Nach Beschwerden über Unregelmäßigkeiten: Anthropozän-Vorstoß endgültig gescheitert
Bei einer neuerlichen Abstimmung stellen sich die gesamte Führung der Internationalen Kommission für Stratigraphie und die Weltvereinigung der Geowissenschaften hinter das Nein zu einer nach dem Einfluss des Menschen benannten Erdepoche
Der Vorstoß, ein nach dem Einfluss des Menschen auf die Erde benanntes Erdzeitalter – das Anthropozän – auszurufen, ist nach Informationen von RiffReporter endgültig gescheitert. Bei einer neuerlichen Abstimmung stellte sich fast die gesamte Internationale Kommission für Stratigraphie (ICS) hinter das negative Votum eines Gremiums von Expertinnen und Experten. Die ICS ist für die Einteilung der Erdgeschichte in Zeitabschnitte zuständig.
Die Expertengruppe zur geologischen Bewertung der vergangenen 2, 6 Millionen Jahre, die sogenannte Unterkommission für Quartärstratigraphie (SQS), hatte Anfang März für weltweite Schlagzeilen gesorgt, als eine Mehrheit ihrer Mitglieder die für den Sommer geplante Ausrufung des Anthropozäns blockierte. Daraufhin gab es Forderungen, die Abstimmung wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten zu wiederholen. Nun haben aber sowohl der Vorsitzende der gesamten ICS und sein Stellvertreter, als auch die Vorsitzenden der Kommissionen für weitere Perioden und Epochen, zum Beispiel des Kambriums, des Devons und der Kreidezeit, dafür gestimmt, den Anthropozän-Vorschlag abzulehnen. Die Abstimmung unter den Führungskräften der ICS fiel mit 17 Ja-Stimmen bei einer Enthaltung deutlich aus, wie aus einem Abstimmungsprotokoll hervorgeht. Damit lehnt die gesamte für die Erdgeschichte und die offizielle geologische Zeitskala zuständige Kommission das Anthropozän ab. Zwei Stimmberechtigte nahmen wegen Interessenkonflikten nicht an der Abstimmung teil. Dies geht aus der offiziellen Mitteilung der ICS-Spitze an die führenden Mitglieder der Organisation hervor, die RiffReporter vorliegt.
Insider hatten nach der Abstimmung Anfang März schwere Vorwürfe erhoben. Von groben Regelverletzungen war die Rede. Der Ethikausschuss der Internationalen Union für Geowissenschaften (IUGS) wurde angerufen – mit dem Ziel, die vielbeachtete Abstimmung zu annullieren und dem Anthropozän-Vorschlag eine zweite Chance zu geben. An der Spitze der Beschwerdeführer stand ausgerechnet mit dem Geologen Jan Zalasiewicz der Vorsitzende der SQS. Das Quartär umfasst Pleistozän und Holozän. „Ich habe nicht an der Abstimmung teilgenommen, da ich der Meinung war, dass sie völlig verfrüht war und nicht hätte stattfinden dürfen, und ich ihr keine Legitimität verleihen wollte – was ich auf dem Stimmzettel vermerkt habe“, erklärte Zalasiewicz.
Vorwurf von Regelbrüchen
Die Abstimmung sei an ihm vorbei angesetzt worden, obwohl dies seine Aufgabe als Vorsitzender sei. Zudem hätten Wissenschaftler mit Ja abgestimmt, die dazu gar nicht befugt gewesen seien, sagt Zalasiewicz. Zahlreiche Teilnehmer der Abstimmung seien bereits länger als zwölf Jahre Mitglieder der Kommission, doch gemäß der Statuten erlösche das Wahlrecht nach dreimal vier Jahren Amtszeit. „Diese Regeln wurden gebrochen, was ein weiterer Grund dafür ist, dass die Abstimmung für ungültig erklärt werden sollte“, betonte Zalasiewicz.
Zuvor hatte bereits Colin Waters als AWG-Vorsitzender massive Kritik geübt. Er sagte, die Gruppe stehe voll und ganz hinter ihrem Vorschlag. Es sei zweifelsfrei belegt, dass sich die Erde außerhalb der relativen stabilen Umweltbedingungen des Holozäns befinde, das am Ende der letzten Eiszeit vor etwa 11.700 Jahren beginnt. „Die Veränderungen des Erdsystems, die das Anthropozän kennzeichnen, sind insgesamt unumkehrbar, was bedeutet, dass eine Rückkehr zu den stabilen Bedingungen des Holozäns nicht mehr möglich ist“, erklärte Waters.
Zalasiewicz kritisierte auf Anfrage auch die neuerliche Abstimmung in der ICS. Er als Vorsitzender der SQS und sein Stellvertreter Martin Head seien von den Diskussionen ausgeschlossen worden und hätten auf Fragen dazu keine Antwort erhalten. Ohne Angabe von Gründen seien zwei andere Mitglieder der vierköpfigen Führung der SQS an ihnen vorbei zu amtierenden Vorsitzenden ernannt worden. „Die ganze Situation ist bizarr“, sagte Zalasiewicz. Demnach sind die Fürsprecher des Anthropozäns von der ICS-Führung aktiv entmachtet worden.
