Es könnte auch hier passieren

von Maximilian Steinbeis
7 Minuten

Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,

Am Sonntag hält die SPD ihren Bundesparteitag ab, und dann werden wir wissen, ob Deutschland in naher Zukunft damit rechnen kann, wieder eine handlungsfähige Regierung zu bekommen. Einstweilen bleibt nichts als warten und spekulieren, voller Angst und voller Lust, über Minderheitsregierungen, über Neuwahlen, was der Bundespräsident tut, was aus der Sozialdemokratie, was aus Deutschland und was aus Europa wird.

Wenn wir schon mal beim Spekulieren sind: Was wäre eigentlich, wenn in Deutschland eine autoritäre Partei wie die ungarische Fidesz oder die polnische PiS eine Mehrheit bekommt? Was könnte die mit ihrer Macht, ohne Staatsstreich und zumindest nominell im Rahmen der Verfassungsordnung, alles anstellen? Wie weit würde eine solche Partei des autoritären Legalismus, wie Kim Scheppele und Javier Corrales das nennen, in Deutschland und unter dem Grundgesetz kommen?

An dieser Frage habe ich diese Woche herumgegrübelt, weil ich dazu nächste Woche einen Vortrag halten soll. Ich bin zwar – als Schriftsteller – dem kontrafaktischen Spekulieren keineswegs abgeneigt, aber sich in Panik hineinzusteigern, was eine Partei, wenn man sie sich nur schaurig genug ausmalt, dann alles Schauriges anstellen könnte, scheint mir kein sehr lohnender Zeitvertreib zu sein. Trotzdem bin ich beim Nachdenken auf einiges gestoßen, das ich gern zur Diskussion stellen möchte, und zwar in Bezug auf das Bundesverfassungsgericht.

Unterstellt, im Bundestag käme eine Mehrheit zustande, die für das, was sie vorhat, eine allzu strenge Verfassungskontrolle nicht für wünschenswert hält (wer das für undenkbar hält, möge sich nur mal zart an den 23. Juni und den 8. November 2016 erinnern): Was könnte diese Mehrheit ohne offenen Verfassungsbruch alles tun?

Sie könnte versuchen, die Richterbank mit linientreuen Leuten zu füllen und so die Mehrheitsverhältnisse im Gericht verändern, wie in Ungarn und in Polen geschehen. Die Amtszeit der Richter_innen zu verkürzen oder ihre Altersgrenze herunterzusetzen, ist zwar im Prinzip mit einfacher Mehrheit möglich, denn die stehen nicht im Grundgesetz. Aber das würde jedenfalls bei amtierenden Richter_innen zu schweren rechtlichen Konflikten führen, nicht nur weil deren richterliche Unabhängigkeit berührt wäre, sondern weil ihr Amt unter Beteiligung anderer Verfassungsorgane zustande kommt: die Hälfte wurde vom Bundesrat gewählt, und auch die des Bundestags mit Zweidrittelmehrheit, und ernannt hat sie allesamt der Bundespräsident – damit würde also der Bundestag mit einfacher Mehrheit in die Rechte anderer Staatsorgane eingreifen (BVerfGE 40, 356, 366f.) Das ginge also allenfalls bei neu ernannten Richter_innen. Nur für sechs, vier, drei Jahre? Dann aber mit der Möglichkeit der Wiederwahl, auf dass sie sich gut benehmen, wenn sie ihren Job behalten wollen? Verfassungspolitisch natürlich höchst fragwürdig, aber bis 1970 gab es die Wiederwahl ja auch – war das dann damals auch verfassungswidrig?

Das bringt aber noch nicht viel. Bis die Neuen den Betrieb kontrollieren, ist die autoritäre Parlamentsmehrheit womöglich schon wieder abgewählt. Nichts hindert den Bundesgesetzgeber aber daran, einen Haufen neuer Stellen zu schaffen: Vorbild wieder Ungarn. Die Zahl der Richter_innen pro Senat von acht auf zwölf heraufsetzen, wie es vor 1956 eh der Fall war – und zack, kann man auf einen Schlag acht neue Leute wählen (vier davon durch den Bundestag). Noch interessanter: Man könnte auch die Zahl der Senate von zwei auf drei erhöhen. Und die Zuständigkeiten der Senate so regeln, dass dieser neue dritte Senat die Dinge, die man vorhat, zu überprüfen bekommt. Das Gericht klagt doch immer, dass es überlastet ist. Sollen sie doch froh sein.

