blüte aufgenommen hat.
Manchmal, gerade in höheren Lagen, kommt dem Baum selbst bei diesem späten Startschuss das Wetter in die Quere. So vom 25. auf den 26. April 2016 in den italienischen Abruzzen, als ein schwerer Nachtfrost mit Temperaturen unter Minus 4 Grad Celsius die jungen Blätter von 70 bis 85-jährigen Rotbuchen auf einer Höhe von 1540 Metern komplett zerstörte. Ganze 53 Tage lang blieb der Baumbestand blattlos. Ende Juni schließlich erschien die grüne Pracht ein zweites Mal. Die Photosynthese kam in Gang, jedoch erst zwei Monate später als eigentlich geplant. Die Bäume hatten an ihrer zweiten Garnitur aber keinesfalls gespart. Ihre durchschnittliche Blattfläche lag mit 5,37 Quadratmetern je Quadratmeter sogar noch höher als im vorausgegangenen Jahr (4,79 m2/m2), wie der italienische Forstwissenschaftler Ettore D’Andrea und seine Kollegen ausgerechnet haben.
Für diesen zweiten Austrieb griffen die Bäume auf Energie- und Nährstoffreserven zurück, die sie im Stamm, in den Wurzeln und Ästen eingelagert hatten. Die Vorräte – Zucker, Stärke, Fette – reichen aus, um den Verlust einer Blattkrone durch Frost mindestens einmal, laut mancher Experten sogar bis zu viermal zu ersetzen. Forschungen an Bäumen, die wegen des vor 14 Jahren über dem Atlantik tobenden Hurrikane Wilma entblättert worden waren, zeigen, welch langjährige Vorratshaltung Bäume pflegen. Das nach dem Sturm aussprießende Grün hatten Bäume mit Hilfe von Vorräten produziert, die sie teilweise zuvor bis zu 17 Jahre lang aufbewahrt hatten.
SOMMER
Alle 15 Sekunden ein Glas Wasser, den Tag über 400 Liter, bei großen Bäumen sogar 600 bis 1000 Liter Wasser, so durstig ist eine Rotbuche an einem sonnigen Sommertag. Etwa die Hälfte ihres Durstes löscht die Buche durch Niederschläge, die das aktuelle Jahr gebracht hat. Um die 40 % des benötigten Wassers stammen aus den Vorräten, die der Erdboden als Folge des vorangegangen Herbstes oder Winters abgespeichert hat. Rund 10 % stammen sogar noch von dem Regen, der 12 Monate zuvor oder noch früher auf die Erde rund um den Baum herniederging.
Starke Niederschläge in anderen Jahreszeiten können eine extreme Sommerdürre also einigermaßen abpuffern. Fehlt der Regen dagegen auch im Herbst und Winter, wird es brenzlig. Die Rotbuche reagiert besonders empfindlich auf trockenen Boden. Ist wenig Wasser da, schließt der Baum seine Spaltöffnungen, um die Wasserverdunstung zu minimieren. Das schränkt nicht nur die Photosynthese ein. Auch die Verdunstungskälte an den Blättern fehlt, diese leiden, vertrocknen bei andauernder Dürre und fallen ab.
Wie reagiert die Rotbuche auf die Klimaerwärmung? Rein theoretisch könnte sich durch einen früheren Blattaustrieb und einen späteren Blattfall die Biomasse-Produktion eines Baumes steigern. Tatsächlich gibt es diesen Effekt wohl eher nicht. Denn im Sommer müssen die Bäume Photosynthese und Wachstum zurückschrauben, um überhaupt überleben zu können.
Ein wichtiger unverzichtbarer Helfer für die Rotbuche – auch um Dürrezeiten zu überstehen – sind Pilze. Die Feinwurzeln der Bäume gehen unzählige, enge Verbindungen mit unterirdischen Pilzfäden ein. Dadurch vergrößert sich die Oberfläche, mit der der Baum Wasser und Nährstoffe aufnehmen kann. Als Gegenleistung erhalten die Pilze meist im Spätsommer und Herbst einiges vom Überschuss des hoch oben in den Bäumen produzierten Zuckers. 1766 verschiedene Pilzarten wurden bisher als Begleiter der Buche entdeckt.
Ganz, ganz oben in der Sonnenkrone herrscht ein besonderes Mikroklima. Nachts ist es häufig sehr kühl, tagsüber dagegen extrem heiß bei niedriger Luftfeuchtigkeit, weil die Blätter den ganzen Tag über der Sonne ausgesetzt sind. Die Blätter der Sonnenkrone sind kleiner und derber, als die Buchenblätter der Schattenkrone und des Unterwuchses. Ganz offensichtlich schmecken sie auch den auf die Buche spezialisierten Rüsselkäfern und anderen Insekten nicht so gut.
Stephanie Stiegel von der Universität Hildesheim fand bei ihren Kletterstudien hoch oben in den Rotbuchenwipfeln zumindest weniger Fraßspuren und Insekten als in Bodennähe. Abgesehen vom Blattgeschmack werden aber wohl auch die Vögel dabei eine Rolle spielen. Auf den Blättern der Sonnenkrone sind die Käfer, Läuse und Larven relativ ungeschützt und leichte Beute für gefiederte Baumbesucher.