Geologie: Unterlegene Forscher fechten Entscheidung gegen Anthropozän an
Mit großer Mehrheit hat ein Gremium, das über die Einteilung der Erdgeschichte wacht, gegen eine neue, nach dem Menschen benannte Erdepoche gestimmt. Doch die Befürworter des Anthropozäns wollen das Votum annullieren lassen – sie sprechen von eklatanten Regelbrüchen
Ein epochales Ereignis nach fünfzehn Jahren harter wissenschaftlicher Arbeit – so hatten sich die Mitglieder der Anthropocene Working Group (AWG) den nächsten Weltkongress der Geologie Ende August im südkoreanischen Busan vorgestellt. Dort sollte vor Tausenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine neue Zeitrechnung offiziell vorgestellt werden: Das aktuelle Holozän, das die 11.700 Jahre währende Warmperiode seit der letzten Eiszeit umfasst, wird zum Jahr 1952 beendet. Ab dann beginnt eine neue Erdepoche, das Anthropozän, in dem Homo sapiens die Erde so tiefgreifend verändert, dass dies für Hunderttausende Jahre spür- und messbar sein wird.
Seit 2009 hatten die Mitglieder der AWG Belege für eine solche „Menschenzeit“ gesammelt und deren messbare Spuren analysiert – vom Fallout der Atombombentests über Klimawandel und Artenschwund bis zu allgegenwärtigen Materialien wie Beton und Plastik. 2016 hat die Gruppe mit klarer Mehrheit befürwortet, das Anthropozän auszurufen, 2023 den Crawford Lake in Kanada, auf dessen Grund ein natürliches Archiv menschengemachter Substanzen entstanden ist, zu seinem Referenzort bestimmt.
Präsident der weltweiten Geologenvereinigung stellt sich hinter Ablehnung
Doch aus der geplanten Epochen-Verkündung wird bis auf Weiteres nichts. Denn die Aufgabe der 33-köpfigen Anthropozän-Arbeitsgruppe bestand nur darin, Beweise zu sammeln und eine Empfehlung zu geben. Damit eine neue Erdepoche festgesetzt wird, die wissenschaftlich weltweit verbindlich ist, müssten drei weitere Gremien einem Vorschlag zustimmen, die als „Hüter der Zeit“ die Einteilung der Erdgeschichte in Unterkapitel und Kapitel kontrollieren. Als Letztes entscheidet die International Union of Geological Sciences (IUGS), also die Weltorganisation der Geologie.
Am Dienstag berichtete die „New York Times“ darüber, schon das erste übergeordnete Gremium habe mit einer deutlichen Mehrheit von zwölf Nein-Stimmen bei vier Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen gegen den Vorschlag gestimmt. Nötig wäre eine Mehrheit von 60 Prozent gewesen. Grund für die Ablehnung sei gewesen, dass die menschengemachten Veränderungen noch nicht die Dimension einer Erdepoche erreicht und zudem bereits deutlich früher als 1952 begonnen hätten. Erdepochen stehen für große Einschnitte in der Erdgeschichte, etwa das Pleistozän für die Eiszeit, die vor etwa 2, 6 Millionen Jahren begann und vor 11.700 Jahren endete.