Man könnte aber auch prozessual dem Gericht die Flügel stutzen. Das Grundgesetz schreibt nur vor, dass das BVerfG über die Vereinbarkeit von Bundesgesetzen mit der Verfassung entscheidet, aber nicht, mit welcher Mehrheit. Warum also nicht eine Zweidrittelmehrheit im Senat verlangen, wenn dieser ein Gesetz als verfassungswidrig kippen will? Dann reichen schon drei Senatsmitglieder, die das anders sehen, und das Gesetz kommt durch. Bei Parteiverboten, Richter- und Präsidentenanklagen ist die Zweidrittelmehrheit eh schon nötig. Oh, das wäre furchtbar autoritär, so etwas zu erwägen? Ich meine mich zu erinnern, dass es CDU-Rechtspolitiker waren, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder mal auf solche Gedanken gekommen waren…

In Anklam ist es auch schön

Andere Dinge braucht man vielleicht gar nicht umzusetzen. So könnte man im Vorfeld einer besonders heiklen Entscheidung laut darüber nachdenken, ob es vielleicht besser wäre, das BVerfG in näheren Kontakt mit der deutschen Wirklichkeit jenseits des behaglichen badischen Oberrheins zu bringen. Anklam in Vorpommern wäre sicher froh, das Bundesverfassungsgericht zu beherbergen. Karlsruhe ist gewohnt und gemütlich, schon klar. Aber den Sitz des Gerichts bestimmt nun mal der Bundesgesetzgeber. Und dass die meisten Mitarbeiter, der ganze Unterbau des Gerichts dann wegfiele und seine Arbeitsfähigkeit empfindlich leiden würde, wie beim russischen Verfassungsgericht nach seinem erzwungenen Umzug nach St. Petersburg 2008 – nun, das ist dann deren Problem.

Könnte das BVerfG der Parlamentsmehrheit bei Änderungen am BVerfG-Gesetz in den Arm fallen? Es würde das sicher versuchen, wenn sich eine Landesregierung oder ein Viertel des Bundestags für einen Normenkontrollantrag findet. Aber in eigener Sache zu urteilen ist immer problematisch. Zumal, wenn es um das eigene Verfahrensrecht geht, und damit um die Frage, ob man über dieses Verfahrensrecht nicht schon auf Grundlage dieses Verfahrensrechts verhandeln müsste. In diese Paradoxie-Schleife hat bekanntlich der polnische Gesetzgeber sein Verfassungsgericht hineinbugsiert, mit den bekannten Folgen.

Der Bundesrat? Änderungen am BVerfG-Gesetz bedürfen keiner Zustimmung der Länderkammer. Sie kann sie durch einen Einspruch allenfalls ein bisschen aufhalten. Wenn im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit dafür stimmt, dann könnte der Einspruch im Bundestag ebenfalls nur mit Zweidrittelmehrheit überwunden werden. Allerdings wäre zu vermuten, dass unsere autoritäre Partei, wenn sie schon im Bund die absolute Mehrheit hat, in den Ländern zumindest eine Sperrminorität von mehr als einem Drittel hinbekäme.

Bleibt der Bundespräsident. Der hat nach Art. 82 Abs. 1 GG Bundesgesetze auszufertigen, die „nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustandegekommen“ sind. Ob das nur ein formelles oder auch ein materielles Prüfungsrecht meint, hat wohl jede Jurastudent_in in irgendeiner Klausur mal durchprüfen müssen. Materielles Prüfungsrecht ja, aber nur bei evidentem Verfassungsverstoß – da lächelt der Korrektor. Man sollte für eine gute Note auch erwähnen, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes aus Weimar gelernt und keinen präsidialen „Hüter der Verfassung“ haben wollten. Kurzum, mit dem Bundespräsidenten wäre zu rechnen, aber es kommt stark auf das Geschick der Gesetzesformulierer an, wie viel er ausrichten kann. Zumal auch nicht ausgeschlossen ist, dass der Bundespräsident ebenfalls von der autoritären Partei gestellt wird. Wieviel Spaß diese im Spiel mit verteilten Rollen zwischen Staatsoberhaupt und Gesetzgeber haben kann, konnte man in Polen sehen.

