Wie nachhaltig sollen die Wissenschaften sein?
In einem Interview plädiert Thomas Potthast für eine „nachhaltigere“ Ausrichtung von Forschung und Institutionen: „Freiheit ist auch die Einsicht in gebotene Notwendigkeiten“.
Nachhaltigkeit(sforschung ist in der Wissenschaft noch immer ein Nischenthema, doch mit ihrem inter- und transdisziplinären Anspruch fordert sie das gesamte System heraus. Mit den daraus erwachsenden wissensethischen Fragen befasst sich Prof. Dr. Thomas Potthast. Christiane Schulzki-Haddouti befragte den Philosophen und Biowissenschaftler.
Darf man von Forschenden verlangen, dass sie sich verstärkt mit den großen Herausforderungen der Menschheit wie der Klimakrise und dem Artensterben befassen?
Potthast: Mindestens im Bereich der öffentlich finanzierten Forschung und Lehre ist das eine legitime Erwartung. Das hat übrigens eine tiefe historische Dimension. Seit der frühen Neuzeit stand in der abendländisch-westlichen Tradition die Wissensproduktion auch im Dienste der großen Praxisfragen, zum Beispiel in der Medizin, in Ökonomie und Technologie.
Wie sieht es mit der Freiheit der Wissenschaft aus?
Wenn wir heute über Wissenschaftsfreiheit diskutieren, ist es selbstverständlich, dass diese im Rahmen der grundrechtlichen Ordnung steht und Forschung die Menschenrechte nicht verletzen darf. Zweitens bestehen Prioritätensetzungen in der Grundfinanzierung und Drittmittelförderung, die ganz maßgeblich bestimmen, was überhaupt geforscht werden kann. Beide Aspekte beruhen auf moralischen Grundorientierungen hinsichtlich der Frage, welchen Zielen Wissenschaft genau dienen soll und darf. Erinnert sei an die Auseinandersetzung über Zivilklauseln an Hochschulen.
Und hinsichtlich Nachhaltigkeit und Umweltkrisen? Sollten Forschende ihre Perspektiven verschieben?
Jede und jeder Einzelne muss sich überlegen, bestimmte Gewohnheiten in Frage zu stellen. Etwa für eine zweitägige Konferenz nach New York oder New Delhi zu fliegen: Das war vor der Pandemie der Ausweis für internationale Vernetztheit, sozusagen ein Qualitätsnachweis. Heute denken wir darüber zu Recht ein bisschen anders.
Aber die Mobilität ist ja nur ein kleiner Bereich, in dem Einzelne etwas ändern können …
Das Ethos der Wissenschaft erfordert meines Erachtens folgende Überlegungen: Wofür mache ich etwas? Mit welchen Methoden, zu welchem Zweck? Gibt es andere, dringendere Themen, die ich bearbeiten kann? Freiheit und Verantwortlichkeit schließen sich nicht aus, sondern sind zwei Seiten einer Medaille. Dieses Verständnis zu vermitteln, erfordert nicht nur mit Blick auf Nachhaltigkeitsthemen noch viel Bildungsarbeit, damit wir in der Wissenschaft, aber auch in der Gesellschaft nicht mit falschen Freiheitsbildern operieren: Freiheit ist auch die Einsicht in gebotene Notwendigkeiten.
Also sollte Nachhaltigkeit in allen Disziplinen eine ausgeprägtere Rolle spielen?
Ja, aus den gerade genannten Gründen. Es geht darum, das Thema breit zu verankern. Allerdings lässt sich nützlicher Erkenntnisfortschritt schwer planen. Diese Ungewissheit erfordert erstens, das Portfolio an Methoden und Themen und Disziplinen in der Forschung möglichst breit zu halten. Das heißt aber zweitens auch, dass wir Forschungsansätze im Bereich der transformationsorientierten Nachhaltigkeitswissenschaften stärker fördern, um mehr Optionen hinsichtlich praktischer Relevanz zu eröffnen.
Welche besonderen Anforderungen bringt das mit sich?
Die Forschungsinstitutionen und Hochschulen müssen selbst Reallabore werden, um die Transformation in Richtung nachhaltiger Institutionen zu erproben. Und die Forschung muss insgesamt interdisziplinärer werden und mit Akteuren der Gesellschaft auch transdisziplinär betrieben werden. Letztendlich muss dies auch in veränderte Bewertungskriterien münden. Das müssen wir in der nächsten Zeit in einer breiten Diskussion besprechen. Für die Lehre gilt dies übrigens genauso.
