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Weshalb die Wissenschaft auf Elon Musks Twitter-Nachfolgeplattform X bleiben sollte
Bleiben, wo es lärmt und stinkt: Warum die Wissenschaft Elon Musks X nicht verlassen sollte
In konzertierten Aktionen verlassen wissenschaftliche Einrichtungen Elon Musks Social-Media-Plattform X. Missionarische Ausstiegsappelle lassen es als unmoralisch erscheinen, wenn Wissenschaftler:innen einfach weiter twittern. Dabei wäre es gut, wenn möglichst viele genau dies täten. Ein Kommentar.
![Silhouette von Elon Musk, dahinter das hell weiß leuchtende Logo seiner Social-Media-Plattform X](https://riff.media/images/x-twitter-elon-musk-wissenschaft.jpg?w=2000&h=1125&fit=crop-39-65&s=4dfce0342ab447eb16542ef439d06c78&n_w=3840&n_q=75)
Damit kein Missverständnis entsteht: Alles Schlechte, was zuletzt über das Netzwerk X gesagt und geschrieben wurde, trifft zu.
Das einstige Twitter ist größtenteils zu einem schlimmen Moloch verkommen. Viele haben die Plattform geliebt, sie einst gefeiert – man möge sich erinnern! – für ihre demokratiefördernde Rolle im sogenannten „Arabischen Frühling“. Kaum ein Netzwerk konnte derart spielend Grenzen überwinden, Menschen verbinden und gegen alle Wahrscheinlichkeiten auch solche in die direkte Diskussion miteinander bringen, die sich außerhalb von Twitter niemals ausgetauscht hätten.
Die schlechtesten Seiten der Menschen
Das X des Jahres 2025 dagegen ist eine übelriechende Gosse, eine lärmende Hassschleuder, die bestechend zuverlässig die schlechtesten Seiten der Menschen zum Vorschein bringt. Als wäre all dies nicht genug, ist das Netzwerk in den Händen des Milliardärs Elon Musk auch noch das Werkzeug eines Demokratie- und Menschenfeindes. Nichts daran gilt es zu beschönigen.
Musks X steht für Beschimpfungen, Herabwürdigungen, Gewalt, Lügen, rechtsextreme Propaganda, Kreml-Bots und Fake-Anzeigen. Man kann jede und jeden verstehen, die das nicht mehr ertragen wollen. Die unter persönlichen Diffamationen leiden. Die am Zustand der Welt, wie X sie präsentiert, verzweifeln. Die über sich selbst erschrecken, wozu sie sich in der X-typischen Debatten-Unkultur hinreißen lassen. Viele haben die Plattform daher verlassen.
Moralische Appelle für den Abschied von X
Individuell ist jede dieser Entscheidungen nachvollziehbar. Neben ihnen befeuern zunehmend aber auch missionarische Appelle den „X-odus“. Appelle voller moralischer Argumente, die es als ethisch verwerflich stempeln, seinen Account weiter zu bedienen. Keine Minute mehr solle man an diesem „Stammtisch für Sexisten und Nazis“ Platz nehmen, las man vor einigen Monaten in einer Kolumne im österreichischen Standard.
Die Debatte ereilt auch die Wissenschaft. Should I stay or should I go? International sind Universitäten und Forschende uneins. In Deutschland verließen in diesem Januar gut 60 Hochschulen und andere Forschungseinrichtungen diesen Stammtisch. „Der Rückzug ist Folge der fehlenden Vereinbarkeit der aktuellen Ausrichtung der Plattform mit den Grundwerten der beteiligten Institutionen: Weltoffenheit, wissenschaftliche Integrität, Transparenz und demokratischer Diskurs“, begründeten sie ihre konzertierte Aktion. Die algorithmisch gesteuerte Realität auf X mache ein weiteres Nutzen „unvertretbar“.
Bereits zuvor hatte ein Aktionsbündnis Neue Soziale Medien die Hochschulen mit einer Petition aufgefordert, stattdessen zu dem dezentralen Netzwerk Mastodon zu wechseln. „Die Struktur und die Art und Weise, wie das Fediverse als Kommunikationsplattform betrieben wird, entspricht von allen sozialen Medien am besten den Anforderungen der Wissenschaft, “ warb der Bioelektroniker Mario Birkholz im Namen des Bündnisses im Interview mit RiffReporter.
