Braucht Europa ein eigenes Raumschiff?
Bislang starten europäische Astronauten in Russland oder den USA. Aber das bisherige Modell funktioniert bald nicht mehr. Europa könnte sich mit einem eigenen Raumschiff behelfen – oder die astronautische Raumfahrt abschaffen. Ein Interview mit Astronaut Alexander Gerst und ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher.
Es war ein Bilderbuchstart, wieder einmal, als am 3. November 2021 die Crewkapsel Dragon an Bord einer Falcon 9-Rakete von SpaceX abhob. An Bord befand sich neben drei US-Raumfahrern auch der deutscheMatthias Maurer. Die Zahl solcher astronautischen Flüge in den Orbit nimmt derzeit zu, denn neben der Internationalen Raumstation gibt es auch eine neue Raumstation aus China. Dazu kommt ein wachsendes Angebot für touristische Flüge ins All.
In dieser Zeit bekundet auch Europa sein astronautisches Interesse an der menschlichen Exploration neu: Nach über zwölf Jahren schrieb die Europäische Raumfahrtagentur (ESA) im Frühjahr 2021 erstmals wieder neue Stellen für Astronautinnen und Astronauten aus. Die Resonanz war historisch hoch und divers: Unter den 23.307 Bewerbungen waren anfänglich 24 Prozent Frauen und damit deutlich mehr als je zuvor. Mittlerweile hat die ESA die Auswahl auf 1362 Kandidatinnen und Kandidaten reduziert, wobei der Frauenanteil noch einmal deutlich auf 39 Prozent gestiegen ist. Laut ESA gibt es keine Quote. – Die in jedem Schritt immer enger werdende Auswahl erfolge allein auf Basis der persönlichen Eignung. Dazu kommen 29 verbliebene Bewerberinnen und Bewerber für die weltweit ersten Paranauten – Raumfahrer mit einer körperlichen Behinderung. Die Auswahl für „vier bis sechs“ neue Astronautenstellen soll noch bis Herbst 2022 laufen.
In dieser Umbauphase des europäischen Astronautenkorps diskutiert ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher aber bereits den übernächsten Schritt: Auf der Europäischen Weltraumkonferenz im Januar 2022 stellte er den versammelten Vertretern aus Politik und Raumfahrtindustrie in Brüssel die Zukunftsfrage. Denn die astronautische Raumfahrt der ESA steht am Scheideweg. Weltraumreporter Karl Urban sprach auf der Konferenz mit dem ESA-Chef sowie mit seinem Begleiter, dem erfahrenen deutschen ESA-Astronauten Alexander Gerst.
Europa: Noch Partner auf Augenhöhe
Herr Gerst, Sie sind im Dezember 2018 von Ihrer zweiten Mission Horizons auf der ISS zurückgekehrt. Was machen Sie zur Zeit?
Alexander Gerst: Ich trainiere weiterhin, halte mich fit und einsatzbereit für neue Missionen. Dann habe ich noch zwei weitere Jobs, und zwar kümmere ich mich für die Strategieabteilung der ESA um die Zukunft der Raumfahrt. Das ist die längerfristige Strategie für die Zeit nach 2030 im niedrigen Erdorbit, im Rahmen des Terrae Novae-Programms.
Dazu bin ich für das Lunar Gateway der Crew-Repräsentant des europäischen Astronautenkorps. Wir entwickeln ja das Europäische Service Modul ESM und dazu die beiden großen Module ESPRIT und I-HAB für das Gateway. I-HAB ist ein Habitatmodul, in dem auch Wissenschaft stattfinden soll. Ich arbeite dafür eng mit unseren Ingenieurinnen und Ingenieuren zusammen, damit auch eine Crew darin leben kann. Es hilft ungemein, wenn dabei das Feedback von den Astronautinnen und Astronauten mit einfließt.
Die Ziele für die nächsten Jahre sind also abgesteckt: Das Lunar Gateway soll ab 2024 errichtet werden, während die Internationale Raumstation auch aus Europa weiter intensiv genutzt wird. Derzeit ist Ihr Kollege Matthias Maurer an Bord, der den Franzosen Thomas Pesquet abgelöst hat. Im April folgt dann die Italienerin Samantha Cristoforetti. Ende des Jahres könnte der ESA-Ministerrat der Verlängerung der Station bis 2030 zustimmen. Es läuft also eigentlich ganz gut?