Was bedeutet das für das Reputations- und Fördersystem in der Wissenschaft?
Bislang funktioniert das Belohnungssystem grob gesagt so: Ich muss in möglichst hoch gerankten Zeitschriften und Verlagen publizieren, und ich muss nachweisen, dass ich viele Forschungsgelder akquiriere. Außerdem werden sehr oft rein disziplinäre Exzellenzkriterien angelegt, die das Silodenken befördern und Beiträge zu praktischen Lösungen nicht besonders hoch schätzen. Zur Verantwortung im Wissenschaftssystem gehört es auch zu überlegen, welche Wissensformen, welche Praxis-Interventionen gesellschaftspolitischen Zielsetzungen der nachhaltigen Entwicklung entgegenkommen können.
Welche neuen Kriterien wären sinnvoll?
Die Junge Akademie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina hat angeregt, das jetzige problematische Drittmittel-Fördersystem dringend zu überdenken. In Bezug auf Nachhaltigkeit könnte der Vorschlag weiterführen, ein sogenanntes Extended Peer Review zu etablieren. Wir brauchen also Beratungs- und Beurteilungsinstanzen, in denen nicht nur Wissenschaftler:innen sitzen, sondern auch andere Vertreter:innen der Zivilgesellschaft. Und: Ethische Reflexion hinsichtlich der Verantwortbarkeit und Notwendigkeit bestimmter Forschungsrichtungen mit Bezug auf Nachhaltigkeitsfragen muss notwendiger Teil von wissenschaftlicher Exzellenz werden.
Verschieben sich damit die Bewertungsstrukturen nicht grundlegend?
Es gilt, wie bereits in Teilen der Gesundheits- und Nachhaltigkeitsforschung praktiziert, unterschiedliche Expertisen einzubeziehen, etwa von Patient:innen-Gruppen oder Umwelt-NGOs. Damit kommen die notwendigen Kompetenzen bei der Planung, Durchführung und Evaluation von Forschung besser und problemorientiert zusammen. Diese Umorientierung wird nicht jede Wissenschaft und jede Unterdisziplin gleichermaßen betreffen. Aber es gibt eine große Notwendigkeit, dies mit Bezug auf Nachhaltigkeitsfragen insgesamt auszubauen.
Was bedeutet das für die forschungsethischen Standards?
Grundsätzliche Standards wie Nachvollziehbarkeit, Reproduzierbarkeit und Transparenz müssen nicht reformiert werden, doch vielleicht müssen wir sie mit einem neuen Blick betrachten. Im Entwurf des wissenschaftlichen Ethos von Robert K. Merton Mitte des 20. Jahrhunderts wurde beispielsweise auch klar gesagt: Wissenschaftliche Erkenntnisse sollen der gesamten Menschheit dienen und ihr auch gehören.
Das heißt konkret?
Gemeinwohlorientierung bedeutet für Wissenschaft auch, sich intensiver um Nachhaltigkeitsthemen zu kümmern. Zudem müssen wir auch reden über die Patentierung von wissenschaftlichem Wissen, also über die Frage des geistigen Eigentums. Das betrifft den Bereich der Technik, aber auch das gesamte wissenschaftliche Publikationswesen, weil der ethische Konsens aufgekündigt wurde: Wissen gilt nicht mehr als gemeinsames Eigentum der Menschheit, sondern als privat produziertes Eigentum bestimmter Personen oder Gruppen.
Welches Narrativ bräuchte es, um Nachhaltigkeit in der Wissenschaft besser zu verankern?
Ich würde lieber mit dem Begriff der Botschaft arbeiten. Heute hören wir vielfach: „Follow the science.“ Das ist problematisch verkürzt und wir sollten sagen: „Listen to and talk with scientists.“ In diesem wechselseitigen Austausch geben die Wissenschaften nicht vor, was wir sollen, aber was alles aus guten Gründen zu berücksichtigen ist. Umgekehrt soll auch die Gesellschaft der Wissenschaft nicht vorschreiben, was sie genau zu tun hat. Aber die Wissenschaft selbst muss sich in Richtung Nachhaltigkeit transformieren, so wie alle anderen Bereiche der Gesellschaft. Am Ende sollten wir uns alle auf gute Argumente einlassen, warum wir welche Bereiche der Wissenschaften stärker betonen wollen, ohne die gesamte Breite der Forschung – und Lehre – zu vernachlässigen. Das ist die Herausforderung.
Dieses Interview wurde für das „Magazin Impulse“ der Volkswagenstiftung geführt.