Die Meldung ging als große Überraschung um die Welt. Der Vorsitzende der AWG, der Geologe Colin Waters von der Universität Leicester in Großbritannien, zeigte sich entsetzt. Dagegen stellte sich der Präsident der IUGS, John Ludden, auf Anfrage hinter die ablehnende Entscheidung. Die Spitze des Weltverbands sei im Februar 2024 zu der Überzeugung gelangt, „dass trotz heftiger Diskussionen auf beiden Seiten genügend Informationen vorlagen, um eine Entscheidung zu treffen.“ Diese sei von hochkompetenten, gewählten Wissenschaftlern mit einem klaren Ergebnis getroffen worden. „Die Entscheidung ist endgültig“, betonte Philip Gibbard, Geologe an der Universität Cambridge, der dem Entscheidungsgremium angehört, gegenüber Science, und fügte hinzu: „Es gibt keine offenen Fragen mehr zu klären, der Fall ist abgeschlossen.“
Führender Anthropozänforscher hält Abstimmung für illegitim
Doch Insider haben nach der Abstimmung schwere Vorwürfe erhoben. Von groben Regelverletzungen ist die Rede. Der Ethikausschuss der IUGS wurde angerufen – mit dem Ziel, die vielbeachtete Abstimmung zu annullieren und dem Anthropozän-Vorschlag eine zweite Chance zu geben. In der Geologie und ihrer mit der Zeitrechnung der Erde betrauten International Commission for Stratigraphy (ICS) ist ein Kampf ausgebrochen, wie man ihn sonst nur aus der Politik kennt. Das komplex verschachtelte Hierarchiegebäude der Erdwissenschaftler wird von einem Beben erschüttert.
An der Spitze der Beschwerdeführer steht mit dem Geologen Jan Zalasiewicz ausgerechnet der Vorsitzende des Gremiums, das mit Nein gestimmt hat, der sogenannten Unterkommission für Quartärstudien. Das Quartär umfasst Pleistozän und Holozän. „Ich habe nicht an der Abstimmung teilgenommen, da ich der Meinung war, dass sie völlig verfrüht war und nicht hätte stattfinden dürfen, und ich ihr keine Legitimität verleihen wollte – was ich auf dem Stimmzettel vermerkt habe“, erklärte Zalasiewicz auf Anfrage. Die Abstimmung sei an ihm vorbei angesetzt worden, obwohl dies seine Aufgabe als Vorsitzender sei.
Zudem hätten Wissenschaftler mit Ja abgestimmt, die dazu gar nicht befugt gewesen seien, sagt Zalasiewicz. Zahlreiche Teilnehmer der Abstimmung seien bereits länger als zwölf Jahre Mitglieder der Kommission, doch gemäß der Statuten erlösche das Wahlrecht nach dreimal vier Jahren Amtszeit. „Diese Regeln wurden gebrochen, was ein weiterer Grund dafür ist, dass die Abstimmung für ungültig erklärt werden sollte“, betonte Zalasiewicz.
Zuvor hatte bereits Colin Waters als AWG-Vorsitzender massive Kritik geübt. Er sagte, die Gruppe stehe ungeachtet des „angeblichen Abstimmungsergebnisses“ voll und ganz hinter ihrem Vorschlag. Es sei zweifelsfrei belegt, dass sich die Erde außerhalb der relativen stabilen Umweltbedingungen des Holozäns befinde, das am Ende der letzten Eiszeit vor etwa 11.700 Jahren beginnt. „Die Veränderungen des Erdsystems, die das Anthropozän kennzeichnen, sind insgesamt unumkehrbar, was bedeutet, dass eine Rückkehr zu den stabilen Bedingungen des Holozäns nicht mehr möglich ist“, erklärte Waters. Es gebe zudem mehr als hundert langlebige Spuren menschlichen Handelns in den Sedimenten, „darunter anthropogene Radionuklide, Mikroplastik, Flugasche und Pestizidrückstände“. Die meisten nähmen in der Mitte des 20. Jahrhunderts stark zu.
Zuständige Arbeitsgruppe will weitermachen
Waters kündigte an, die „vielen herausragenden Forscher“ in der AWG wollten in jedem Fall „als Gruppe weitermachen, wenn nötig in informeller Funktion“. Man werde „weiterhin dafür plädieren, dass die Beweise für das Anthropozän als Epoche formalisiert werden sollten, da sie mit den wissenschaftlichen Daten in unserer Vorlage übereinstimmen.“ IUGS-Präsident Ludden wies den Vorwurf von Unregelmäßigkeiten zurück. Die Dauer der Zugehörigkeit zu einer Fachkommission sei nie als Grund dafür angeführt worden, nicht über diesen Vorschlag abzustimmen. Solche Bedenken erst nachträglich geltend zu machen, sei ein „bisschen scheinheilig“. Er betonte zudem, trotz der Entscheidung gegen das Anthropozän sei der Weltverband der Geowissenschaften sehr über den menschlichen Einfluss auf die Erde besorgt.
