Zeitumstellung: Lasst uns nur noch dieses Mal an der Uhr drehen!

Warum die so genannte Sommerzeit Unsinn ist und die Gesellschaft ohne Uhrenumstellung aufgeweckter wäre. Essay für eine neue Zeitkultur.

12 Minuten
Über einem grün bewaldeten Hügel scheint die Sonne durch düstere Wolken hindurch. Das Licht bildet helle Strahlen.

Die so genannte Zeitumstellung wird in absehbarer Zeit abgeschafft. Die Mehrheit der Bevölkerung ist dafür. Umstritten ist jedoch, in welcher Zeitzone wir danach leben wollen: in der so genannten Sommerzeit oder in der Normalzeit. Die Wissenschaft der Chronobiologie beantwortet diese Frage eindeutig.

Es ist der 7. April 1980 in Deutschland. Aufgeschreckt durch die Ölkrise wünscht sich die Regierung einen geringeren gesellschaftlichen Energieverbrauch und gräbt eine Idee aus den letzten beiden Weltkriegen aus. Die Menschen müssen dafür nicht viel tun: Sie sollen einfach eine Stunde früher zur Arbeit, an die Uni oder in die Schule gehen. So würden sie das kostbare abendliche Tageslicht besser ausnutzen.

Heute, 41 Jahre später, verstehen wir nicht, wie die Menschen sich darauf einlassen konnten. Eine ganze Stunde früher aufstehen? Jeden Arbeitstag. Sieben Monate lang bis Ende Oktober? Warum ist niemand auf die Straße gegangen? Warum hat sich niemand geweigert? Vier Fünfteln der Bevölkerung fällt es doch ohnehin schon schwer genug, immer und immer wieder vom Wecker getrieben das Bett zu verlassen. Wer von denen sollte freiwillig noch früher aufstehen?

Die Lösung – warum es bis heute keine gigantische Protestbewegung gegen die so genannte Sommerzeit gibt – verbirgt sich hinter einem Trick, von dem sich viele noch immer täuschen lassen: Wenn jedes Jahr im März das Frühaufstehen beginnt, fordert niemand, die Menschen sollten früher aufstehen. Man sagt ihnen schlicht, sie müssten die Zeit vorstellen – ganz so, als läge es in unserer Macht, die Rotation der Erde zwischenzeitig zu beschleunigen.

Niemand kann die Zeit verstellen

Doch die Zeit kann niemand verstellen – zumindest nicht, ohne quer zum Erdball zu verreisen. Die Uhrenumstellung im Frühjahr wäre tatsächlich sinnvoll, wenn wir allesamt, 83 Millionen an der Zahl, zeitgleich in die Ukraine reisten. Dort geht die Sonne etwa eine Stunde früher auf und wieder unter. Weil unsere Biologie sich daran rasch anpasst, ist es zwingend nötig, auch die Uhren anzupassen. Sie sollten die Zeit anzeigen, die auch für unsere inneren Uhren – unser biologisches System gilt: Es ist die Zeit, bei der die Sonne ihren höchsten Stand ungefähr um 12 Uhr mittags erreicht. Und die bleibt – sofern wir nicht verreisen – das ganze Jahr über gleich, ist unabhängig von der Jahreszeit.

Wenn wir aber – wie jedes Jahr im März – gar nicht verreisen und dennoch die Uhren verstellen – vielleicht weil wir glauben, der Sommer käme dadurch schneller – wechseln wir in Wahrheit in die Zeitzone der Osteuropäischen Normalzeit, leben aber weiterhin in Mitteleuropa. Den resultierenden Mini-Jetlag erleben wir dann nicht nur am vermeintlichen Reisetag, er kommt mit Abstrichen jeden Tag wieder, sieben Monate lang, bis Ende Oktober.

Nehmen wir also an, wir haben sieben Monate nicht bemerkt, dass wir nicht in der Ukraine sind – und wundern uns, warum es uns so schwer fällt, morgens aufzustehen und abends müde zu werden. Nehmen wir an, jetzt endlich begreifen wir unseren Irrtum und stellen die Uhr zurück – was wir ja in der kommenden Nacht tatsächlich tun werden. Dann werden wir nicht nur für ein bis drei Nächte besonders lange und erholsam schlafen, weil uns eine Stunde Schlafenszeit geschenkt wurde. Ein Teil dieses Effekts wird bleiben, er wird den ganzen Winter durch weiter wirken.