Offenbar will die Anthropocene Working Group, die den Vorschlag über 15 Jahre hinweg erarbeitet hatte, als Reaktion auf die neuerliche Abstimmung ihre Arbeit in der ICS beenden. Ihr Vorsitzender Waters kündigte intern an, dass er den letzten Newsletter der Gruppe verschickt habe. Waters hatte zuvor angekündigt, die Gruppe werde ihre Arbeit fortführen. Dies würde aber wenn, dann außerhalb der ICS passieren. Offenbar herrscht wegen der geschlossenen Ablehnung des Anthropozäns die Ansicht vor, dass auch ein überarbeiteter Vorschlag keine Chance hätte. Ein Teil des offiziellen Vorschlags der Gruppe wurde inzwischen auf einem Preprint-Server öffentlich gemacht. Aus dem Dokument geht die Beweisführung der AWG hervor, die zahlreiche langfristig messbare Veränderungen im Erdsystem anführt und einen See in Kanada als Referenzort dafür nennt.
„Wir verändern die Erde für immer“
Die Kritiker des Anthropozän-Vorschlags hatten vorgebracht, dass die menschlichen Einflüsse auf die Erde noch nicht stark genug seien, eine neue Erdepoche auszurufen und der menschliche Einfluss sich über einen viel längeren Zeitraum erstrecke. Die AWG hatte vorgeschlagen, das Anthropozän mit dem Jahr 1952 beginnen zu lassen, weil ab dann der menschliche Einfluss eine globale und langfristige messbare neue geologische Oberfläche der Erde erzeugt habe.
In einem Meinungsbeitrag in „The Conversation“ hatten Zalasiewicz und drei Kollegen die Kritik zurückgewiesen. „Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der jüngsten Veränderungen sind atemberaubend“, schrieben sie. Die starken Anstiege von Bevölkerung, Konsum, Industrialisierung, technischer Innovation und Globalisierung sowie Artensterben, die Verbreitung von Flugasche, Beton, Kunststoffen und vielem mehr zeigten, dass das Anthropozän real und evidenzbasiert sei und einen Wandel mindestens auf Epochenbasis darstelle. „Die Auswirkungen werden viele Tausende von Jahren andauern – und einige werden die Erde für immer verändern“, schrieb Zalasiewicz. Doch dieser Argumentation schlossen sich die Führungsgremien der ICS explizit nicht an. Mit dem neuerlichen Nein sei „der Vorschlag der AWG definitiv gesunken und die Einwände von Jan Zalasiewicz sind vom Tisch“, betonte der Geologe Thomas Litt von der Universität Bonn, der der SQS angehört.
Inzwischen hat sich auch die globale Dachorganisation der Geowissenschaften, die International Union of Geosciences (IUGS), der Ablehnung des Anthropozäns angeschlossen. Ihre Führungsspitze erklärte am 21. März in einer Mitteilung, dass das Anthropozän „nicht als offizieller geologischer Begriff anerkannt wird.“ Zwar wird die wissenschaftliche Arbeit der Anthropocene Workuing Group gewürdigt, doch zugleich enthält die Stellungnahme mehrere Kritikpunkte, vor allem, dass die Erarbeitung eines Vorschlags über 15 Jahre hinweg zu lange gedauert habe und dass zu viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Disziplinen abseits der Geologie beteiligt worden seien. Die IUGS weist Vorwürfe, dass Regeln verletzt worden seien, zurück. Sie hebt drei Kritikpunkte am Anthropozän-Vorschlag hervor: Dass menschliche Einflüsse auf die Erde schon weit vor 1952 begonnen hätten, eine Epoche nicht wegen Veränderungen innerhalb einer Menschengeneration ausgerufen werden könne und zudem die vorgeschlagenen Marker nicht weltweit gleichförmig aufträten. Die IUGS erwartet, dass der Begriff Anthropozän „auch in Zukunft nicht nur von Erd- und Umweltwissenschaftlern, sondern auch von Sozialwissenschaftlern, Politikern und Wirtschaftswissenschaftlern sowie von der breiten Öffentlichkeit verwendet wird“. Als solcher werde er eine „wertvolle Beschreibung für die Interaktion zwischen Mensch und Umwelt bleiben“.
Debatte dürfte weitergehen
Der Vorschlag, eine neue Erdepoche auszurufen, hat eine lange Vorgeschichte, die mit bekannten Namen wie Alexander von Humboldt, Ernst Haeckel, Wladimir Wernadski, Wally Broecker und Hubert Markl verbunden ist. Es war dann im Jahr 2000 der Mainzer Atmosphärenforscher und Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen, der auf einer wissenschaftlichen Tagung in Mexiko den eigentlichen Anstoß gab und anschließend mit dem US-Limnologen Eugen Stoermer in einer ersten Veröffentlichung begründete. In einem vielbeachteten Artikel in „Nature“ schrieb Crutzen 2020, die Menschheit werde „auf viele Jahrtausende eine wichtige Umweltkraft bleiben“.
Auf Initiative von Zalasiewicz begann anschließend im Auftrag der ICS die wissenschaftliche Untersuchung der Hypothese. In deren Verlauf hat die Anthropozän-Arbeitsgruppe eine riesige Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen vorgelegt, die einen allgegenwärtigen und langfristigen menschlichen Einfluss auf die Erde dokumentieren – von Millionen Kilometern Tunnel und Straßen über Ablagerungen von Rußpartikeln und neuartigen Chemikalien bis hin zu „Technofossilien“, die aus unserer Zeit erhalten bleiben werden. Es dauerte nicht lange, bis der Begriff Anthropozän auch jenseits der Naturwissenschaft eine steile Karriere machte. Zahlreiche Kulturveranstaltungen, Ausstellungen und Bücher widmeten sich der Frage, was es bedeutet, wenn die Menschheit einen derart entscheidenden Einfluss auf die Erdgeschichte hat. Trotz des negativen Votums der Stratigraphen dürfte die Debatte um das Anthropozän schon deshalb weitergehen – zudem nimmt der menschliche Einfluss auf die Erde ständig zu.
(aktualisiert am 21. März 2024)