Wissenschaftskommunikation nicht nur in der Wohlfühloase
Genau dieser Gedanke ist es, der ein Störgefühl auslösen sollte.
Denn einerseits ist Wissenschaft tatsächlich so etwas wie der Gegenentwurf zur heutigen Realität auf X. Es geht ihr – idealtypisch betrachtet – um Fakten statt Emotionen, um Quellen und Belege statt Meinung und Verschwörung, um respektvollen Widerspruch in der Sache anstelle von nicht enden wollenden Ad-hominem-Salven.
Wissenschaft ist kein Selbstzweck, sie dient der Gesellschaft. Also muss sie hingehen, wo Publikum ist, wo es laut ist und stinkt – um sich dort, wenn nötig, die Hände schmutzig machen.
Andererseits aber krankt unsere Welt ja nicht an einer zu starken Präsenz wissenschaftlicher Erkenntnisse. Diese beeinflussen nicht zu oft, sondern viel zu selten die politischen und unternehmerischen Entscheidungen. Gerade deshalb sollten sich Wissenschaftskommunikator:innen keine Wohlfühloase suchen, in der die besten Bedingungen für Wissenschaftskommunikation herrschen. Wissenschaft ist kein Selbstzweck, sie dient der Gesellschaft. Also muss sie hingehen, wo Publikum ist, wo es laut ist und stinkt – um sich dort, wenn nötig, die Hände schmutzig machen.
Elfenbeinturm 2.0
Es gibt in der Wissenschaft eine lange Tradition, das Geschäft der Politik und der Laienmedien für „bäh“ zu halten. Wer so denkt, gibt sich damit zufrieden, seine Erkenntnisse in Fachjournalen zu publizieren und auch Fachkongressen vorzutragen, wo nur ähnlich fachlich Bewanderte sie vernehmen und verstehen können – und lehnt sich zurück, weil alles Richtige damit doch gesagt ist.
Zurecht wird Wissenschaftler:innen mit einer solchen Haltung vorgeworfen, sich in einen Elfenbeinturm zurückzuziehen, was nicht im Interesse einer Gesellschaft liegen kann. Zum Glück haben manche Disziplinen, allen voran die Klimaforschung, dies verstanden und beherzigt.
Indem sich Wissenschaftskommunikation nun aber online jenen Ort aussucht, an dem sie die besten Voraussetzungen vorfindet, wiederholt sie ihren Fehler. Der digitale Elfenbeinturm, möge er nun Mastodon heißen oder anders, mag zugänglicher sein als der Turm der Fachjournale und Fachkongresse. Und doch ignoriert der Rückzug dorthin, dass Aufgaben an weniger komfortablen Orten unerledigt bleiben.
Jede und jeder einzelne Wissenschaftler:in darf, aber die Wissenschaft als Ganzes sollte es sich nicht erlauben, Diskursräume den Wissenschaftsfeind:innen zu überlassen. Das gilt auch für X – und es gilt für die Meta-Plattformen Facebook und Instagram, denn weil Meta-Chef Mark Zuckerberg vor Trump längst die Hacken zusammenschlägt, beschränkt sich die Debatte nicht auf Elon Musks Plattform. So sehr es auch schmerzt: Jede vernünftige Stimme auch in diesen Räumen wird gebraucht. Wissenschaftskommunikation ist keine Wellnessbehandlung, sondern Grundlage für gesellschaftlichen Fortschritt und ein wichtiges Korrektiv für Hass und Hoaxes. Die Welt wird schließlich keine bessere, wenn Social-Media-Nutzende auf „ihrer“ Plattform zu einem Stichwort nur noch die Verschwörungen serviert bekommen und nicht auf die Stimmen aus der seriösen Wissenschaft vernehmen können.
