Kuhfladen ohne Konkurrenz: Wintermücken mögen es kalt
Die Insekten werden erst aktiv, wenn die Kälte die meisten anderen vertreibt. Das Beste: Diese Mücken stechen nicht.
Ein grauer Wintertag in Bonn. Es ist kalt. Björn Rulik hält einen Kescher aus weißer Gaze in der Hand. Einen halben Meter misst die Öffnung des Fangwerkzeugs. Aufmerksam sucht er die Zweige der Büsche im Garten des Zoologischen Forschungsmuseums Alexander Koenig ab. Er hat es auf Mücken abgesehen, die feuchtes Wetter und Temperaturen um den Gefrierpunkt mögen. „Ein bisschen Frost können die Tierchen schon ab“, sagt der Biologe. Perfekte Bedingungen also.
Trotzdem machen sich die kleinen Viecher rar. Langsam streicht Björn Rulik den Kescher über eine Buchenhecke. Er schaut hinein: „Da haben wir nur Laub gefangen.“
Beim Gestrüpp nebenan hat er Erfolg. Eine der Mücken ist dem hochgewachsenen Mann ins Netz gegangen. Behutsam nimmt er sie zwischen Daumen und Zeigefinger: Eine schmale, feingliedrige, eher dunkle Mücke mit langem Hinterleib, langen dünnen Beinen und kleinem Kopf. „Wir haben hier ein Männchen“, sagt der Experte für Fliegen und Mücken: „Es hat keine langen Hinterleibsanhänge wie die Weibchen, sondern einen kurzen Knubbel.“
Bei allen Trichoceriden – so heißt die Familie der Wintermücken im Fachjargon – ragen die Flügel über den Hinterleib hinaus. Wenn die Tiere herumsitzen, legen sie die Flügel so übereinander, dass die wie ein einziger Flügel aussehen. Auch die Antennen sind bei allen Wintermückenarten lang: Nach hinten geklappt erreichen die Fühler mindestens das hintere Ende des Rumpfs. Der ist massiv und gibt den ansonsten filigranen Tieren etwas von einem American-Football-Spieler mit einem Buckel. Ebenfalls auffällig: Die Adern in den Flügeln sind schwarz. Das hilft den Mücken, das Maximum an Energie aus dem spärlichen Winter-Sonnenlicht herauszuholen. Auch der Körper ist dunkel.
Wer genau hinschaut, erkennt die gelblich-braunen Binden zwischen den Ringen des Hinterleibs. Und wer eine Lupe benutzt, entdeckt vielleicht drei schwarze Punktaugen, sogenannte Ocelli, zwischen den großen Facettenaugen – auch sie sind einmalig für diese Mückenfamilie.
An den Adern in den Flügeln des kleinen Insekts zwischen seinen Fingern erkennt Björn Rulik, dass es zu den Trichocera gehört, einer der beiden in Deutschland heimischen Gattungen: „Die zweite Anal-Ader hier ist eher lang.“ Die Anal-Adern sind die hintersten Adern in den Flügeln der Tiere. Wenn er bestimmen sollte, welche der 15 Wintermückenarten der Familie er da hält, müsste er dem Insekt die Genitalien herausnehmen und sie unter einer starken Lupe betrachten. Äußerlich sind sie sich zu ähnlich.
Viele Menschen denken ja, dass sämtliche Insekten im Winter verschwinden. „Das ist der große Irrglaube“, sagt Björn Rulik. Die Annahme stimme zwar für die meisten Insektengruppen. Mehrere Insektenfamilien – nicht nur die Wintermücken – haben ihr Leben aber gerade in die unwirtlicheren Monate des Jahres verlegt. Dann stehen ihnen zwar wenig Ressourcen zur Verfügung, dafür ist die Konkurrenz aber sehr klein.
„Im Winter gehört ihnen der ganze Haufen“
Bei manchen Wintermückenarten leben die Larven im toten Laub am Boden und fressen Pflanzenreste. Bei anderen sind Exkremente die Kinderstube – das kann Vogelkot sein, aber auch ein Kuhfladen. „Anders als im Sommer gehört ihnen im Winter der gesamte Haufen“, sagt Björn Rulik, „und darin können sie sich entspannt entwickeln.“
Um sogar Frost widerstehen zu können, haben die Wintermücken Schutzmechanismen entwickelt. Die Zellen von Tieren und Pflanzen enthalten Wasser. Wenn es gefriert, bildet es Kristalle und dehnt sich aus. Die Zellen platzen. Um das zu verhindern, haben die Wintermücken natürliche Frostschutzmittel im Körper, die Glyzerin ähneln. Damit überleben sie sogar in Gebirgen bis über 3000 Meter über dem Meeresspiegel.
In der ansonsten mageren Zeit sind die Wintermücken selbst exklusive Snacks für viele Tiere: Sie bereichern den Speiseplan für Vögel; Spitzmäuse stillen ihren Hungersogar bis zu einem Viertel mit Wintermücken und anderen Zweiflüglern. Die kleinen Insektenfresser sind im Winter aktiv und müssen ständig fressen, weil ihr Stoffwechsel so viel Energie verbraucht.
Aber wie machen es die Mücken selbst? Normalerweise trinken ausgewachsene Insekten Nektar, um Energie zum Fliegen zu bekommen. Blüten fehlen ja im Winter – bis auf ganz wenige Ausnahmen. Und dennoch leben die Wintermücken zwei bis drei Wochen lang.
Die erwachsenen Tiere zehren vom „Winterspeck“
Wie sie das schaffen, wissen so ganz genau nicht einmal Insektenforscher wie Björn Rulik. Denn bislang haben sie die Lebensweise der Wintermücken nur selten beobachtet. „Soweit man weiß, nehmen sie als ausgewachsene Mücken allenfalls Flüssigkeit auf“, sagt der Entomologe. Das heißt, die Mücken legen ihre Energievorräte schon als Larven an. Die Reserven müssen reichen, um herumzufliegen, einen Partner zu finden, sich zu paaren und Eier zu legen. Als erwachsene Mücken zehren sie von ihrem „Winterspeck“.
Um Weibchen zu finden, tanzen die Männchen der Wintermücken in Schwärmen in der Sonne. Nach der Paarung legen die Weibchen ihre Eier in die Streuschicht. Dort schlüpfen die Larven.
Wenn im Frühling die Temperaturen steigen, wird es den Tieren schnell zu warm. Dann legen sie ihre Ruhepause ein, fahren ihren Stoffwechsel herunter, liegen einfach in der Streuschicht herum und machen gar nichts. „Sommerschlaf sozusagen.“
Um die Larven wieder zu aktivieren, genügt es offenbar nicht, dass die Temperaturen fallen, sondern die Tiere richten sich auch nach der Tageslänge. Wenn die Bedingungen stimmen, beginnen die Larven wieder zu fressen und zu wachsen. Rechtzeitig im Spätherbst sind sie bereit, sich zu verpuppen. „Die schaffen es trotz der kühlen Temperaturen, all ihre Larvenstadien und die Verpuppung in circa 40 Tagen zu absolvieren“, sagt Björn Rulik. Im frühen Winter schlüpfen die ausgewachsenen Mücken.
Björn Rulik lässt die Wintermücke wieder fliegen. Sie hat es eilig. „Ich hätte gar nicht vermutet, dass sie so flott sein kann“, sagt er beim Hinterherschauen, „ich glaube, sie hatte einfach die Nase voll.“