„Im All gibt es noch keine Verkehrsregeln“

Weltraumschrott ist ein drängendes Problem, das durch die neuen Megakonstellationen im Orbit weiter verschärft wird. Ein Gespräch mit dem Verantwortlichen für Weltraumrückstände bei der ESA, Holger Krag.

vom Recherche-Kollektiv Die Weltraumreporter:
10 Minuten
Fotomontage zeigt ein Stop-Schild vor einem Foto von Erde und der aufgehenden, überblendenden Sonne im Orbit

Es war ein Schreckmoment für die Betreiber vieler Satelliten: Am 7. April 2021 warnte das Europäische Zentrum zur Weltraumüberwachung EUSST, dass sich in Kürze zwei Objekte im Orbit sehr nahe kommen würden: der schon vor Jahrzehnten ausgefallene US-Wettersatellit OPS 6182 und eine alte russische Raketenstufe. Beide Objekte sind nicht mehr steuerbar, niemand konnte die Kollision verhindern. Würde sie stattfinden, schätzte das EUSST die Zahl neuer Trümmer auf rund vier Millionen. Und das in einer Bahnhöhe von rund 780 Kilometern, die schon heute als völlig überfüllt gilt. Ein neuer Zusammenstoß wäre ein Supergau, denn Trümmer aus dieser Höhe verglühen, wenn überhaupt, erst nach Jahrhunderten.

Erst Stunden nach der Begegnung zeigten Radarechos, dass Altsatellit und Raketenstufe weiter intakt waren. Vermutlich waren sie sich am Ende zehn Meter nah gekommen. Gemessen daran, dass der Satellit auch herausragende Solarzellen oder Antennen besessen haben dürfte, ein haarscharfer Vorbeiflug, der mittlerweile zum Alltag der Raumfahrt gehört: Seit Jahrzehnten steigt die Zahl von Raketenteilen, alten Satelliten und Bruchstücken, während derzeit so viele Satelliten in die Umlaufbahn gelangen wie nie zuvor in der Raumfahrt.

Über solche und andere Probleme sprachen Ingenieurinnen und Wissenschaftler kürzlich auf der Europäischen Konferenz zu Weltraumschrott, die vom Weltraumkontrollzentrum der ESA in Darmstadt ausgerichtet wurde. Dort leitet Holger Krag seit 2014 das Büro für Weltraumrückstände. Wir haben mit dem Ingenieur über seine Bilanz der Onlinekonferenz mit über 500 Teilnehmenden gesprochen.

Herr Krag, wie steht es um den Weltraumschrott und wer überwacht den eigentlich?

Insgesamt werden 28.900 größere Objekte erfasst, von denen 6.900 Satelliten sind. Allerdings sind nur 4.000 dieser Satelliten aktiv. Diese aktiven und inaktiven Objekte lassen sich sehr gut vom Boden aus erfassen. Das passiert mit Radar und mit passiv optischen Teleskopen. Diese Aufgabe wird immer noch hauptsächlich vom Überwachungssystem des US-Militärs geleistet, wenn auch zunehmend Europäische Netzwerke sowie kommerzielle Dienstleister dazukommen. Auch Teleskope von Forschungsinstituten und andere zivile Systeme spielen eine wichtige Rolle.

Von den 4.000 aktiven Satelliten im Orbit gehört beinahe ein Drittel der Starlink-Konstellation des US-Konzerns SpaceX, die dieser in nur zwei Jahren ins All gebracht hat. Etliche weitere Megakonstellationen sind geplant. Macht Ihnen die schnell wachsende Zahl von Satelliten Sorgen?

Langfristig sorgt uns das schon, weil wir in der Vergangenheit ja nicht besonders gut darin waren, Schrott zu vermeiden. Bislang schaffen es nur 40 bis 50 Prozent der Raumfahrtobjekte ein Manöver durchzuführen, das ein Verglühen in der Erdatmosphäre nach spätestens 25 Jahren garantiert, wie das nicht bindende internationale Richtlinien vorsehen.

Sollte die gleiche Rate auf die großen Konstellationen übertragbar sein, könnte langfristig viel übrig bleiben. Zum Glück wählen momentan einige der Konstellationen eher geringe Bahnhöhen. Starlink hat sich entschlossen, erst einmal nicht oberhalb von 550 Kilometer zu gehen. Fällt einer dieser Satelliten aus, sorgt die Atmosphäre allein dafür, dass er trotzdem nach maximal 25 Jahren verschwindet.

Allerdings sehen wir auch viele Pläne für Konstellationen oberhalb von 1.000 Kilometern. Und das ist problematisch, denn auf dieser Bahnhöhe führt jeder Fehler oder jeder Ausfall eines Systems dazu, dass der Satellit quasi auf Ewigkeit im All bleibt. Die Richtlinien sehen eine Erfolgsrate von 90 Prozent für das eigenständige Entsorgen der Satelliten in diesen Höhen vor, aber davon sind wir ja schon heute weit entfernt. Bei solchen hoch fliegenden Megakonstellationen würden aber auch mit 90 Prozent sauber abgesenkten Satelliten noch viel zu viele übrig bleiben – da bräuchten wir also eigentlich noch einen höheren Anteil der Entsorgung.

Schwarz-Weiß-Portraitaufnahme
Holger Krag leitet seit 2014 das Büro für Weltraumrückstände im Europäischen Weltraumkontrollzentrum (ESOC) in Darmstadt