Wie die Kunst in die Welt kam
Seit Urzeiten fertigen Menschen Gemälde, Schnitzereien und Schmuck. Lange galt Europa als Ausgangspunkt dieser Kunst. Doch das Bild davon, wann, wo und von wem die ersten Objekte erschaffen wurden, muss jetzt revidiert werden
Felszeichnungen oder symbolische Gravuren auf Knochen gibt es schon viel länger als bislang gedacht, besagen aktuelle Forschungsergebnisse. Und die ältesten gegenständlichen Darstellungen finden sich nicht in Europa, sondern in Indonesien. Es waren auch nicht nur Angehörige des Homo sapiens, die Kunstwerke schufen, sondern genauso die Neandertaler. Rätselhaft bleibt, weshalb Menschen überhaupt derart kreativ wurden. Hatte es religiöse oder ästhetische Gründe – oder waren Künstler einfach „sexy“?
Über lange Zeit bestand in der Paläoanthropologie eine einhellige Meinung darüber, wann Kunst und Kultur in die Welt kamen, wo das geschah und wer ihr Urheber war: Vor ungefähr 40.000 Jahren habe der moderne Homo sapiens in Europa die ersten Höhlengemälde und Schnitzereien geschaffen, hieß es. Rund 35.000 Jahre alt sind etwa die Gemälde in der südfranzösischen Grotte Chauvet-Pont-d’Arc, die unter anderem Nashörner in langer Reihe zeigen. In der Höhle Hohle Fels in der Schwäbischen Alb tauchte eine rund 40.000 Jahre alte, aus dem Knochen eines Gänsegeiers hergestellte Flöte auf. Ebenfalls in der Schwäbischen Alb schnitzten Menschen vor rund 35.000 Jahren aus Elfenbein eine filigrane Mammutfigur und vor 32.000 Jahren schuf jemand die seltsame Figur eines menschlichen Körpers mit einem Löwenkopf – um nur einige Beispiele zu nennen.
Fest steht, dass in dieser Epoche vor 30.000 bis 40.000 Jahren in Europa eine regelrechte Explosion der Kreativität stattfand, in der jede Menge Figuren, Höhlengemälde, Musikinstrumente und Schmuckstücke entstanden. Doch es waren nicht die ersten künstlerischen Darstellungen der Menschheit. Kunstwerke, so zeigen neue Forschungsergebnisse, gibt es bereits viel länger, sie entstanden nicht nur in Europa und sie wurden auch nicht ausschließlich vom Homo sapiens geschaffen.
Über einen sensationellen Fund berichten Forschende im Juli dieses Jahres. Seit 2019 gräbt ein Team unter Leitung des Niedersächsischen Landesamts für Denkmalpflege und der Universität Göttingen in der Einhornhöhle im Harz Hinterlassenschaften von Urmenschen aus. Dabei taucht auch ein zunächst unscheinbar aussehender Fußknochen eines Riesenhirsches auf. Doch nach Säuberung des Knochens vom Erdreich zeigt sich darauf ein winkelartiges Muster aus sechs Kerben – ganz offensichtlich von Menschenhand eingraviert.
Die Neandertaler mussten den Knochen gekocht haben
Experimente des Teams mit Fußknochen heutiger Rinder zeigen, dass der Knochen wohl erst gekocht werden musste, um das Muster mit Steinwerkzeugen in die aufgeweichte Substanz zu ritzen. Erstaunt sind die Forschenden, als sie das Ergebnis einer Datierung des Knochen erfahren, die ein Labor der Universität Kiel mittels der Radiokarbonmethode vornimmt: Er ist mindestens 51.000 Jahre alt, stammt also aus einer Zeit, in der Mitteleuropa noch nicht vom Homo sapiens, sondern ausschließlich vom Neandertaler besiedelt war.
„Das hohe Alter des Neufundes aus der Einhornhöhle zeigt nun, dass der Neandertaler bereits Jahrtausende vor der Ankunft des modernen Menschen in Europa in der Lage war, Muster auf Knochen selbständig herzustellen und wohl auch mit Symbolen zu kommunizieren“, sagt Projektleiter Thomas Terberger.
Der verzierte Riesenhirsch-Knochen ist zwar das älteste bekannte, mit Gravuren versehene Objekt, das den Neandertalern zugeschrieben wird, aber nicht der älteste Beleg für deren künstlerische Aktivitäten. In drei verschiedenen Höhlen im heutigen Spanien datierte ein internationales Forscherteam die Farbpigmente von Malereien mit Hilfe der Uran-Thorium-Methode neu. Die 2018 veröffentlichten Ergebnisse zeigen: Einige der Zeichnungen sind mehr als 64.000 Jahre alt, darunter ein leiterartiges Gebilde und mehrere Umrisse von Händen. Auch diese Werke können nur von Neandertalern geschaffen worden sein.
