Verkehr: Ein Angebot von Männern für Männer

Wer eine nachhaltige Mobilität für alle Menschen will, muss neue Perspektiven einnehmen. Dabei lohnt der Blick durch die weibliche Brille, finden die Mobilitätsexpertinnen Lieke Ypma und Frieda Bellmann

vom Recherche-Kollektiv Busy Streets:
6 Minuten
Auf der fünfspurigen Straße stauen sich die Autos  in beide Richtungen. Sie stehen dicht gedrängt: Stoßstange an Stoßstange

Ist Schneeschippen gut für die Alltagsmobilität von Frauen? Wenn die Rad- und Fußwege zuerst geräumt werden, auf jeden Fall. Was seltsam klingt, kann Schweden inzwischen mit Fakten belegen. Im Rahmen der Untersuchung für mehr Geschlechtergerechtigkeit wurde dort vor Jahren auch der Schneeräumdienst unter die Lupe genommen. Dabei stellte sich heraus: Frauen sind in Schweden deutlich häufiger zu Fuß unterwegs als Männer, die eher den Wagen nehmen. Im Winter bei Schnee und Eis häuften sich die Unfälle von Fußgängern. Sie mussten dreimal so oft im Krankenhaus behandelt werden wie Autofahrer. 70 Prozent der Verletzten waren Frauen. Die Regierung reagierte: Seit 2016 werden in Schweden zuerst die Rad- und Gehwege geräumt – also vor den Autostraßen. Durch diese Entscheidung konnten die Unfallzahlen halbiert werden.

Planer und Politiker gehen davon aus, dass das Straßen-, Bus- und Bahnsystem allen Menschen gleichermaßen zugutekommen. Das Beispiel von Schweden zeigt, dass das nicht stimmt. Wer die Bewegungsmuster von Männern und Frauen genauer untersucht, stellt fest: Frauen sind in der Stadt anders unterwegs als Männer. Sie stellen andere Anforderungen an das Angebot und die Infrastruktur. Wer es Frauen leicht machen will, klimafreundlich unterwegs zu sein, muss also das Angebot prüfen und anpassen.

„Jahrzehntelang haben Männer für Männer den Verkehr geplant“, sagt Lieke Ypma, Ingenieurin und Strategin der Mobilitätsagentur White Octopus, die Unternehmen wie VW, die Deutsche Bahn und verschiedene Immobilienentwickler beraten. Architekten wie Le Corbusier, Robert Moses und Hans Bernhard Reichow haben in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Blaupausen für die autogerechte Stadt entwickelt. Ihre Visionen und Anleitungen zum Bau schicker Straßen passen gut zu den Gewohnheiten von Männern, aber nicht zur Mobilität und den Bedürfnissen von Frauen. Der Blick durch die weibliche Brille sei ein Chance, findet Lieke Ypma.

Porträtaufnahme vor dunklem Hintergrund von Lieke Ypma. Sie trägt ihre blonden, lockigen Haare kurz.
Lieke Ypma ist Ingenieurin und Strategin der Mobilitätsagentur White Octopus in Berlin
Eine breite Kreuzung in Berlin im Spätsommer. Die Sonne scheint. Zwei Frauen schieben Kinder in entgegengesetzter Richtung über die Ampel, eine weitere Frau schiebt ihr Fahrrad über die Kreuzung eine weitere fährt mit dem Rad im Hintergrund über die Kreuzung.
73 Prozent der unbezahlten Familienarbeit weltweit wird von Frauen erledigt. Sie holen ihre Kinder nach der Arbeit aus der Kita ab, gehen auf dem Heimweg einkaufen oder begleiten ältere Verwandte zum Arzt.
Frieda Bellmann hat dunkelbraune Haare, etwas länger als schulterlang. Sie trägt sie offen ohne Pony und blickt in die Kamera
Frieda Bellmann

Sicherheit auf Bahnhöfen: Nachts bleibt nur die Fast-Food-Filiale

Die Frauen berichteten, wie sie sich auf Bahnsteigen zu anderen Wartenden stellen, in das U-Bahnabteil einsteigen, das mit der Fahrerkabine verbunden ist oder die Nähe anderer Frauen und Mitfahrenden suchen, die ihnen vertrauenswürdig erscheinen. Einige der Teilnehmerinnen telefonieren wenn sie unterwegs sind, um den Anschein von Gesellschaft und Kontrolle zu vermitteln. „Die Frauen vermissen vor allem bewachte Warteräume an U- und S-Bahnhaltestellen und Bahnhöfen“, stellt Frieda Bellmann fest.

Die sucht man in Deutschland vergebens. Wer nachts um halb zwölf mit dem Zug aus Berlin am Hamburger Bahnhof strandet, muss bis zu eine Stunde auf seinen Anschlusszug in den Hamburger Südosten oder Südwesten warten. Mit Personal besetzte Warteräume bietet die Deutsche Bahn nur ihren Vielfahrern mit Bahncomfort-Status an oder den Inhabern einer 1. Klasse Fahrkarte. Wer nicht allein auf einem der unbewachten Bahnsteige warten will, muss in eine der Fast-food-Filialen ausweichen.