Alexander Gerst: Im Moment sind wir Partner auf Augenhöhe. Wir haben in den letzten beiden Jahrzehnten sehr erfolgreich mit unseren internationalen Partnern auf der ISS kooperiert. Wir haben dafür viele Beiträge geleistet, wie den Raumtransporter ATV, das europäische Columbus-Labor und zukünftig das neue Modul für das Lunar Gateway. Wir konnten dadurch die große Schwäche kompensieren, dass wir keine Menschen in den Weltraum schicken können, weil wir kein eigenes Trägersysteme dafür weiterentwickelt haben.
ISS, Gateway – und dann?
Herr Aschbacher, genau diese Frage sprechen Sie gerade gegenüber der Politik offensiv an. Warum braucht Europa aus Ihrer Sicht eine eigene Startgelegenheit für Astronautinnen und Astronauten?
Josef Aschbacher: Wir haben momentan ein Abkommen mit der NASA, um auch weiterhin Astronauten zur ISS zu fliegen sowie drei Astronauten auf das Gateway. Und das ist toll. Aber wenn man in die nächste Dekade schaut, das heißt in die 2030er Jahre, dann stellt sich die große Frage: Wie geht es weiter? Die Internationale Raumstation in der heutigen Form wird es ja dann nicht mehr geben.
Von der NASA ist bereits angekündigt worden, dass dann kommerzielle Firmen Raumstationen oder Dienstleistungen der Raumstation im Erdorbit anbieten sollen. Und die Frage ist: Was macht Europa? Wird Europa dann sozusagen ein Zimmer im Weltraumhotel mieten und seine Experimente durchführen? Wird Europa etwas Eigenständiges machen? All diese Fragen sind Teil der Diskussion, die ich gerade mit Politikern anstoße. Ich habe noch keine Antworten, aber ich will, dass man sich mit diesen Fragen beschäftigt. Das ist meine Pflicht, und das will ich durch meine Aktivitäten erreichen.
Ende der Barter-Verträge
Bisher hat Europa Flüge mit der NASA oder Russland mit eigens entwickelter Hardware bezahlt, mit der die ISS ausgestattet wurde, vereinbart über sogenannte Barter-Verträge. Ist dieses Modell, die astronautische Raumfahrt in Europa zu organisieren, denn schlecht gewesen?
Alexander Gerst: Für die letzten 20 Jahre war es eine sehr gute Strategie. Man muss es einfach sagen: Wir sind als Europäer bei der Raumstation sehr, sehr, sehr gut weggekommen mit unserer Beteiligung von 8,2 Prozent des amerikanisch geführten Teils der Raumstation. Das ist ein kleiner Teil, und wir konnten dennoch viel Sichtbarkeit für die Raumfahrt und auch sehr viele wissenschaftliche Ergebnisse daraus abschöpfen.
Bei der ESA machen wir uns jetzt Sorgen, dass diese Strategie leider nicht geradlinig weiterführt. Dadurch, dass sich die internationale Raumfahrt-Landschaft ändert, müssen wir die Strategie anpassen. Da kommen wir gar nicht umhin. Wir müssen jetzt diese Entscheidung treffen, ob wir zurückfallen wollen oder ob wir vorne mit dabei bleiben. Wenn wir nichts tun, dann fällen wir diese Entscheidung zu Ungunsten von Europa. Das ist eben die neue Situation, auf die wir uns einstellen müssen.
Josef Aschbacher: Die Barter-Verträge sind meiner Meinung nach ein sehr guter Deal für Europa gewesen, weil wir die Technologieentwicklung bei uns behalten, die Industrie in Europa fördern und dafür im Gegenzug Astronautenflüge bekommen. Wenn jetzt aber eine kommerzielle US-Firma eine Raumstation baut, dann wird sie die Station lieber komplett in Amerika bauen. Eine Beteiligung in Form von Hardware aus Europa ist da nicht mehr erwünscht.
Kosten einer europäischen Crewkapsel
Was für Optionen liegen jetzt auf dem Tisch?