Damit wird klar: Der Homo neanderthalensis war zum symbolischen Denken fähig, betätigte sich schon früh als Künstler und stand dem europäischen Homo sapiens offenbar in nichts nach. War Europa demnach der Ursprungsort, an dem sich kreatives menschliches Schaffen entwickelte? Auch diese Sicht muss revidiert werden.
Der Sensationsfund in einer Kalksteinhöhle auf Sulawesi
Denn im Januar 2021 berichtet ein Team um den Archäologen Adam Brumm vom Australian Research Centre for Human Evolution der australischen Griffith University von einem mehr als 45.000 Jahre alten Gemälde aus Indonesien. Das Bild wurde in der Kalksteinhöhle Leang Tedongnge auf der indonesischen Insel Sulawesi entdeckt und zeigt ein männliches Celebes-Schwein (Sus celebensis). Das Tier lasse sich anhand charakteristischer, deutlich dargestellter Merkmale eindeutig identifizieren, sagt Brumm. Schon seit Zehntausenden von Jahren hätten die Menschen auf Sulawesi diese Wildschweinart gejagt, erzählt ein indonesischer Archäologe, der an den Forschungen beteiligt ist.
Das erstaunliche Alter der Zeichnungen war für die Forschenden nicht einfach zu ermitteln. Wie sie in ihrer Veröffentlichung im Fachblatt „Science Advances“ beschreiben, gelang ihnen die Bestimmung mithilfe der Uran-Thorium-Datierung an winzigen Kalzit-Kristallen, die sich einst auf den Farbpigmenten abgelagert hatten. Die Farbe des Gemäldes selbst besteht aus rotem Ocker.
Rätselhafte Figuren von Jägern mit Schnauzen, Schnäbeln oder Schwänzen
„Das Gemälde, das wir in der Kalksteinhöhle von Leang Tedongnge gefunden haben, ist das derzeit älteste gegenständliche Kunstwerk der Welt, das wir kennen“, schwärmt Adam Brumm. Und es gibt weitere, etwas jüngere Höhlenbilder auf Sulawesi, die Schweine und Zwergrinder darstellen sowie in einem Fall auch acht Jäger, bewaffnet mit Speeren oder Seilen, von denen einige offenbar Mensch-Tier-Mischwesen sind. Manche der Figuren haben lange Schnauzen, eine einen Schnabel, eine andere zeigt einen Schwanz.
Mit den Gemälden von Sulawesi wird deutlich, dass Europa nicht der erste Ort war, an dem moderne Kunst auftauchte. Jahrtausende vor der europäischen kreativen „Explosion“ schufen Menschen in Indonesien bereits gegenständliche Bilder, die Geschichten erzählten und mythische Mischwesen enthielten – also Kreativität und Vorstellungskraft erforderten.
Für einen kulturellen Austausch waren Europa und Indonesien zu weit entfernt
Wie ist das zu erklären? Die Entfernung zwischen Mitteleuropa und Indonesien ist riesig und so erscheint ein kultureller Austausch über so große Entfernungen unwahrscheinlich. Möglicherweise war die Fähigkeit, sich künstlerisch auszudrücken, bereits in vielen Menschengruppen der Vorzeit angelegt – und brauchte dann sozusagen nur eine Art „Kristallisationskeim“, um sich zu entfalten. Auch die Gemälde der Neandertaler zeigen ja, dass diese Menschen bereits symbolisch denken konnten, auch wenn sie noch keine komplexen gegenständlichen Bilder schufen.
Dass die Menschheit sich bereits viel früher mit Dingen beschäftigte, die über das rein zum Leben Notwendige hinausgingen, zeigen verschiedene Funde aus Afrika, dem Nahen Osten und Spanien.
Schneckengehäuse und Muschelschalen – der Schmuck der Urmenschen
In der Blombos-Höhle im Süden Afrikas finden sich eine einfache Linienzeichnung auf einem 73.000 Jahre alten Stein sowie 75.000 Jahre alte durchbohrte Schneckengehäuse, die die Urmenschen vermutlich als Halskette trugen. Ebenfalls in dieser Höhle entdeckten Forschende Ockerstückchen mit Gravuren darauf, die auf ein Alter von 100.000 Jahre datiert wurden. Eine zeremonielle Bestattung vor 95.000 Jahren konnte im Nahen Osten in der Qafzeh-Höhle nahe dem heutigen Nazareth nachgewiesen werden. Dort hatten die Hinterbliebenen einen Verstorbenen sorgsam in eine Grube gebettet und Teile eines Hirschgeweihs auf dessen Handflächen gelegt. Und auch die Neandertaler waren offenbar Freunde von Schmuck und Farben: In der spanischen Höhle Cueva de los Aviones, an der Küste im Südosten des Landes gelegen, gruben Forschende durchbohrte Muschelschalen, rote und gelbe Farbpigmente und Behälter mit Farbmischungen aus. Das erstaunliche Alter der Objekte: 115.000 Jahre.