„Eine machtpolitische Schräglage“
Es gibt auch dazu ein gewichtiges Gegenargument. Es lautet: Gegen einen Algorithmus – noch dazu einen nach den Interessen eines Elon Musk programmierten – lässt sich nicht anschreiben. „Wenn allerdings eine Seite mehr Reichweite und Unterstützung von einem Account mit 187 Millionen Followern hat, der auch noch vom hauseigenen Algorithmus bevorzugt wird, dann ist das eine machtpolitische Schräglage“, heißt es dazu in der zitierten Standard-Kolumne.
Das ist richtig: Ein Bot bleibt ein Bot, Argumente prallen an ihm ab, einen Troll wird man ebenso wenig überzeugen. Und ein Algorithmus, dem beigebracht wurde, Verschwörungen, Schimpftiraden und Bullshit zu lieben, wird Verschwörungen, Schimpftiraden und Bullshit immer mehr Reichweite zuschanzen als seriösen, faktenbasierten und noch so überzeugenden Inhalten. Es ist ein ungleicher Wettbewerb.
Doch gilt es gar nicht unbedingt, diesen Wettbewerb auf X zu gewinnen – sondern ihn auch dort anzunehmen, um ihn gesamtgesellschaftlich gewinnen zu können. Die Alternative wäre, den Nazis und Sexisten ihren Stammtisch kampflos zu überlassen. Und dabei zuzusehen, wie sich eine Parallelgesellschaft in ihren kruden, oft faktenbefreiten Thesen selbst bestärkt, ohne auch nur den Hauch von Widerspruch zu ernten, so dass sie am Ende glauben muss: Es gibt da nichts mehr außer Ihresgleichen. Ein Käfig, wie Rilke ihn in seinem „Panther“ besang: Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe/ so müd geworden, daß er nichts mehr hält./ Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/ und hinter tausend Stäben keine Welt.
Darf es ein bisschen mehr sein?
Die fatale Logik der Algorithmen – das gilt übrigens auch für andere Plattformen wie TikTok – ist gerade, dass sie more of the same nach oben spülen. Wer sich für ein Thema interessiert, der bekommt mehr Inhalte dazu angezeigt. Wer einer Meinung anhängt, bekommt tendenziell Posts, die ihn darin bestärken – und ihn bloß nicht durch andere Gedanken aus dem Konzept bringen. Wer Verschwörungstheorien verfolgt, der bekommt denn auch lauter Beiträge von Menschen zu lesen, die ihm diese Theorie als erwiesen andienen.
Alles, was diese Spirale stört, jedes hinter den Gitterstäben aufblitzende Bild, das davon zeugt, dass es auch andere Meinungen und Argumente gibt – all dies muss hoch willkommen sein. Es ist der ureigene Gedanke von Wissenschaft.
Nachrichten der Dankbarkeit
Und er funktioniert selbst auf dem X des Jahres 2025. Als Journalist erlebe ich das immer wieder: Wenn eine der persönlichen Nachrichten von Menschen eingeht, die sich dankbar zeigen über eine Information, die sie sonst nicht bekommen hätten, die sie zum Nachdenken gebracht und vielleicht sogar von einem Irrglauben abgebracht hat – solche Nachrichten bilden die Momente, für die es sich lohnt, auf X zu bleiben.
Machen wir uns nichts vor: Man wird damit aus X nicht einfach schnell einen besseren Ort machen. Deshalb ist es richtig, bessere Alternativen zu der Plattform aufzubauen, eine wirksame Regulierung – nicht von Meinungen, sondern von Hass und Hetze – zu etablieren und, weit über Social Media hinaus, die Wissenschaftsfeindlichkeit eines Teils dieser Gesellschaft zu bekämpfen, eine Weiterentwicklung der Demokratie zu unterstützen, damit die Sehnsucht nach autoritären Problemlösern nicht noch weiter wächst.
Es bleibt aber ebenso richtig, wenn Menschen sich entscheiden, einen Diskussionsraum nicht aufzugeben. Das Letzte, was ihnen gerecht wird, ist die moralische Überheblichkeit derer, die für sich einen anderen Schluss gezogen haben und nun die gesamte Wissenschaft zum „X-odus“ bewegen wollen.