Mit der Kontroverse um das Prozedere der Abstimmung rücken die wissenschaftlichen Sachfragen rund um das Anthropozän vorerst in den Hintergrund. Der Vorschlag, eine neue Erdepoche auszurufen, hat eine lange Vorgeschichte, die mit bekannten Namen wie Alexander von Humboldt, Ernst Haeckel, Wladimir Wernadski, Wally Broecker und Hubert Markl verbunden ist. Es war dann im Jahr 2000 der Mainzer Atmosphärenforscher und Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen, der auf einer wissenschaftlichen Tagung in Mexiko den eigentlichen Anstoß gab und anschließend mit dem US-Limnologen Eugen Stoermer in einer ersten Veröffentlichung begründete.
Auf Initiative von Jan Zalasiewicz begann anschließend im Auftrag der IUGS die wissenschaftliche Untersuchung der Hypothese. In deren Verlauf hat die Anthropozän-Arbeitsgruppe eine riesige Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen vorgelegt, die einen allgegenwärtigen und langfristigen menschlichen Einfluss auf die Erde dokumentieren – von Millionen Kilometern Tunnel und Straßen über Ablagerungen von Rußpartikeln und neuartigen Chemikalien bis hin zu „Technofossilien“, die aus unserer Zeit erhalten bleiben werden.
Ein neuer Anlauf ist möglich
Es dauerte nicht lange, bis der Begriff Anthropozän auch jenseits der Naturwissenschaft eine steile Karriere machte. Zahlreiche Kulturveranstaltungen, Ausstellungen und Bücher widmeten sich der Frage, was es bedeutet, wenn die Menschheit einen derart entscheidenden Einfluss auf die Erdgeschichte hat.
Doch es gab schon früh Kritiker. Sie störten sich an zwei Hauptpunkten des Vorschlags: die aktuellen Veränderungen in den vergleichsweise hohen Rang einer Erdepoche zu erheben und die Mitte des 20. Jahrhunderts als gewaltigen Einschnitt zu definieren. Die Kritiker wollen statt von einer Epoche nur von einem „geologischen Ereignis“ sprechen, das auch frühere menschliche Aktivitäten einschließt, etwa den massiven Ausstoß von Methan durch den Reisanbau. Der Geologe Thomas Litt von der Universität Bonn, der Mitglied des Quartärgremiums ist, gibt zudem zu bedenken, dass der menschliche Einfluss auf die Erde bereits bei der Abgrenzung des Holozäns vom Pleistozän eine Rolle gespielt habe. Er sieht im Anthropozän-Vorstoß deshalb eine Doppelung.
Die Arbeitsgruppe versuchte, diese Kritik in ihrem finalen Vorschlag zu entkräften. Doch das misslang. In der Schlussphase der Antragstellung sei unnötig Zeitdruck ausgeübt worden, kritisiert der AWG-Vorsitzende Colin Waters. Die Gegner der neuen Erdepoche wollten verhindern, dass es der Vorschlag bis zum Weltkongress der Geologie im südkoreanischen Busan schafft. Ob die AWG nun eine zweite Chance bekommt, wird im nächsten Schritt nicht die wissenschaftliche Beweislage, sondern eine Ethikkommission entscheiden. Die Finten, Kontroversen und Machtkämpfe rund um den Vorstoß dürften dafür sorgen, dass die Frage nach dem Anthropozän offen bleibt. Zu einem späteren Zeitpunkt kann die AWG ihren Vorschlag erneut einbringen – zumal der Einfluss des Menschen auf die Erde weiter zunehmen dürfte.