Denn wir schlafen von nun an wieder besser im Einklang mit der tatsächlichen, der physikalischen, der äußeren Zeit. In der Regel werden wir etwas leichter und zeitiger einschlafen, und wir werden etwas weniger Probleme haben, morgens aus den Federn zu finden. Der Grund ist simpel: Die Zeit auf unseren Uhren stimmt besser mit der biologischen Zeitmessung in unserem Körper, in unseren 38 Billionen Zellen, überein.

Natürlich wird dieser Effekt in den ersten Wochen am größten sein, und natürlich betrifft er nicht jeden von uns gleichermaßen stark. Menschen leben in sehr unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen und ihre biologischen Uhren ticken verschieden. Aber gesamtgesellschaftlich gesehen werden rund 80 Prozent der Bevölkerung in den kommenden Monaten mehr als sonst schlafen, weil sie wieder in der richtigen Zeitzone leben. Sie werden kreativer, leistungsfähiger und gesünder sein. Die Gesellschaft insgesamt wird dadurch eine Menge Geld sparen.

Schon ab 1916 und 1940 drehten die Deutschen an den Uhren

Denn während wir uns einreden, wir würden die Zeit verstellen, drehen wir tatsächlich nur an den Zeigern der sozialen Zeitmesser. Die Uhren bestimmen, wann wir uns mit anderen treffen, wann Geschäfte schließen und Züge abfahren, wann wir im Büro sein müssen. Darüber, wie wir biologisch ticken, bestimmen sie nur indirekt und in geringem Maße.

Als die Deutschen im Jahr 1916 zum ersten Mal kollektiv die Uhren verstellten, kannten sie die Wissenschaft der biologischen Zeitmessung noch nicht. Und auch in den Jahren 1940 und 1980 beim zweiten und dritten Anlauf, sah man keine Gesundheits-Gefahren. Man sah nur Vorteile für die Wirtschaft: Es würde weniger Energie verbraucht, diese würde günstiger werden.

Dass die Rechnung nicht aufgegangen ist, haben Wissenschaftler*innen längst mehrfach belegt. Hinzu kommen eine Reihe messbarer Nachteile, bis hin zum vermehrten Auftreten von Verkehrsunfällen, Infarkten oder Arbeitsausfällen direkt nach der so genannten Zeitumstellung.

Es gibt wichtigere Probleme – aber kaum eines ist leichter zu lösen

Die Mehrheit der Menschen ist deshalb schon lange gegen die Umstellerei. Die EU-Kommission hat sich bereits vor zwei Jahren für die Abschaffung ausgesprochen. Der EU-Verkehrsausschuss wollte dies schon 2021 erledigen. Doch wichtigere Probleme kamen dazwischen: die Corona-Pandemie, die beginnende Klimakatastrophe. Und natürlich wird niemand bezweifeln, dass diese und viele andere Aufgaben eine größere Bedeutung haben – aber sie sind auch bei weitem nicht so leicht zu lösen.

Würden wir heute beschließen, die Uhren morgen ein letztes Mal zu verstellen, müssten wir nichts weiter tun. Wir sparten in Zukunft sogar Geld. Und wir erreichten viel für die Gesundheit, Kreativität und Leistungsfähigkeit der ganzen Gesellschaft. Sogar die Wirtschaft profitierte.

Die eigentliche Debatte kreist allerdings schon lange nicht mehr um die Uhren-Umstellung selbst. Ihre Abschaffung wird kommen – früher oder später. Gestritten wird darüber, welche Zeitzone danach die richtige für die Menschen ist: Ist es die, in der wir zuletzt im Sommer lebten oder jene, in die wir in der kommenden Nacht zurückkehren, und die aus gutem Grund per Definition Normalzeit genannt wird?

Eine Europakarte, die in mehrere Zeitzonen eingeteilt ist. Die Zeitzonen sind unterschiedlich angefärbt.
Idealisierte Zeitzonen über Europa. Hier steht die Sonne zwischen 11:30 h und 12:30 h am höchsten Punkt ihrer Laufbahn. Die einzelnen Zonen sind unterschiedlich eingefärbt. Frankreich und Spanien gehören eigentlich in die Westeuropäische Zeitzone, WEZ, die auch in Großbritannien gilt. Deutschland ist bis auf das Saarland in der Mitteleuropäischen Zeitzone, MEZ, gut aufgehoben. Perfekt passt die MEZ an der Grenze zwischen Deutschland und Polen. So steht die Sonne in der Stadt Görlitz exakt um 12 Uhr mittags am höchsten. Der äußerste Osten Polens gehört eigentlich in die Osteuropäische Zeitzone, OEZ.

