Geburtskliniken stützen oder schließen? – Warum wir über die Zukunft der Geburtshilfe diskutieren
Seit 1990 hat sich die Zahl der Geburtskliniken fast halbiert. Wie kann es weitergehen? Drei Fragen und Antworten.
Geburtskliniken stehen vor großen Problemen. Sollen die Kliniken mehr Geld bekommen oder braucht es eine stärkere Zentralisierung? Die wichtigsten Fragen zur aktuellen Diskussion.
Warum stehen gerade die Geburtskliniken im Fokus der Politik?
Geburtskliniken und auch Kinderkliniken haben massive finanzielle Probleme. In den vergangenen 30 Jahren mussten viele Abteilungen schließen, obwohl die Zahl der Behandlungen und Geburten stieg. Ein zentrales Problem ist das derzeitige Vergütungssystem. Kliniken bekommen für Behandlungen sogenannte Fallpauschalen gezahlt, also einen bestimmten Geldbetrag. Natürliche Geburten werden vergleichsweise schlecht bezahlt. Wenn in einer Klinik tagelang kein einziges Kind zur Welt kommt, fehlen Einnahmen. Das Personal muss aber trotzdem vor Ort sein, schließlich lassen sich natürliche Geburten nicht planen. Das stellt vor allem kleine Geburtsstationen vor große Probleme. Müssen Geburtskliniken schließen, kann die Versorgung der Schwangeren gefährdet sein, weil sich Fahrtzeiten vor allem auf dem Land verlängern. Für dieses Problem müssen Lösungen gefunden werden.
Gleichzeitig setzt das derzeitige Vergütungssystem falsche Anreize. So ist zum Beispiel die Versorgung von Frühgeborenen trotz des großen Aufwands für Kliniken lukrativ. Das sei vermutlich der Grund, warum Deutschland eine deutlich höhere Dichte an Perinatalzentren Level I – das sind Kliniken der höchsten Versorgungsstufe – habe als andere europäische Länder, stellte Klaus-Peter Zimmer, früherer Leiter der Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie am Universitätsklinikum Gießen, schon 2012 fest.
Eine großangelegte Studie zeigte aber, dass sehr kleine Frühchen mit einem Geburtsgewicht bis 1250 Gramm besser versorgt wären, wenn es hierzulande nur ein Viertel der Perinatalzentren Level I gäbe. Der Grund: Je mehr Übung ein Krankenhaus bei der Behandlung einer bestimmten Krankheit hat, desto besser wird das Ergebnis. „Medizin ist heute so komplex, da brauchen Sie Spezialisten“, sagt Urban Wiesing, Professor am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen. „Wer einen Eingriff häufig vornimmt, macht ihn besser.“ Wenn aber viele Kliniken um die gleichen kleinen Patienten buhlen, bleibt für jedes einzelne nur eine begrenzte Anzahl von Behandlungen – die Übung fehlt.
Die Geburtshilfe steht also vor zwei Problemen. Auf der einen Seite will man eine wohnortnahe Versorgung sicherstellen. Andererseits soll die Qualität durch Zentralisierung gesteigert werden.
Welche Lösungen schlagen Expertïnnen vor?
In der Medizin wird schon länger mit Mindestmengen gearbeitet. Kliniken dürfen bestimmte Behandlungen nur anbieten, wenn sie pro Jahr eine Mindestanzahl an Patientïnnen versorgen. So soll die Qualität sichergestellt werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das höchste Entscheidungsgremium im Gesundheitssystem, hat die Mindestmenge für die Versorgung von sehr kleinen Frühgeborenen Ende 2020 von 14 auf 25 Kinder pro Jahr und Klinik erhöht, was zu einer Konzentration der Frühgeborenenversorgung auf weniger Kliniken führt.
Bei den Geburtskliniken wird die Zahl von 500 Geburten pro Jahr als kritische Schwelle für eine gute Versorgung und einen wirtschaftlichen Betrieb gesehen. Das Bundesgesundheitsministerium hat ausrechnen lassen, wie sich die Anfahrtszeiten durch eine Zentralisierung verändern würden. Zum Zeitpunkt der Analyse 2018 konnten 88 Prozent aller Frauen im gebärfähigen Alter in höchstens 30 Autofahrminuten eine Klinik mit Geburtshilfe erreichen, fielen alle Kliniken mit weniger als 500 Geburten im Jahr weg, wären es nur noch 83 Prozent. Der Anteil der Frauen, die 40 Minuten Fahrtzeit und mehr einplanen müssten, würde sich verdoppeln – von drei auf sechs Prozent. 40 Minuten – das ist die Schwelle, ab der die Versorgung mit Geburtshilfe laut G-BA als „gefährdet“ gilt.
Das zeigt: Es wird auch weiterhin die kleine Klinik auf dem Land gebraucht. Die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung empfiehlt, geburtshilfliche Abteilungen kurzfristig finanziell zu unterstützen. Dafür sollen die Kliniken eine Vorhaltepauschale bekommen – also Geld, das nicht an eine Behandlung geknüpft ist. Damit werden vor allem kleinere Kliniken mit wenigen Geburten gestützt. Langfristig aber plädieren die Expertïnnen dafür, größeren Zentren zu bilden, in denen Geburtshilfe und pädiatrische Abteilungen unter einem Dach zusammenarbeiten.
Worüber müssen wir diskutieren?
Expertïnnen beklagen schon lange, dass Deutschland zu viele Krankenhäuser hat. Doch wo immer Kliniken schließen, gehen Bürgerïnnen auf die Straße, weil sie um die Versorgung fürchten. Das gilt vor allem für den ländlichen Raum. Denn bisher hapert es an Konzepten, um die Versorgung dort sicherzustellen. Es werden verschiedene Lösungen diskutiert. Zum Beispiel könnten ärztliche Versorgungszentren errichtet werden, in denen Fachärztïnnen unter einem Dach zusammenarbeiten. Mit gut ausgestatteten Rettungswagen oder einem Hubschrauber könnten die Menschen schnell in die nächste Klinik oder ein Spezialzentrum gebracht werden. Ruth Hecker, Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit betont, wie wichtig es sei, das praktische Drumherum mitzudenken. Beispiel Geburtshilfe: Wie kommen die Frauen zur spezialisierten Klinik? Stellen Rettungsdienste Fahrmöglichkeiten zur Verfügung oder gibt es andere Kooperationen? Können Eltern in der Nähe der spezialisierten Klinik wohnen, falls ihr Kind dort länger betreut werden muss? Aber auch sie sagt: Nicht alle Krankenhäuser in Deutschland sollten erhalten bleiben. „Wir haben in einigen Bereichen eine Überversorgung.“ Es reicht also nicht, für den Erhalt der Klinik vor der eigenen Haustür zu demonstrieren. Es ist Zeit, über die Alternativen zu diskutieren.
Lesetipp: Was es für die Menschen bedeutet, wenn die Geburtsklinik in der Nähe schließt, erklärt ein Frauenarzt auf Fehmarn in diesem ausführlichen Artikel zum Thema. Die Dokumentation „Wie viel Geld bringt ein Frühchen“ beleuchtet, wie die Fallpauschalen medizinische Entscheidungen beeinflussen können. Silke Jäger stellt den Film in diesem Artikel vor. Die Fallpauschalen haben auch Auswirkungen auf die Personalausstattung in Kliniken, wie die Pflegewissenschaftlerin Renate Stemmer hier aufzeigt.