Entscheidungen im Krankenhaus: Welche Rolle spielt Geld?

Die Dokumentation „Wie viel Geld bringt ein Frühchen?“ beleuchtet, wie die Fallpauschalen medizinische Entscheidungen in der Klinik beeinflussen können

vom Recherche-Kollektiv Plan G:
5 Minuten
Ärztin macht bei einer schwangeren Frau eine Ultraschall-Untersuchung. Patientin liegt auf einer Liege, Ärztin hält den Schallkopf in der Hand.

Hier bei Plan G geht es sehr oft um die Frage, wie es gelingen kann, dass Patient:innen gemeinsam mit dem Behandlungsteam eine gute Entscheidung treffen. Wir nehmen dabei in der Regel die Perspektive der Patient:innen ein, schauen uns Tools an, die bei der Entscheidung helfen und fragen, welche Bedingungen für eine gute, informierte Entscheidung erfüllt sein müssen.

In dem Film, den ich heute hier vorstellen möchte, ist die Perspektive eine andere. Die Dokumentation „Wie viel Geld bringt ein Frühchen?“ zeigt die Bedingungen, unter denen Ärzt:innen und Pflegefachleute im Medizinbetrieb Entscheidungen treffen müssen. Der Film stellt fest: Die Gesundheitsprofis stehen dabei unter enormem ökonomischem Druck. Welche Konsequenzen hat das für die Patient:innen? Und geraten medizinische Gesichtspunkte dadurch wirklich nicht in den Hintergrund, wie Krankenhaus- und Krankenkassen-Chef:innen sowie viele Mediziner:innen selbst immer wieder betonen?

Der Film findet beunruhigende Antworten auf diese Fragen. Am Beispiel von Frühchen- und Intensivstationen erklärt die Autorin, wie sehr die finanziellen Anreize, die im Gesundheitssystem wirken, medizinische Entscheidungen beeinflussen können.

Die Dokumentation läuft am 5. September 2022 um 23.35 Uhr in der ARD und ist danach in der Mediathek des Senders ein Jahr lang abrufbar. Ich konnte die Dokumentation vorab sehen, denn Claudia Ruby, die Autorin, ist eine Riffreporter-Kollegin und hat mir den Film vor der Ausstrahlung zur Verfügung gestellt.

Worum geht’s im Film?

„Frühchen sind äußerst lukrative Patienten.“

Zitat aus dem Film.

Fruehgeborenes Baby liegt in einem Brutkasten, man sieht viele Schläuche. Das Kind trägt ein Mätzchen, in einem blauen Handschuh steckende Hände halten das Kind am Kopf und am Arm fest
Je früher ein Kind zur Welt kommt und je leichter es ist, umso mehr Geld überweist die Krankenkasse der Klinik. Ein gefährlicher Fehlanreiz?

Je weniger ein Frühchen wiegt, desto mehr Geld überweist die Krankenkasse dem Krankenhaus für die Behandlung. Was einerseits nachvollziehbar ist – die Behandlung ist aufwändiger, braucht mehr Personal und Zeit, je unreifer der Säugling ist – sorgt andererseits für einen fatalen Anreiz. Denn im Vergleich zum Aufwand, den es macht, eine Frühgeburt zu verhindern, verdient das Krankenhaus mit einem Frühchen viel Geld. Je nach Geburtsgewicht können es über 100.000 Euro sein. Mit einer Schwangeren, die wochenlang auf einer gynäkologischen Station behandelt wird, um eine drohende Frühgeburt zu verhindern, verdient das Krankenhaus fünfmal weniger.

Kliniken verdienen ihr Geld fast ausschließlich mit der Behandlung von Patient:innen. Damit müssen sie Investitionen querfinanzieren, für die eigentlich die Bundesländer zuständig sind. Aber die überweisen den Krankenhäusern schon seit Jahren zu wenig. Das setzt Kliniken unter einen enormen wirtschaftlichen Druck.

Der Film beleuchtet das Dilemma auch anhand von Patient:innen, die künstlich beatmet werden müssen. Je nach Beatmungsdauer bekommen Krankenhäuser stufenweise Geld. Verlängert sich die Beatmungszeit nach den ersten 24 Stunden nur um eine Stunde, kann das Krankenhaus mehr als doppelte abrechnen. Eine Intensivpflegerin, die anonym bleiben möchte, berichtet, dass es in ihrer Abteilung genaue Anweisungen dafür gebe, wie lange Beatmungen dauern sollen.