Der Befund scheint mir also zu sein, dass unser so wehrhaftes Grundgesetz uns vor solchen Spielarten eines zeitgenössischen autoritären Legalismus nicht schützen wird. Auch bei uns wäre der liberale demokratische Verfassungsstaat nicht immun gegen die autoritäre Infizierung und Zombifizierung seiner Institutionen. Wenn eine autoritär-legalistische Partei jemals die Mehrheit bekommt. Was eben nicht passieren darf. Und das liegt an uns allen.

Diener des Staates

Auf dem Verfassungsblog war dies eine der ruhigeren Wochen. In Deutschland war das Top-Thema die Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht zu der Frage, ob beamtete Staatsdiener zu ihren ganzen Privilegien auch noch ein Recht auf Streik hinzubekommen sollen, das sie bis dato qua „hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums“ (Art. 33 Abs. 5 GG) nicht haben. Dies legt nahe, was der Europäische Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg in entsprechenden Fällen in der Türkei für rechtens gehalten hat. Karlsruhe muss sich also erneut überlegen, wie im europäischen Verfassungsgerichtsverbund das überkommene deutsche Verfassungsrecht in die europäische Grundrechtsarchitektur eingefügt werden kann, ohne dass hier wie dort allzu viel kaputt geht. GABRIELE BUCHHOLTZ kommentiert.

Aus Indien berichtet ADEEL HUSSAIN in gewohnt flamboyanter Manier von dem öffentlich mit größter Schärfe ausgetragenen Streit zwischen vier Supreme-Court-Richtern und ihrem Gerichtspräsidenten, dem sie Unfähigkeit und Selbstherrlichkeit vorwerfen, und schlägt dabei den rechtstheoretischen Gedankenbogen bis hin zu Hegel und Savigny.

Unser Online-Symposium zu Erinnerungspolitik und Recht ist in dieser Woche zu Ende gegangen. TOMASZ KONCEWICZ nimmt die Versuche der polnischen Regierung, ihr nationalistisches Narrativ der Geschichte Polens verbindlich zu machen, ins Visier. Und IOANNA TOURKOCHORITI berichtet, wie explosiv es in Griechenland sein kann, bestimmte historische Kapitel der Nationalgeschichte in kritischer Absicht aufzuschlagen. ULADZISLAU BELAVUSAU fasst die Erträge des Symposiums zusammen.

Anderswo

Der JUWISS-Blog des akademischen Öffentlich-Rechtler_innen-Nachwuchses in Deutschland/Österreich/Schweiz feiert fünfjährigen Geburtstag – herzlichen Glückwunsch!

MANUEL MÜLLER schlägt vor, das Problem ungleicher Stimmgewichte bei der Europawahl durch transnationale Listen zu mildern.

JÖRN REINHARDT stellt seinen französischen Lesern das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz und seine Folgen und Probleme vor.

ANGELO SCHILLACI analysiert das jüngste Urteil des Verfassungsgerichts von Italien zur Anfechtung der Vaterschaftsanerkennung im Ausland (auf italienisch).

ANTONIO ARROYO GIL ruft auf, die Katalonien-Krise auf föderalistischem Weg zu lösen (auf spanisch).

MIGUEL ÁNGEL PRESNO LINERA schraubt die Argumentation der spanischen Justiz auseinander, die dem inhaftierten ERC-Politiker und katalanischen Sezessionisten Oriol Junquéras die Teilnahme an den Sitzungen des katalanischen Parlaments verweigert, und sieht eine Art „Feindstrafprozessrecht“ Günther Jakobs’schen Angedenkens am Werk (auf spanisch).

INGRIDA MILKAITE berichtet von einem Kammerurteil des EGMR, wonach die Bezeichnung Vergewaltiger (rapist) in einem polemischen Instagram-Post gegen einen sexistischen Radiomoderator als Tatsachenbehauptung gilt, die sich niemand gefallen lassen muss, der nicht tatsächlich jemand vergewaltigt hat.

PIERRE DE VOS geht aus Anlass von Überlegungen, die entschädigungslose Enteignung von Landbesitz in Südafrika zu legalisieren, der Frage nach, wie die südafrikanische Verfassung geändert werden kann.

LUKE BECK hält für alle Fälle fest, dass die Verfassung von Australien, anders als die britische, als Nachfolger_in von Queen Elizabeth auch einen Muslim, Katholiken oder sonstigen Nicht-Protestanten erlauben würde.

So viel für diesmal. Ihnen eine gute Woche!

Ihr Max Steinbeis

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