Josef Aschbacher: Es geht von der Null- bis zur Maximaloption und alles dazwischen. Diese Diskussion will ich mit den Entscheidungsträgern im nächsten Jahr führen, natürlich in der Hoffnung, dass das zu einem Prozess führt, der dann in eine bestimmte Richtung geht. Heute kann ich Ihnen aber noch nicht sagen, was diese Entscheidung sein wird, aber ich hoffe, dass wir schon bald den Auftrag bekommen, die Fakten zu sammeln und die Optionen auf den Tisch zu legen.
Die Nulloption bestünde darin, die astronautische Raumfahrt aus Europa ganz aufzugeben. Auch dafür gibt es ja Argumente: Raumfahrt hat in unserer Zeit schon viele wichtige Aufgaben zu erfüllen, den Klimawandel mit Satelliten zu beobachten oder sichere Internetverbindungen herzustellen, wie es die Europäische Kommission derzeit mit einer eigenen Megakonstellation plant und in deren Entwicklung auch Mittel der ESA fließen dürften. Müsste man da nicht sagen: Andere Dinge sind wichtiger als der Flug von Astronautinnen und Astronauten?
Josef Aschbacher: Es ist wahr, es ist eine Frage der Prioritäten. Ganz klar gehören Erdbeobachtung, Navigation oder Telekommunikation zum täglichen Bedarf, und die kann man eigentlich nicht anzweifeln. Die brauchen wir absolut. Die andere Frage ist natürlich, wie weit eine eigene Startgelegenheit in Europa wirklich das Budget verändern würde. Denn es wird sicher nicht so sein, dass das nur aus öffentlichen Geldern finanziert wird. Da müsste man sehr starke kommerzielle Partner hinzuziehen.
Eine europäische Raumfahrt ohne Astronauten würde bedeuten, Sie würden zu den letzten Ihrer Art gehören, Herr Gerst. Unvorstellbar?
Alexander Gerst: Man muss die Raumfahrt als Gesamtpaket sehen. Wir können auf der ISS Sensoren testen, bevor wir sie auf teuren komplexen Satelliten installieren. Wir haben zum Beispiel während meiner letzten Missionen den DESIS-Sensor für die Erdbeobachtung auf der ISS installiert. Den kann man auf diese Weise sehr viel günstiger testen und auch noch modifizieren, bevor er später auf einem Satelliten eingesetzt wird.
Deswegen glaube ich auch nicht, dass man einfach die Speerspitze der Raumfahrt abschneiden kann und dann hoffen, dass sich der Rest darunter noch weiterentwickelt. Das geht vielleicht eine Weile lang gut, aber es wird nicht auf Dauer gut gehen. Momentan gehören wir zu einem Club von ambitionierten Nationen, der die astronautische Exploration betreibt. Wenn wir da weiter am Tisch sitzen wollen, dann müssen wir auch auf Augenhöhe agieren und uns weiterhin den Respekt erarbeiten, indem wir eigene Entwicklungen in diese Kooperation mit einbringen. Das haben wir erst kürzlich wieder bei der NASA gesehen. Wir haben in Europa das Servicemodul für das Orion-Raumschiff entwickelt, mit dem Menschen zum Lunar Gateway fliegen werden. Das hätten wir nicht gekonnt, wenn wir uns diesen Respekt nicht jahrelang in der astronautischen Raumfahrt erarbeitet hätten. Das heißt, für die Früchte, die wir jetzt ernten, haben wir lange und hart gearbeitet.
Und wo wir über Investitionen sprechen: Es ist von unabhängigen Wirtschaftsprüfern gezeigt worden, dass jeder Euro, den wir in die astronautische Raumfahrt investieren, um den Faktor zwei in die Gesellschaft zurückfließt. Man müsste also eher fragen: Können wir uns das leisten, nicht in astronautische Raumfahrt zu investieren?
Nutzen astronautischer Raumfahrt
Aber wofür ist astronautische Raumfahrt gut? Das müssen Sie sicher in den nächsten Monaten gegenüber der Gesellschaft und der Politik sehr genau erklären.