Emotional sprechen sich viele für eine dauerhafte so genannte Sommerzeit aus. Sie genießen es, mehr Freizeit am Tageslicht zu haben, und merken gar nicht, dass sie diese berechtigte, zutiefst menschliche Sehnsucht nach Sonnenlicht nur befriedigen können, weil sie eine Stunde früher aufgestanden sind und Nacht für Nacht ein wenig Schlafenszeit opfern. Die im Jahr 2017 mit dem Nobelpreis gekrönte Wissenschaft von den inneren Uhren – die Chronobiologie – kennt eine bessere Lösung: Wir müssten Abstand nehmen von dem Denken, erst käme die Arbeit und dann das Vergnügen.

Wir brauchen eine neue Zeitkultur

Das führt nämlich dazu, dass wir mehrheitlich den ganzen Tag im Halbdunkel in geschlossenen Räumen verbringen und nur am Abend nach Draußen ans Tageslicht gehen. Unsere Biologie lässt uns deshalb abends zu spät müde werden – und morgens sind wir unausgeschlafen. Das Resultat ist ein Teufelskreis des chronischen Schlafmangels, den die so genannte Sommerzeit zusätzlich verstärkt.

Letztlich brauchen wir eine neue Zeitkultur. Sie hilft uns, ganzjährig in der einzig biologisch und medizinisch sinnvollen Zeitzone zu leben – der Normalzeit – und dennoch genügend Tageslicht zu bekommen.

Wir bedienen uns dafür am besten bei den guten Seiten der Corona-bedingten Home-Office-Erfahrung: Die Arbeitszeiten werden flexibler, damit mehr Menschen schlafen und arbeiten können, wann es für ihre Biologie am besten passt – letztlich also, damit weniger Menschen einen Wecker benötigen. Und wir verlagern mehr Freizeitaktivitäten in die Zeit vor der Arbeit oder der Schule.

Spazieren gehen, Fahrrad fahren, uns mit Freund*innen treffen – all das vormittags und draußen am Tageslicht: Das wäre ein effektives Programm für tieferen, längeren und erholsameren Schlaf. Warum ist es denn so schlimm, wenn wir die Arbeit auch später am Tag erledigen?

Wissenschaftliche Studien belegen, wie wichtig all das ist: Als Russland vier Jahre lang in der ganzjährigen Sommerzeit lebte, stiegen die Stimmungsschwankungen in der Bevölkerung. Andere Studien zeigen, dass Menschen ein erhöhtes Krebsrisiko haben, häufiger an Depressionen leiden und im Durchschnitt früher sterben, je weiter westlich sie in einer Zeitzone leben. Dann ist es doch widersinnig, sich freiwillig eine östlichere Zeitzone auszusuchen und damit – was die Differenz zwischen den sozialen und den biologischen Zeiten betrifft – noch eine Stunde weiter nach Westen zu begeben.

Aufgeweckte Schulkinder

Lassen Sie mich träumen: Wenn wir kommende Nacht zum letzten Mal die Uhren umstellen, und von da an in einer ganzjährigen Normalzeit leben, hilft das der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Und die Minderheit hat keinen Schaden, weil sie freiwillig früher aufstehen kann. Vor allem aber sollten wir es für die Schulkinder tun.

Jugendliche und junge Erwachsene sind chronobiologisch gesehen Eulen oder sogar „Monstereulen“. Das heißt, sie werden abends nicht zeitig müde, selbst wenn ihre Eltern oder Lehrer das unbedingt wollen. Gleichzeitig benötigen sie überdurchschnittlich viel Schlaf, nicht zuletzt, weil sie noch so viel lernen müssen. Wenn die Schule um acht beginnt, ist das für die allermeisten von ihnen ohnehin viel zu früh. Während der so genannten Sommerzeit werden sie biologisch gesehen aber noch eine Stunde früher zum Lernen gezwungen.

Würden wir den Unfug endlich abschaffen, bekämen Jugendliche sieben Monate im Jahr erheblich mehr Schlaf als derzeit. Wir könnten uns freuen auf eine neue, ganz besonders aufgeweckte Generation.

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Dieser Radio-Essay wurde unter dem Titel „Ein letztes Mal an der Uhr drehen? Vom (Un-)Sinn der Zeitumstellung“ am 30. Oktober 2021 in der Reihe „Gedanken zur Zeit“ auf NDR Kultur gesendet.

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