Seit mehr als 100.000 Jahren zeigt der Mensch also künstlerische Aktivitäten. Ob sie in einem bestimmten geographischen Gebiet ihren Ausgang nahmen, lässt sich derzeit nicht beantworten. Europa als alleinige Ursprungsregion – wie lange angenommen – kann man aber sicher ausschließen. Vielmehr scheint der Hang zu Schmuck, symbolischen Gravuren oder Felszeichnungen eine schon sehr alte, allgemein menschliche Eigenschaft zu sein. Und sie beschränkte sich nicht auf den Homo sapiens, sondern wurde genauso vom Neandertaler geteilt.
Künstlerinnen oder Künstler?
Ob es vor allem Männer waren, die sich als Künstler betätigten – wie noch häufig als selbstverständlich angenommen – oder genauso Frauen dabei waren, vielleicht sogar dominierten, ist ebenfalls eine ungeklärte Frage. Immerhin veröffentlichten die Archäologen Paul Pettitt von der britischen Durham University und Dean Snow von der Pennsylvania State University in den USA vor ein paar Jahren zu diesem Thema zwei Studien: Die Forscher nutzten dazu Handumrisse, welche Urzeitmenschen einst in Höhlen hinterlassen hatten. Die Umrisse waren zustande gekommen, indem die Künstler Farbpigmente um ihre aufgelegte Handfläche bliesen. Solche Abdrücke hatten die Forscher in etlichen europäischen Höhlen genauestens vermessen. Denn ihnen war bekannt, dass das Verhältnis der Längen von Zeige- und Ringfinger bei Frauen und Männern etwas unterschiedlich ist. So konnten sie die Hände der beteiligten Personen einem Geschlecht zuordnen. Das erstaunliche Ergebnis: Überwiegend Frauen hatten die Handumrisse hinterlassen, in der Untersuchung von Snow waren es sogar 75 Prozent.
Noch grundsätzlicher ist die Frage, was denn die Menschen überhaupt dazu brachte, sich mit Dingen zu beschäftigen, die nichts mit dem alltäglichen Kampf ums Überleben zu tun hatten, sondern eben „L’art pour l’art“ (Kunst als Selbstzweck) waren. Dazu gibt es vor allem Spekulationen. Manchen Forschenden zufolge waren es vor allem religiös-zeremonielle Gründe, die Menschen zu ersten künstlerischen Aktivitäten angeregten. Kunstobjekte könnten zum Beispiel Gottheiten verkörpert, Fruchtbarkeit symbolisiert oder auch als Grabbeigaben gedient haben.
Kunst könnte attraktiv gemacht haben
Zwei weitere Hypothesen erwähnt der US-Forscher David Buss in seinem Buch „Evolutionäre Psychologie“. Der einen nach könnten Künstlerinnen und Künstler durch ihre Aktivitäten die Bewunderung ihrer Mitmenschen errungen haben. Sie gewannen an Status und Attraktivität, hatten auf diese Weise bessere Chancen, Partner zu finden. Der anderen Hypothese zufolge sprechen Kunstwerke spezielle Vorlieben an, die das Gehirn im Verlauf der Evolution entwickelt hat: Bestimmte Formen, Farben und Klänge etwa, die als angenehm empfunden werden. Das Gehirn könnte auch so ausgelegt sein, dass Menschen Gefallen an Wortwitz, Mythen und Geschichten finden. Kunst würde also das ansprechen, was unserem Denkorgan ohnehin sympathisch ist.
Egal aber, aus welchen Gründen die Menschen einst damit begannen kreativ zu werden, eines ist aus heutiger Sicht klar: Künstlerinnen und Künstler bereichern unser Leben, sie lassen uns staunen, lösen Emotionen aus, erzählen Geschichten, bringen Menschen zusammen, machen das Leben bunt, vielfältig und interessant. Ohne die Kunst würde der Menschheit einfach eine entscheidende Facette ihrer selbst fehlen. Und diese Facette hat Wurzeln, die weit mehr als 100.000 Jahre zurück reichen.