Alexander Gerst: Viele Wissenschaftsdisziplinen haben verschiedene Lücken, die man auf der Erde nicht füllen kann. Dafür braucht man Labore in Schwerelosigkeit. Da geht es um neue Materialien, das Verständnis von Pflanzenwachstum, unser Immunsystem oder die Quantenphysik. Wenn wir diese Lücken nicht schließen, dann geht es in der Wissenschaft auf der Erde nicht weiter.
Dazu kommt die internationale Zusammenarbeit, die sich daraus ergibt, dass man mit Partnern auf anderen Kontinenten zusammenarbeitet und dabei so manchen ideologischen Abgrund überbrücken kann. Mein erster Flug war 2014 während der ersten Ukraine-Krise. Wir haben im Erdorbit trotzdem gut zusammenarbeiten können. Damit ist die Raumfahrt auch ein Stabilitätsanker. Sie verhindert vielleicht, dass man wirklich Verbindungen trennt und es dann auf der Erde zu Schlimmerem kommt.
Der letzte und eigentlich wichtigste Grund ist die Inspiration. Das sehe ich jeden Tag, wenn ich mit Schulklassen arbeite. Ich sehe das in den großen Augen der Mädchen und Jungen, wenn ich sage: „Ich bin in den Weltraum geflogen, das könnt ihr schon lange.“ Sie sehen dadurch ganz neue Möglichkeiten und werden dadurch vielleicht inspiriert, wie ich damals auch, Wissenschaftlerin oder Ingenieur zu werden, Pilotin oder Mediziner und dann irgendwann vielleicht sogar Astronautin oder Astronaut.
Ich denke, dass all das nicht zu unterschätzen ist. Deutschland ist eine Technologienation, genauso wie viele europäische Staaten. Wir sind darauf angewiesen, dass wir die junge Generation inspirieren, damit die sich weiterbildet und ein Ziel hat. Und ich glaube, dass wir uns längst nicht nur vom direkten Nutzen der menschlichen Exploration abschneiden würden, wenn wir aus der astronautischen Raumfahrt aussteigen. Wir würden international weit abgehängt werden.
Wie realistisch ist es denn, dass sich die ESA-Mitgliedsstaaten dafür entscheiden, ein eigenes Raumschiff für astronautische Flüge zu entwickeln? Und wäre das überhaupt eine Aufgabe für die ESA – oder für die Europäische Union?
Josef Aschbacher: Wir sind die Weltraumagentur Europas und koordinieren schon heute die technologische Zusammenarbeit zwischen einzelnen Ländern. Um die Optionen zu diskutieren, haben wir Mitte Februar einen Space Summit in Toulouse anberaumt.
Ein gestaffeltes Treffen der Raumfahrt-relevanten Vertreter in der EU-Kommission und des Ministerrats der ESA.
Josef Aschbacher: Genau. Von dort wird es sicher wichtige politische Signale geben. Ich hoffe, dass wir dann vielleicht ein Jahr Zeit haben, um uns mit den verschiedenen Partnern Gedanken zu machen. Alle Länder sind in diesem Prozess wichtig, und ich werde mit jedem Land einzeln diskutieren. Was sind die Vorstellungen? Was sind die Erwartungen? Was sind die Einschränkungen? Und dann müssen wir ein Konzept erarbeiten, das wirklich für alle passt und das dann zum Vorschlag bringen.
Man darf darüber nicht vergessen, dass der Weltraum ein großes Projekt ist. Wir haben das beim Apollo-Programm und der Mondlandung in den 1960er Jahren deutlich gesehen. Die Vereinigten Staaten stünden ohne Mondlandung heute nicht da, wo sie stehen. Genauso erwarte ich einen enormen Einfluss auf die Politik Europas. Aber auch wenn Europa sich entscheidet, nicht mitzumachen, wird das einen Einfluss auf den Kontinent haben. Und all das müssen wir abwägen. Deshalb will ich auch Experten heranziehen, die nichts mit dem Weltraum zu tun haben, sondern sich mit Geschichte oder Wirtschaft befassen, um das Thema wirklich von allen Seiten zu beleuchten.
Herr Aschbacher, Herr Gerst, wir danken für das Gespräch.
Das Interview entstand während zweier Einzelgespräche auf der European Space Conference in Brüssel und wurde zur besseren Lesbarkeit bearbeitet.