Aus medizinischer Sicht ist es sinnvoll, Patient:innen möglichst früh von der künstlichen Beatmung zu entwöhnen. Je früher das gelingt, desto leichter haben sie es, sich wieder an das selbstständige Atmen zu gewöhnen. Doch wie oft kommt es vor, dass Patient:innen länger an der Beatmungsmaschine bleiben, wenn dadurch das Krankenhaus mehr Geld bekommt?

Die sogenannten Fallpauschalen, die vor knapp 20 Jahren eingeführt wurden, sollten eigentlich einen anderen Fehlanreiz bekämpfen: Vorher bekamen Krankenhäuser umso mehr Geld, je länger Patient:innen behandelt wurden. Das sorgte dafür, dass Patient:innen manchmal unnötig lang im Krankenhaus bleiben mussten. Im System der Fallpauschalen spielt nur noch die Diagnose und der damit verbundene festgelegte Aufwand eine Rolle.

Aber die Reform setzt offensichtlich dafür an anderen Stellen neue Fehlanreize: Die Autorin Claudia Ruby hat mit Codierfachkräften gesprochen, also mit Mitarbeiter:innen von Kliniken, die die Abrechnung mit den Krankenkassen organisieren. Sie erklären im Film, mit welchen Änderungen bei der Codierung die Klinik mehr Geld aus einem Behandlungsfall herausholen kann.

Claudia Ruby sagt: „Es war sehr schwer, Ärzt:innen und Pflegefachleute zu finden, die vor der Kamera darüber reden wollten, wie sehr sich der ökonomische Druck auf ihre Entscheidungen auswirkt. Aber alle, mit denen wir bei unserer Recherche gesprochen haben, haben uns gesagt, dass das Abrechnungssystem die Behandlung im Krankenhaus beeinflusst. Oft zum Nachteil der Patient:innen.“

Im Film kommen Ärztinnen und Ärzte zu Wort, die solche Erfahrungen gemacht und zum Teil daraus auch berufliche Konsequenzen gezogen haben

Wie ist der Film gemacht?

Weil das Anreizsystem der Fallpauschalen, mit dem Krankenhäuser ihr Geld verdienen, recht komplex ist, baut der Film die Beweisführung Schritt für Schritt auf. Er zeigt zu Beginn den Alltag auf einer Geburtsstation und stellt von Anfang die Frage, wie die Entscheidungen im Klinikalltag zustande kommen.

Nach und nach erfahren die Zuschauer:innen, welche Faktoren die Ärzt:innen und das Pflegepersonal bei diesen Entscheidungen berücksichtigen müssen und welchen Stellenwert wirtschaftliche Aspekte dabei haben. Der Film erklärt auch die Arbeit der Codierfachkräfte und zeigt Beispiele, aus denen klar wird: Sie müssen versuchen, aus jedem Behandlungsfall den maximal möglichen Erlös herauszuholen. Doch der Film beleuchtet nicht nur die Praxis. Auch ein Gesundheitsökonom kommt zu Wort, der die größeren Zusammenhänge erklärt.

Was das Verständnis der Materie enorm erleichtert: die vielen anschaulichen Grafiken, die das sperrige Zahlenmaterial zugänglicher machen. Situationen, die im Film nicht direkt gezeigt werden können, werden mit Trickfilm nahgezeichnet. So verlieren die Zuschauer:innen nie den roten Faden.

Was im Film etwas zu kurz kommt, ist die Tatsache, dass viele privat geführte Krankenhäuser ihre Einnahmen auch deshalb optimieren, weil sie Gewinne erwirtschaften wollen. Diese Gewinne dienen dann nicht nur dazu, fehlende Investitionszahlungen der Länder auszugleichen, sondern auch dazu, Dividenden an Anleger auszuschütten. Es ist auch eine unternehmerische Entscheidung, ob Gewinne in das Krankenhaus zurückfließen oder finanzielle Interessen bedienen müssen. Für Fehlentwicklungen kann man also nicht allein die Fallpauschalen verantwortlich machen.

Fazit

Ärzt:innen und Pflegefachkräfte wissen mittlerweile ganz gut, welche Entscheidungen ihrem Arbeitgeber mehr Geld einbringen als andere. Das setzt sie unter großen Druck. Wie sehr, kommt im Film gut rüber.

Insofern leistet die Dokumentation wichtige Aufklärungsarbeit, auch für Patient:innen, und bekommt von mir das Prädikat: unbedingt anschauen!

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