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80. Jahrestag: der vergessene D-Day, die größte Niederlage der Wehrmacht - und die Ukraine heute
Die sowjetische „Operation Bagration“: der vergessene D-Day vor 80 Jahren und die Ukraine heute
Anfang Juni wurde der alliierten Landung in der Normandie vor 80 Jahren gedacht. Weitgehend vergessen ist, dass die Rote Armee unter ukrainischer Beteiligung der Wehrmacht fast zeitgleich ihre größte Niederlage zufügte und so maßgeblich zum Ende des Zweiten Weltkriegs beitrug. Daran sollte mehr denn je erinnert werden.
Anfang Juni gedachten Staats- und Regierungschefs aus aller Welt, darunter US-Präsident Joe Biden, in der Normandie der Landung der westlichen Alliierten dort vor 80 Jahren. Der D-Day am 6. Juni 1944 markierte den Beginn der „Operation Overlord“, die vielfach für das Ende der NS-Herrschaft in Europa steht. In diesem Jahr sollten die Feierlichkeiten vor allem die Einheit des Westens angesichts einer neuen brutalen Aggression in Europa demonstrieren: dem Krieg Russlands gegen die Ukraine. Symbolträchtiger hätte das D-Day-Gedenken kaum sein können. Und doch erzählt unser Erinnern nicht die ganze Geschichte.
„Die Botschaft von der westlichen Einheit ist richtig und notwendig“, betont die Historikerin Natalya Chernyshova von der Queen Mary University of London in einem aktuellen Beitrag. Doch das oft wiederholte Narrativ der Westalliierten als Retter von Freiheit und Demokratie in Europa vor den Nazis greife zu kurz: „Für unser heutiges Verständnis der Situation ist die Rolle der Sowjetunion von entscheidender Bedeutung - einschließlich der Ukraine.“
Ein Beitrag, der meistens unterschlagen wird: Fast zeitgleich mit dem D-Day in der Normandie fand ab dem 22. Juni 1944 eine sowjetische Großoffensive im Osten und hier vor allem in Weißrussland statt. Diese „Operation Bagration“ war eine der größten Operationen im Zweiten Weltkrieg, auch blutiger und folgenreicher als die alliierte Landung - ist im Westen aber nahezu unbekannt.
Die schwerste Niederlage in der deutschen Militärgeschichte
Dabei war sie militärisch äußerst erfolgreich, gilt als schwerste Niederlage der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, vermutlich in der deutschen Militärgeschichte überhaupt. Manche Historiker gehen sogar so weit zu sagen, dass der Untergang Hitler-Deutschlands eben nicht von den Westalliierten besiegelt, sondern an der Ostfront entschieden wurde. Zugleich wurden hier die Grundlagen für die europäische Nachkriegsordnung und den Ostblock unter sowjetischer Vorherrschaft gelegt. Die Rote Armee wurde vom Opfer zum Eroberer – und marschierte in wenigen Wochen bis zu 600 Kilometer weit nach Westen.
Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatten die Sowjetunion und das Deutsche Reich einen Nichtangriffspakt - den „Hitler-Stalin-Pakt“ - geschlossen, dem weitere Abkommen folgten. Darin wurden Interessensphären abgesteckt, etwa die baltischen Staaten und Polen aufgeteilt. Erst auf dem Papier, dann in der Realität. Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen, dann marschierte die Sowjetunion im Osten des Landes ein und besetzte später auch die baltischen Staaten. Doch schon zwei Jahre später brach das Deutsche Reich alle Vereinbarungen, als es am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel und damit das „Unternehmen Barbarossa“ einleitete.
Die Rote Armee konnte dem zunächst wenig entgegensetzen, errang aber im Jahr 1943 wichtige Siege, unter anderem in Stalingrad. Um den Druck auf die sowjetischen Streitkräfte zu mindern, hatte das Land die westlichen Alliierten schon früh gebeten, eine zweite Front im Westen zu eröffnen. Dies geschah aber erst am D-Day in der Normandie. Rund zwei Wochen später begann die sowjetische „Operation Bagration“ an der deutschen Ostfront: am 22. Juni 1944, dem dritten Jahrestag des „Unternehmens Barbarossa“.
Der Überraschungseffekt war entscheidend
Die Operation bestand aus mehreren erfolgreichen Vorstößen auf die deutsche Front, die sich vom Baltikum bis in die Ukraine erstreckte. Entscheidend war der Angriff auf die weißrussische Hauptstadt Minsk, die zurückerobert werden sollte. Hier stand die „Heeresgruppe Mitte“, ein wichtiger, aber inzwischen stark geschwächter Verband der Wehrmacht, der dem Angriff nicht standhalten konnte. Ein Erfolg, der wesentlich vom Überraschungseffekt abhing. So wurde die Offensive doppelt vorbereitet, um ihre Stoßrichtung zu verschleiern. Einmal zum Schein ganz offen und mit schwerem Gerät im Süden, das gar nicht zum Einsatz kommen sollte. Gleichzeitig wurde das eigentliche Manöver heimlich und nur nachts vorbereitet, um dann von Ost nach West zu verlaufen.
Taktische Fehler auf deutscher Seite taten ein Übriges, so dass der Angriff die Wehrmacht fast unvorbereitet traf. Hitler selbst gab aus Berlin die Befehle, die aber zu spät kamen, die Lage vor Ort falsch einschätzten und eine adäquate Verteidigung unmöglich machten. Die deutschen Streitkräfte verloren fast 400.000 Mann, die starben oder gefangen genommen wurden. Die Rote Armee, die im Übrigen – wie die russische Armee heute – ihre Reihen mit Mördern und anderen Straftätern aus den Gefängnissen auffüllte, zahlte auch einen hohen Preis. „Die Rote Armee erkaufte ihren Sieg mit etwa doppelt so vielen Verlusten teuer“, schreibt Chris Helmecke, Historiker und Oberstleutnant der Bundeswehr, in einem aktuellen Beitrag. „Im Sommer 1944 wurde damit im Osten in ganz anderen Dimensionen gestorben als in der Normandie.“
Der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg hatte nach Ansicht des Militärhistorikers Christian Hartmann („Unternehmen Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941–1945“) viele Wurzeln: „Aber richtig ist auch, dass die Sowjetunion einen sehr großen, wenn nicht sogar den größten Anteil an diesem Sieg hatte.“ Auch dank Bagration, „die mit Abstand schwerste Niederlage der Wehrmacht, so verlustreich, dass sie lange Zeit, etwa im Vergleich zur Schlacht von Stalingrad, fast schon in Vergessenheit geriet. Die Zahl derer, die davon noch erzählen konnten, war stark geschrumpft, zumindest in Deutschland.“
Gewalt ohne Ende
Historische Vergleiche sind immer schwierig. Dennoch gibt es einige Parallelen zum heutigen russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Es wird oft gesagt, dass diese Aggression die ukrainische Nation zusammengeschweißt habe. Möglicherweise haben auch die sowjetischen Streitkräfte angesichts des deutschen Aggressors letzte Kräfte mobilisieren konnten, weil „die Idee der Verteidigung plausibler scheint als die des Angriffs“, wie Hartmann vermutet. Nur eine Minderheit habe zur Kollaboration mit dem Feind geneigt: „Alle anderen aber kämpften um ihre bloße Existenz und auch für ihre Freiheit, selbst wenn das unter der Herrschaft Stalins ein sehr relativer Begriff blieb.“
Doch das sollte sich ändern. Die Rote Armee marschierte nach Westen und stieß auf Gebiete, die bereits 1939 von der Sowjetunion besetzt worden waren. Auch wegen dieser Erfahrung trauten nicht alle Menschen in Teilen Weißrusslands, den baltischen Ländern und vor allem in der Westukraine den vermeintlichen Befreiern. „Lemberg, das Zentrum des ukrainischen Nationalismus, wollte nie die Autorität Moskaus anerkennen“, schreibt die britische Historikerin Catherine Merridale in ihrem Buch „Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939–1945“. „Die Vorkriegsbotschaft der Nationalisten, dass Großreiche die edle Kultur der Ukraine zu zerschlagen trachteten, schien durch die Ereignisse der letzten Jahre bestätigt.“
Lemberg habe Gewalt ohne Ende erlebt: erst die Sowjets, dann die Wehrmacht, Banditen, SS-Mordkommandos und Partisanen. Dann wollten die Einheimischen der Versklavung durch die Sowjetunion entrinnen: „Doch sie wussten, wie Stalin widerspenstige Völker behandelte.“ Sie sollten Recht behalten.
Komplexes Gedenken statt selektiv erinnern
In rascher Folge besetzten sowjetische Truppen immer mehr osteuropäische Länder. „Der D-Day hat mehr dazu beigetragen, Westeuropa vor den Sowjets zu schützen, als Europa vor dem Faschismus zu retten“, so Chernyshova. „Es ist fast sicher, dass der Nationalsozialismus auch ohne die Operation Overlord besiegt worden wäre - aber die Karte des Nachkriegseuropas hätte vielleicht ganz anders ausgesehen.“
Der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mache es schwer, die Rolle und die Opfer der Sowjetunion beim Sieg über die Nazis öffentlich anzuerkennen. Statt selektiv zu gedenken plädiert sie dafür, daran zu erinnern, dass die Ukrainer nach den Russen die größte Gruppe in der multiethnischen Roten Armee stellten. Außerdem sei kein Zentimeter der Ukraine und Weißrusslands – anders als im russischen Territorium - von der dreijährigen mörderischen Nazi-Herrschaft verschont geblieben.
„Die Ukraine befand sich damals im Auge des Sturms - und ist es heute auch“, betont Chernyshova. „Der Zweite Weltkrieg hatte viel mit der Ukraine zu tun und sie war sehr wichtig für Hitlers Expansionspläne nach Osten. Putins Propaganda verzerrt und manipuliert die kollektive Erinnerung daran, um zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist.“ Aber der Westen müsse all jener gedenken, die im Kampf gegen die Nazis Opfer gebracht hätten - und jetzt Hilfe brauchen.
Bei den D-Day-Feiern sei es zu Recht der Landung der Alliierten gedacht worden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war nur als Vertreter eines Landes dabei, das sich heute gegen einen brutalen Aggressor wehrt. „Das war bedauerlich“, sagt Chernyshova. Die Botschaft der Solidarität mit der Ukraine hätte bei der Gelegenheit noch stärker geklungen, wenn er als Präsident einer Nation begrüßt worden wäre, die im Zweiten Weltkrieg sehr gelitten und zum gemeinsamen Sieg über Nazi-Deutschland beigetragen hat.